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BGH Beschluss vom 26.10.2010 - VI ZB 74/08 - Zur Berücksichtigung eines ergänzenden Parteivortrags für die Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstands

BGH v. 26.10.2010: Zur Berücksichtigung eines ergänzenden Parteivortrags für die Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstands für die Berufungsinstanz


Der BGH (Beschluss vom 26.10.2010 - VI ZB 74/08) hat entschieden:
  1. Bei der Bestimmung des Werts des Beschwerdegegenstandes gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht ergänzenden Vortrag der Parteien zu diesem Wert in Erwägung zu ziehen. Hat das Erstgericht die auf Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall gerichtete Klage hinsichtlich eines Feststellungsantrags abgewiesen, kann der Wert des Beschwerdegegenstandes auch durch ausreichend konkret dargelegte Schadenspositionen bestimmt sein, die erstinstanzlich nicht in Ansatz gebracht wurden oder im Raum standen, sofern im Fall einer Verurteilung die Haftung der Beklagten auch für diese Positionen festgestellt würde.

  2. Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht, muss es die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind.

Siehe auch Streitwert und Zivilprozess


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat die Klage wegen der Schadensfolgen eines Verkehrsunfalls abgewiesen und den Streitwert im Urteil auf 800 € festgesetzt, weshalb es nicht wie beantragt die Berufung zugelassen hat. Das Berufungsgericht hat den Wert des Beschwerdegegenstandes auf bis zu 600 € festgesetzt und die Berufung deshalb als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO).

Sie ist auch begründet.

Die Annahme des Berufungsgerichts, der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteige 600 € nicht, ist auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen rechtsfehlerhaft.

Fehlt es - wie im Streitfall - an einer Zulassung der Berufung durch das Erstgericht (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), ist eine Berufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt. Bei der Prüfung, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes über dem für eine Wertberufung erforderlichen Betrag von 600 € liegt, ist das Berufungsgericht nicht an eine Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht gebunden (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2004 - V ZB 6/04, NJW-RR 2005, 219). Für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels eines Klägers ist grundsätzlich von der "formellen Beschwer" auszugehen. Danach ist der Kläger insoweit beschwert, als das angefochtene Urteil von seinen Anträgen abweicht (Senatsurteil vom 9. Oktober 1990 - VI ZR 89/90, VersR 1991, 359, 360; BGH, Urteil vom 21. Juni 1968 - IV ZR 594/68, BGHZ 50, 261, 263; Beschluss vom 19. März 2009 - IX ZB 152/08, NJW -RR 2009, 853 Rn. 6).

Der Kläger hat beim Amtsgericht beantragt festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtlichen aus der Beschädigung seines Fahrzeugs entstandenen und entstehenden Schaden zu ersetzen. In der Folge hat er unter Verweis auf einen Kostenvoranschlag hinsichtlich der Reparaturkosten hilfsweise Leistungsklage in Höhe von 393,48 € erhoben und den Feststellungsantrag auf den weiteren Schaden beschränkt.

Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes nicht höher sein kann, als die durch das angefochtene Urteil hervor gerufene Beschwer, und davon, dass es bei der Wertfestsetzung gemäß § 3 ZPO nicht an eine nicht nachvollziehbare Angabe des Rechtsmittelführers gebunden ist.

Mit Recht rügt die Rechtsbeschwerde aber, dass das Berufungsgericht sich aus Rechtsgründen gehindert sieht, die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgetragenen Schäden bei der Bewertung des Feststellungsantrags zu berücksichtigen. Rechtsfehlerhaft führt das Berufungsgericht aus, Schadenspositionen, die in erster Instanz nicht "im Raum gestanden" hätten bzw. nicht "in Ansatz gebracht" worden seien, mit denen der Kläger nicht einmal gerechnet habe, könnten bei der Wertfestsetzung nicht berücksichtigt werden. Das ist unrichtig. Ein Feststellungsantrag erfasst den gesamten dem Kläger entstandenen Schaden, auch solche Positionen, die aus welchem Grund auch immer, nicht mit der Leistungsklage geltend gemacht und auch nicht zur Begründung des Feststellungsantrags konkretisiert werden. Trägt der Kläger nach Abschluss der ersten Instanz im Berufungsverfahren vor, dass Schäden in weiterem Umfang entstanden seien, als sie in erster Instanz vorgetragen wurden, darf dieser Vortrag bei der Wertfestsetzung durch das Berufungsgericht nach § 3 ZPO nicht deshalb unbeachtet bleiben, weil ein entsprechend konkreter Vortrag zum Schadensumfang in erster Instanz fehlte. Der Wert der Beschwer ist nach dem Umfang des gesamten Schadens zu bemessen, wie er sich dem Berufungsgericht aufgrund des Klägervortrags darstellt.

Der angefochtene Beschluss beruht auf der fehlerhaften Rechtsauffassung des Berufungsgerichts. Er behandelt zwar einzelne der nun behaupteten Schadenspositionen, bei deren Berücksichtigung die Berufungssumme nicht erreicht werde. Die Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss lassen es jedoch nicht als ausgeschlossen erscheinen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung weiterer Positionen, insbesondere der Sachverständigenkosten, die Beschwer mit mehr als 600 € bewertet hätte.

Die Sache ist danach unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Berufungsgericht zurück zu verweisen, welches über die Wertfestsetzung erneut zu befinden haben wird.

Dabei weist der Senat auf Folgendes hin:

Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 € festgesetzt hat, und hält das Berufungsgericht diesen Wert für nicht erreicht, muss das Berufungsgericht die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind (BGH, Urteil vom 14. November 2007 - VIII ZR 340/06, NJW 2008, 218, Rn. 12; Beschlüsse vom 3. Juni 2008 - VIII ZB 101/07, WuM 2008, 614, Rn. 4 f.; vom 16. Juni 2008 - VIII ZB 87/06, WuM 2008, 615, Rn. 13; vom 27. April 2010 - VIII ZB 91/09, WuM 2010, 437, Rn. 3).



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