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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 04.12.1979 - 2 BvR 376/77 - Zum fehlenden Verschulden bei Verzögerungen der Postbeförderungszeit und zur dann gebotenen Wiedereinsetzung
BVerfG v. 04.12.1979: Zum fehlenden Verschulden bei Verzögerungen der Postbeförderungszeit und zur dann gebotenen Wiedereinsetzung
Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 04.12.1979 - 2 BvR 376/77) hat entschieden:
Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um den ersten Zugang zum Gericht oder um den Zugang zu einer weiteren, von der Prozessordnung vorgesehenen Instanz handelt. Dieser Grundsatz lässt sich auch nicht auf Verfahren beschränken, an deren Beginn ein Akt der öffentlichen Gewalt stehe; er muss vielmehr in jedem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren, so auch im Zivilprozess, beachtet werden.
Siehe auch Fristenkontrolle und Wiedereinsetzung
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.
1. Der Beschwerdeführer hatte einer Auszubildenden, die in seinem Rechtsanwaltsbüro den Beruf einer Rechtsanwaltsgehilfin erlernte, fristlos gekündigt. In dem daraufhin von der Auszubildenden angestrengten Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht Hagen unterlag der Beschwerdeführer. Er legte gegen das erstinstanzliche Urteil rechtzeitig Berufung bei dem Landesarbeitsgericht Hamm ein. Auf seinen Antrag wurde die Frist zur Begründung der Berufung bis zum 31. Januar 1977 verlängert. Nach dem Eingangsvermerk des Landesarbeitsgerichts ging die Berufungsbegründung des Beschwerdeführers dort erst am Dienstag, dem 1. Februar 1977, ein. Auf dem zu den Akten genommenen Briefumschlag befand sich ein von dem Freistempler des Beschwerdeführers herrührender Stempelaufdruck mit dem Datum "30. 1. 77", sowie ein Stempel der Bundespost mit dem Aufdruck "Hagen 1, 31. 1. 77 - 2". Durch Beschluss vom 4. Februar 1977 verwarf das Landesarbeitsgericht die Berufung des Beschwerdeführers als unzulässig, weil sie nicht fristgemäß begründet worden sei.
2. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin form- und fristgerecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Zur Begründung trug er vor, er habe den Brief mit der Berufungsbegründungsschrift am 30. Januar 1977 vor 22.00 Uhr in den Briefkasten vor dem Hauptpostamt in Hagen eingeworfen. Nach einer über diesem Briefkasten angebrachten Tafel der Bundespost würden Briefe, die bis 2.00 Uhr nachts eingeworfen werden, noch am selben Tage in Hamm an den Empfänger ausgeliefert. Bei ordnungsgemäßer Beförderung hätte der Brief deshalb am Montag, dem 31. Januar 1977, bei dem Landesarbeitsgericht eingehen müssen.
Durch Beschluss vom 11. März 1977 wies das Landesarbeitsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Das Gericht ging bei seiner Entscheidung davon aus, dass der Beschwerdeführer den Brief mit der Berufungsbegründung am 30. Januar 1977 in den Briefkasten am Hauptpostamt in Hagen eingeworfen habe und aus der über dem Briefkasten angebrachten Tafel zu entnehmen gewesen sei, dass der Brief bei einem Einwurf um diese Zeit am nächsten Tag bei dem Empfänger eingehen werde. Der verspätete Eingang der Berufungsbegründungsschrift beruhe dennoch nicht auf einem unabwendbaren Zufall im Sinne des § 233 Abs. 1 ZPO a.F. Einen Rechtsanwalt, der eine Frist bis zum äußersten Zeitpunkt ausnutze, treffe eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Der Beschwerdeführer habe nicht auf die Einhaltung der amtlichen Postlaufzeit vertrauen dürfen. Er hätte damit rechnen müssen, dass verminderte Dienstleistungen bei Post und Bahn an den Wochenenden zu Verzögerungen führen können. Deshalb hätte er sich am 31. Januar 1977 bei dem Landesarbeitsgericht erkundigen müssen, ob die Berufungsbegründung eingegangen sei. Auf die negative Auskunft hin hätte er noch die Möglichkeit gehabt, vor Fristablauf eine Ausfertigung der Berufungsbegründungsschrift selbst oder durch Boten zum Gericht zu bringen. Wenn der Beschwerdeführer diese Sorgfaltspflichten erfüllt hätte, wäre der verspätete Eingang der Berufungsbegründung verhindert worden.
II.
Mit der gegen diesen Beschluss des Landesarbeitsgerichts gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Art. 3 Abs. 1, 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG. Dabei beruft er sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze zur Wiedereinsetzung bei verspätetem Eingang eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl oder einen Bussgeldbescheid, den der Absender nicht zu vertreten habe, seien auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren bei der Beförderung einer Rechtsmittel- oder Rechtsmittelbegründungsschrift anzuwenden.
III.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Auskunft der Deutschen Bundespost - Postamt Hagen - eingeholt. Danach hätte der Brief mit der Berufungsbegründung bei planmäßiger Beförderung am Morgen des 31. Januar 1977 dem Landesarbeitsgericht zugehen müssen.
2. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, denen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist, haben von einer Äußerung abgesehen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
IV.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen (BVerfGE 45, 360 (362); 46, 404 (406) m.w.Nachw.). Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um den ersten Zugang zum Gericht oder um den Zugang zu einer weiteren, von der Prozessordnung vorgesehenen Instanz handele (BVerfGE 44, 302 (306)). Dieser Grundsatz lasse sich auch nicht auf Verfahren beschränken, an deren Beginn ein Akt der öffentlichen Gewalt stehe; er müsse vielmehr in jedem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren, so auch im Zivilprozess, beachtet werden (BVerfGE 50, 1 (3); BVerfG, EuGRZ 1979, 445; BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 1979 - 2 BvR 342/79 -). In dem hier vorliegenden arbeitsgerichtlichen Verfahren, in dem die Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzuwenden sind, gilt nichts anderes.
Das Landesarbeitsgericht wird diesem Maßstab für die Auslegung des Merkmals "unabwendbarer Zufall" in § 233 Abs. 1 ZPO a.F. nicht gerecht. Sowohl Rechtsmittelfristen als auch Rechtsmittelbegründungsfristen können bis zum letzten Tag ausgenutzt werden. Einem Bürger, der ein Rechtsmittel innerhalb einer bestimmten Frist begründen muss und diese Frist bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzt, darf nicht unter Hinweis auf eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt werden. Die Deutsche Bundespost hat für die Beförderung von Briefen das gesetzliche Monopol. In der Verantwortung des Absenders liegt es nur, das zu befördernde Schriftstück ordnungsgemäß frankiert und adressiert so rechtzeitig zur Post zu geben, dass es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht. Versagen die Vorkehrungen der Deutschen Bundespost, so hat das der Bürger, der darauf keinen Einfluss hat, unter dem Blickpunkt seines Rechts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu vertreten. Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post (z. B. vor Feiertagen), auf einer zeitweise verminderten Dienstleistung der Post (z. B. an den Wochenenden) oder auf der Nachlässigkeit eines Bediensteten beruht, sind unzulässig. Von Verfassungs wegen ist es erforderlich, alle Fälle, in denen sich der Bürger zur Durchsetzung seiner Rechte den Diensten der Deutschen Bundespost anvertraut, gleich zu behandeln (BVerfGE 41, 23 (27); 44, 302 (307)).
Nach der Auskunft des Postamts Hagen hätte der die Berufungsbegründung enthaltende Brief des Beschwerdeführers ungeachtet des vorangegangenen Wochenendes noch am Montag, dem 31. Januar 1977, und somit rechtzeitig bei dem Landesarbeitsgericht eingehen müssen. Bei dieser Sachlage konnte das Gericht nicht darauf abstellen, dass der Beschwerdeführer seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, weil er mit einer Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post habe rechnen müssen, sich deshalb durch einen Anruf bei Gericht Gewissheit über den Briefeingang hätte verschaffen und ansonsten auf andere Weise für den rechtzeitigen Zugang hätte sorgen müssen.
Der angegriffene Beschluss beruht auf dem gerügten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Landesarbeitsgericht dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte, wenn es bei der Auslegung und Anwendung des § 233 Abs. 1 ZPO a.F. den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien hinreichend Rechnung getragen hätte.
Der angegriffene Beschluss war daher aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.