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BGH Beschluss vom 22.06.2010 - VIII ZB 12/10 - Zu den Anforderungen an die Organisation des Fristenwesens im Anwaltsbüro
BGH v. 22.06.2010: Zu den Anforderungen an die Organisation des Fristenwesens im Anwaltsbüro - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Der BGH (Beschluss vom 22.06.2010 - VIII ZB 12/10) hat entschieden:
Zu einer ordnungsgemäßen Organisation des Fristenwesens in einem Anwaltsbüro gehört nicht nur die Anweisung an das zuständige Büropersonal, den für den Beginn der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung eines Urteils anhand der Datumsangabe im unterzeichneten Empfangsbekenntnis oder auf dem Zustellungsumschlag zu ermitteln. Dem Büropersonal muss auch aufgegeben werden, das Datum der Zustellung gesondert und deutlich abgehoben von dem nicht maßgeblichen Aufdruck des Eingangsdatums zu vermerken (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 1990, XII ZB 73/90, VersR 1991, 124 und vom 15. Juli 1998, XII ZB 37/98, NJW-RR 1998, 1442).
Siehe auch Fristenkontrolle und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Gründe:
I.
Der Kläger hat den Beklagten auf Räumung einer Mietwohnung und auf Zahlung von 2.436,26 € nebst Zinsen sowie auf Erstattung außergerichtlicher Anwaltskosten in Anspruch genommen. Das Amtsgericht hat den Beklagten durch Urteil vom 29. September 2009 zur Räumung und zur Zahlung von 2.098,50 € nebst Zinsen sowie zur Erstattung der verlangten Anwaltskosten verurteilt. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten ausweislich der vom Zusteller unterzeichneten Postzustellungsurkunde am 2. Oktober 2009 durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt worden. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten ist rechtzeitig am 2. November 2009, die Berufungsbegründung dagegen verspätet am Freitag, dem 4. Dezember 2009, per Telefax beim Landgericht eingegangen.
Mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2009, bei Gericht eingegangen am selben Tag, hat der Beklagte - nach telefonischem Hinweis des Landgerichts - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Rechtfertigung seines Wiedereinsetzungsgesuchs hat er vorgetragen und durch die eidesstattliche Versicherung seines Prozessbevollmächtigten glaubhaft gemacht, dieser sei in Anbetracht des sich in der Handakte befindlichen Eingangsstempels davon ausgegangen, dass die Zustellung des angefochtenen Urteils (erst) am Montag, den 5. Oktober 2009, und nicht bereits am zurückliegenden Freitag erfolgt sei. Für die Divergenz zwischen dem Eingangsstempel und dem Vermerk auf der Postzustellungsurkunde kämen letztlich nur zwei Ursachen in Betracht, von denen keine seinem Prozessbevollmächtigten als Verschulden anzurechnen sei: Entweder habe der Zusteller auf dem Umschlag das Datum der Zustellung unrichtig notiert oder die mit dem Fristenwesen beauftragte Kanzleiangestellte habe einen falschen Eingangsstempel auf die zugestellte Urteilsausfertigung aufgebracht.
Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Fristversäumung sei auf ein dem Beklagten zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurückzuführen. Anders als bei der Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (§ 174 Abs. 1 ZPO), bei dessen Unterzeichnung der Anwalt abgleichen könne und müsse, ob das Eingangsdatum zutreffend in seinen Handakten vermerkt sei, existiere ein vergleichbarer Arbeitsschritt bei einer Zustellung mittels Postzustellungsurkunde nach §§ 177 ff. ZPO nicht. Da der Anwalt in einem solchen Fall an der amtlichen Dokumentation des Zustellungszeitpunktes nicht mitwirken müsse, habe er durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass kein falsches Zustellungsdatum vermerkt werde. Dies habe dadurch zu geschehen, dass er den Umschlag, in dem sich das zugestellte Schriftstück befunden habe und auf dem der Zeitpunkt der Zustellung vermerkt sei, zu seinen Akten nehme. Da sich der Beklagte zum Verbleib dieses Umschlags nicht geäußert habe, sei davon auszugehen, dass sein Prozessbevollmächtigter es unterlassen habe, Vorsorge gegen den Verlust dieser für die Bestimmung der Frist wertvollen Urkunde zu treffen.
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde. Er macht geltend, als Ursache für die Versäumung der Begründungsfrist komme ausschließlich ein einmaliges Versehen der zuverlässigen Bürokraft seines Prozessbevollmächtigten oder eventuell ein ungenauer Vermerk des Datums auf dem Zustellumschlag in Betracht. Dass die Bürokraft seines Prozessbevollmächtigten die Frist aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen versehentlich falsch notiert habe, gereiche weder ihm noch seinem Prozessbevollmächtigten zum Verschulden. Ein Rechtsanwalt dürfe auf die ordnungsgemäße Fristnotierung vertrauen und brauche nicht zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich im Fristenkalender richtig eingetragen sei. Andernfalls werde die zulässige Einschaltung von Bürokräften bei der Notierung und Überwachung von Fristen weitgehend sinnlos.
II.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Die nach § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig.
Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen, sind nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt nicht den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Beklagten auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Es hat dem Beklagten den Zugang zur Berufungsinstanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert (vgl. dazu BVerfGE 77, 275, 284; BVerfG, NJW 2005, 814, 815; BGHZ 151, 221, 227; Senatsbeschlüsse vom 27. September 2005 - VIII ZB 105/04, NJW 2005, 3775, unter II 1; vom 20. Oktober 2009 - VIII ZB 97/08, MDR 2010, 100, Tz. 8; jeweils m.w.N.).
Das Berufungsgericht hat die Wiedereinsetzung mit Recht abgelehnt, weil nach dem vorgetragenen Sachverhalt die Versäumung der Frist auf einem dem Beklagten zuzurechnenden Verschulden seines Prozessbevollmächtigten beruht (§§ 233, 85 Abs. 2 ZPO).
1. Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht.
a) Dabei ist er zwar nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs befugt, die Feststellung, Berechnung und Notierung einfacher und in seinem Büro geläufiger Fristen einer gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Angestellten zu überlassen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2000 - VII ZB 20/99, NJW 2000, 1872, unter [4] a; Senatsbeschluss vom 5. Februar 2003 - VIII ZB 115/02, NJW 2003, 1815, unter II 3 a m.w.N.). Jedoch hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Insbesondere muss ein Rechtsanwalt sicherstellen, dass das für den Lauf einer Rechtsmittelfrist maßgebliche Datum der Urteilszustellung in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise ermittelt wird (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 16. April 1996 - VI ZR 362/95, NJW 1996, 1968, unter II 1; vom 5. November 2002 - VI ZR 399/01, NJW 2003, 435, unter II 1 a; jeweils m.w.N.). Hierzu bedarf es eines besonderen Vermerks, wann die Zustellung des Urteils erfolgt ist.
aa) Eine verlässliche Grundlage für die Ermittlung des Zustellungsdatums bieten allein die Angaben in der die Zustellung dokumentierenden Urkunde, also in dem vom Anwalt unterzeichneten Empfangsbekenntnis (§ 174 ZPO) oder aber - wie hier - in der Postzustellungsurkunde nebst Umschlag (§§ 180, 182 ZPO). Damit nach Rücksendung eines unterzeichneten Empfangsbekenntnisses nicht jeder tragfähige Anhalt für den Zeitpunkt der Zustellung verloren geht, gehört es zu den Sorgfaltspflichten eines Anwalts, durch besondere Anordnungen dafür Sorge zu tragen, dass sein Personal nach der Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses das dort angegebene Zustellungsdatum in den Handakten oder anderweitig festhält und sich nicht auf die Richtigkeit eines Eingangsstempels verlässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Oktober 1990 - XII ZB 73/90, VersR 1991, 124; vom 15. Juli 1998 - XII ZB 37/98, NJW-RR 1998, 1442, unter II 2 b, c). Entsprechendes gilt, wenn die Zustellung durch Postzustellungsurkunde bewirkt und das Datum der Zustellung auf dem Postumschlag vermerkt worden ist. Da auch hier die Gefahr besteht, dass das abgestempelte Eingangsdatum nicht mit dem Zeitpunkt der Zustellung übereinstimmt, muss durch organisatorische Vorkehrungen sichergestellt sein, dass der Fristenlauf nicht anhand des Eingangsstempels, sondern aufgrund des Zustellervermerks auf dem Umschlag des zugestellten Schriftstücks (vgl. § 180 Satz 3 ZPO) berechnet und notiert wird.
bb) Den für eine ordnungsgemäße Fristermittlung unerlässlichen Vermerk über den Zeitpunkt der Zustellung eines Urteils vermag ein Eingangsstempel des Anwaltsbüros auf dem zugestellten Urteil nicht zu ersetzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. April 1996, aaO; vom 10. Oktober 1991 - VII ZB 4/91, NJW 1992, 574, unter 2 b). Er gibt keine Auskunft über den Zeitpunkt der Zustellung, weil das Datum auf dem im Anwaltsbüro angebrachten Eingangsstempel nicht mit dem Datum übereinzustimmen braucht, unter dem der Anwalt das Empfangsbekenntnis unterzeichnet hat (vgl. Senatsbeschluss vom 29. April 1987 - VIII ZB 5/87, VersR 1987, 1013, unter [2] b; BGH, Beschlüsse vom 13. März 1991 - XII ZB 22/91, VersR 1992, 118, unter II 2, und vom 16. April 1996, aaO; jeweils m.w.N.), oder unter dem auf sonstige Weise die Zustellung des Urteils bewirkt worden ist.
b) Dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten dem nachgekommen ist, hat er weder dargetan noch glaubhaft gemacht. Dabei kann offen bleiben, ob - wie das Berufungsgericht annimmt - ein Rechtsanwalt sein Personal anzuweisen hat, den Umschlag eines mittels Postzustellungsurkunde zugestellten Schriftstücks zu verwahren. Jedenfalls hat er der für das Fristenwesen zuständigen Kanzleikraft eindeutige Anweisungen hinsichtlich der Feststellung, Berechnung und Notierung von Fristen zu erteilen, die so beschaffen sein müssen, dass die Einhaltung einer Frist auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs gewährleistet ist (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 5. Februar 2003, aaO, unter II 3 a, c, m.w.N.). Dazu gehört nicht nur die Anweisung an das zuständige Büropersonal, den für den Beginn der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung eines Urteils anhand der Datumsangabe im unterzeichneten Empfangsbekenntnis oder auf dem Zustellungsumschlag zu ermitteln. Dem Büropersonal muss auch aufgegeben werden, das Datum der Zustellung gesondert und deutlich abgehoben von dem nicht maßgeblichen Aufdruck des Eingangsdatums zu vermerken (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 1998, aaO, unter II 2 c). Dem Vortrag des Beklagten ist nicht zu entnehmen, dass solche Maßnahmen integraler Bestandteil der Organisationsabläufe im Büro seines Prozessbevollmächtigten waren und sind.
aa) Im Berufungsverfahren hat er sich mit dem Vorbringen begnügt, es könne nicht mehr festgestellt werden, warum ein vom Zustellungszeitpunkt abweichendes Eingangsdatum aufgestempelt worden sei. Entweder habe die Kanzleikraft die Eingangspost versehentlich unter dem Datum 5. Oktober 2009 abgestempelt, was diese bestreite, oder die Datumsangabe auf dem Postumschlag sei ungenau oder falsch gewesen. Damit hat der Beklagte bereits nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten die Berechnung der Frist anhand der allein maßgeblichen Angaben in dem die Zustellung dokumentierenden Schriftstück und nicht auf der Grundlage des Eingangsstempels vorzunehmen ist. Er hat auch weder geltend noch glaubhaft gemacht, dass das Büropersonal außerdem angewiesen ist, das Datum der Zustellung gesondert vom Eingangsstempel zu vermerken. Ohnehin hat der Beklagte zur Organisation des Fristenwesens im Büro seines Prozessbevollmächtigten keine konkreten Angaben gemacht. Der Kläger hat fehlenden Vortrag zur Identität der mit dem Fristenwesen betrauten Mitarbeiterin, deren Ausbildungsstand und Zuverlässigkeit, den Inhalt der dieser erteilten Anweisungen sowie die ergriffenen Kontrollmaßnahmen gerügt. Hierauf hat der Beklagte nicht reagiert. Es fehlt damit auch jeder Vortrag zu diesen grundlegenden Voraussetzungen für ein funktionierendes Fristenwesen (vgl. hierzu auch Senatsbeschluss vom 5. Februar 2003, aaO, unter II 3 a). Mit Recht hat das Berufungsgericht daher aufgrund des ihm unterbreiteten Sachverhalts angenommen, dass ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Beklagten an der Fristversäumung nicht ausgeräumt ist.
bb) Ein an der Fristversäumung mitwirkendes Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten des Beklagten ist auch nicht aufgrund des im Rechtsbeschwerdeverfahren ergänzten Vortrags auszuschließen. Dabei kann offen bleiben, ob dieses Vorbringen berücksichtigungsfähig ist. Grundsätzlich müssen alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, innerhalb der Antragsfrist von einem Monat (§ 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 ZPO) vorgetragen werden (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 4. Oktober 2000 - XI ZB 9/00, juris, Tz. 9; vom 10. Januar 2001 - XII ZB 127/00, BGHReport 2001, 483, unter II; vom 4. Juni 2002 - I ZB 28/01, BGHReport 2002, 1114, II 1 b; jeweils m.w.N.). Ein Nachschieben von Gründen ist unzulässig; lediglich erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 Abs. 1 ZPO geboten wäre, dürfen nach Fristablauf erläutert und vervollständigt werden. Selbst wenn die Sachdarstellung des Beklagten in der Beschwerdebegründung nach diesen Maßstäben zu berücksichtigen wäre, wäre dadurch ein Organisationsverschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht ausgeräumt. Denn der Beklagte hat nur ergänzende Angaben zur Identität und zur Zuverlässigkeit der in Fristensachen eingesetzten Kanzleimitarbeiterin, nicht dagegen dazu gemacht, welche Vorkehrungen getroffen worden sind, um sicherzustellen, dass der Lauf einer Rechtsmittelfrist anhand des allein maßgeblichen Zeitpunkts der Urteilszustellung - und nicht aufgrund eines aufgestempelten Eingangsdatums - ermittelt wird.