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BGH Urteil vom 22.01.2008 - VI ZR 17/07 - Zur gemeinsamen Betriebsstätte bei der Tätigkeit eines Bauarbeiters und eines mit der Sicherung der Arbeiten beauftragten Arbeitnehmers eines anderen Unternehmens
BGH v. 22.01.2008: Zur gemeinsamen Betriebsstätte bei der Tätigkeit eines Bauarbeiters und eines mit der Sicherung der Arbeiten beauftragten Arbeitnehmers eines anderen Unternehmens
Der BGH (Urteil vom 22.01.2008 - VI ZR 17/07) hat entschieden:
Ein Bauarbeiter und ein mit der Sicherung der Arbeiten beauftragter Arbeitnehmer eines anderen Unternehmens können auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig sein.
Siehe auch Haftungsbeschränkung bei Wegeunfällen und Arbeitsunfälle auf einer "gemeinsamen Betriebsstätte"
Tatbestand:
Der Kläger verlangt Schadensersatz nach einem Arbeitsunfall vom 28. September 1999, für den die Berufsgenossenschaft zunächst Verletztengeld und dann eine Verletztenrente gezahlt hat.
Zum Unfallzeitpunkt stand der Kläger auf einer Aluminiumleiter, die auf einem Gleiskörper aufgestellt war, um Schalbretter von der Unterseite einer Autobahnbrücke abzumontieren. Gegen 14.05 Uhr passierte ein nicht fahrplanmäßiger so genannter Schwerkleinwagen der Deutschen Bahn AG den Gleiskörper und riss die Leiter um. Der Kläger stürzte sechs bis acht Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer.
Die Beklagte zu 1 war aufgrund eines Ingenieurvertrages mit der Deutschen Bahn AG unter anderem damit beauftragt, die örtliche Bauüberwachung einschließlich der Sicherungsüberwachung - Sichern gegen Gefahren aus dem Eisenbahnbetrieb - für das Bauvorhaben wahrzunehmen. Zur Unfallzeit war der Zeuge S., Mitarbeiter der Beklagten zu 1, von dieser als technischer Berechtigter im Sinne der Betriebs- und Bauanweisung mit der Aufgabe eingesetzt, bei Arbeiten im Gleisbereich die Strecke sperren zu lassen. Entgegen den Vereinbarungen mit den Dienststellen der Beklagten zu 3 veranlasste S. keine Streckensperrung, so dass es zu dem Unfall gekommen ist.
Das Landgericht hat die auf Ersatz eines Verdienstausfallschadens, Erstattung von Besuchs- und Fahrtkosten der nächsten Angehörigen sowie Zahlung eines Schmerzensgelds und Feststellung der Ersatzpflicht für zukünftige materielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage hinsichtlich der Beklagten zu 1 abgewiesen. Der gegen die Beklagte zu 3 gerichteten Klage hat es unter Abweisung im Übrigen wegen der Besuchs- und Fahrtkosten teilweise stattgegeben, sie hinsichtlich des Verdienstausfallschadens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und ihr hinsichtlich des Feststellungsantrags wegen weiterer materieller Schäden stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung der Beklagten zu 3 unter Zurückweisung der Berufung des Klägers gegen die Beklagte zu 1 das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger, die Berufung der Beklagten zu 3 zurückzuweisen. Nachdem er in der Revisionsschrift auch die Beklagte zu 1 als Revisionsbeklagte bezeichnet hatte, hat er in der Revisionsbegründung eine Aufhebung des Berufungsurteils nur beantragt, soweit die Klage gegenüber der Beklagten zu 3 abgewiesen worden ist.
Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger gegen die Beklagte zu 3 kein Anspruch auf Ersatz des vom Landgericht zugesprochenen Schadens zu. Insoweit von der Revision nicht angegriffen hat es Ansprüche nach §§ 823 Abs. 1, 31, 831 Abs. 1 BGB verneint. Die Voraussetzungen des § 1 HPflG a.F. lägen zwar vor, weil der Kläger beim Betrieb einer Schienenbahn wegen eines Fehlverhaltens des Zeugen S. verletzt worden sei. Die Beklagte zu 3 sei gegenüber dem Kläger aber nicht einstandspflichtig, weil zu ihren Gunsten die Grundsätze des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs eingriffen. Der Unfall habe sich nämlich auf einer gemeinsamen Betriebsstätte des Klägers und des Zeugen S. im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ereignet, so dass die Haftungsfreistellung des Zeugen S. gemäß §§ 104, 106 SGB VII gegenüber dem Kläger dazu führe, dass dieser auch die Beklagte zu 3 nicht erfolgreich in Anspruch nehmen könne.
Der Kläger und der Zeuge S. hätten eine betriebliche Tätigkeit für ihren jeweiligen Arbeitgeber im Baustellenbereich verrichtet. Sie hätten sich dabei immer wieder miteinander verständigen müssen. Der Kläger habe seine Tätigkeit nur durchführen dürfen, wenn der Zeuge S. die Arbeiten freigegeben habe. Deshalb habe der Zeuge seine Maßnahmen mit der Bautätigkeit abstimmen müssen. Zudem habe er im Falle des Herannahens von Zügen die in Gleisnähe befindlichen Arbeiter warnen und zum Verlassen der Gleise auffordern müssen. Somit seien einerseits die Sicherungstätigkeit des Zeugen S. von den jeweiligen Bauarbeiten und andererseits die vom Kläger zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Bautätigkeit von der Veranlassung von Sicherungsmaßnahmen durch den Zeugen S. abhängig gewesen.
Der Kläger und der Zeuge hätten sich in einer Gefahrengemeinschaft befunden, weil sie sich aufgrund der engen räumlichen Verknüpfung der beiderseitigen Tätigkeiten gegenseitig hätten schädigen können. Sie seien aufgrund der Verknüpfung ihrer jeweiligen Tätigkeit auch in gleichem Maße einer Gefährdung durch den Bahnbetrieb ausgesetzt gewesen. Nach Auffassung des Senats sei die erforderliche Gefahrengemeinschaft in einer solchen Fallkonstellation schon dann gegeben, wenn beide aufgrund ihrer Tätigkeit in gleicher Weise einer von außen drohenden Gefahr ausgesetzt seien. Dies gelte insbesondere, wenn - wie hier - der eine versicherungspflichtig Beschäftigte speziell mit dem Ziel eingesetzt werde, die Tätigkeit des Anderen zu sichern.
II.
1. Da der Kläger ausweislich seiner Revisionsbegründung eine Aufhebung des Berufungsurteils nur insoweit begehrt, als die Klage gegenüber der Beklagten zu 3 abgewiesen worden ist, hat er seine Revision zurückgenommen, soweit sie zunächst auch gegenüber der Beklagten zu 1 eingelegt worden ist.
2. Hinsichtlich der Beklagten zu 3 halten die Ausführungen des Berufungsgerichts einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Beklagte zu 3 dem Kläger nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldnerverhältnisses hinsichtlich der als Folge ihres Personenschadens geltend gemachten materiellen Ansprüche nicht nach § 1 HPflG a.F. haftet.
Die Revision meint, es liege keine gemeinsame Betriebsstätte des Klägers und des Zeugen S. im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII vor, so dass die vom Berufungsgericht angenommene Grundlage für die Anwendung der Grundsätze des gestörten Gesamtschuldnerverhältnisses gegenüber der Beklagten zu 3 entfalle. Damit hat sie keinen Erfolg.
a) Nach den vom Senat entwickelten Grundsätzen können in den Fällen, in denen zwischen mehreren Schädigern ein Gesamtschuldverhältnis besteht, Ansprüche des Geschädigten gegen einen Gesamtschuldner (Zweitschädiger) auf den Betrag beschränkt sein, der auf diesen im Innenverhältnis zu dem anderen Gesamtschuldner (Erstschädiger) endgültig entfiele, wenn die Schadensverteilung nach § 426 BGB nicht durch eine sozialversicherungsrechtliche Haftungsprivilegierung des Erstschädigers gestört wäre (st. Rspr.: vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; 94, 173, 176; 155, 205, 212 ff.; 157, 9, 14; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - VersR 2007, 948, 949). Die Beschränkung der Haftung des Zweitschädigers beruht dabei auf dem Gedanken, dass einerseits die haftungsrechtliche Privilegierung nicht durch eine Heranziehung im Gesamtschuldnerausgleich unterlaufen werden soll, es aber andererseits bei Mitberücksichtigung des Grundes der Haftungsprivilegierung, nämlich der anderweitigen Absicherung des Geschädigten durch eine gesetzliche Unfallversicherung nicht gerechtfertigt wäre, den Zweitschädiger den Schaden alleine tragen zu lassen. Deshalb hat der Senat den Zweitschädiger in solchen Fällen in Höhe des Verantwortungsteils freigestellt, der auf den Erstschädiger im Innenverhältnis entfiele, wenn man seine Haftungsprivilegierung hinweg denkt, wobei unter "Verantwortungsteil" die Zuständigkeit für die Schadensverhütung und damit der Eigenanteil des betreffenden Schädigers an der Schadensentstehung zu verstehen ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 110, 114, 119; 155, 205, 213; 157, 9, 15; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - aaO).
In Anwendung dieser Grundsätze trägt dann, wenn auf der einen Seite nur eine Gefährdungshaftung oder eine Haftung aus vermutetem Verschulden, auf der anderen Seite jedoch erwiesenes Verschulden vorliegt, im Innenverhältnis grundsätzlich derjenige den ganzen Schaden, der nachweislich schuldhaft gehandelt hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 157, 9, 15 m.w.N.). Mithin hätte im Innenverhältnis zur Beklagten zu 3 der schuldhaft handelnde Zeuge S. - ohne Haftungsprivilegierung - den dem Kläger entstandenen Schaden ganz zu tragen. Daher entfällt eine Haftung der Beklagten zu 3, wenn zwischen dem Kläger und dem Zeugen S. eine gemeinsame Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII bestanden hat. Dies ist entgegen der Auffassung der Revision der Fall.
b) aa) Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats angenommen, dass der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen erfasst, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein (vgl. Senatsurteile BGHZ 145, 331, 336; 157, 213, 216 f.; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - aaO; BAG VersR 2003, 1177, 1178). Die notwendige Arbeitsverknüpfung kann im Einzelfall auch dann bestehen, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich nicht sachlich ergänzen oder unterstützen, die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe aber eine Verständigung über den Arbeitsablauf erfordert und hierzu konkrete Absprachen getroffen werden, etwa wenn ein zeitliches und örtliches Nebeneinander dieser Tätigkeiten nur bei Einhaltung von besonderen beiderseitigen Vorsichtsmaßnahmen möglich ist und die Beteiligten solche vereinbaren (vgl. Senat BGHZ 152, 7, 9; Urteile vom 8. April 2003 - VI ZR 251/02 - VersR 2003, 904, 905; vom 13. März 2007 - VI ZR 178/05 - aaO; OLG Schleswig r+s 2001, 197, 198 mit Nichtannahme-Beschluss des Senats vom 10. Juli 2001 - VI ZR 53/01).
bb) Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht zu Recht das Vorliegen einer gemeinsamen Betriebsstätte des Klägers und des Zeugen S. bejaht. Nach seinen Feststellungen musste sich der Zeuge S. jeweils mit dem Bauleiter und den Bauarbeitern verständigen, bevor diese ihre Tätigkeit aufnehmen konnten. Der Zeuge musste mit dem Bauleiter abstimmen, ob und wann eine Streckensperrung erfolgen sollte. Der Kläger durfte die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit an den Schalbrettern nur ausführen, wenn der Zeuge S. die Arbeiten freigegeben hatte. Demgemäß hat er vor der Aufnahme seiner Arbeit nach seiner eigenen Erklärung kurz mit dem Zeugen S. gesprochen, ob die Strecke frei sei. Wenn eine Streckensperrung nicht möglich war, stand dies den Arbeiten im Gleisbereich entgegen.
Zudem war es nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erforderlich, dass sich der Zeuge S. immer wieder im Bereich der Bauarbeiten aufhielt, um beim Herannahen von Zügen die in Gleisnähe befindlichen Arbeiter zu warnen und zum Verlassen der Gleise aufzufordern. Mithin hing einerseits die Art und Weise der Sicherungstätigkeit des Zeugen S. davon ab, welche Bauarbeiten ausgeführt werden sollten, und andererseits war die Veranlassung von Sicherungsmaßnahmen durch den Zeugen S. Voraussetzung für die durchgeführten Bautätigkeiten im Gleisbereich. Somit erforderten die Arbeiten des Klägers und die Tätigkeit des Zeugen S. sowohl eine Verständigung über den Arbeitsablauf in räumlicher Nähe zueinander als auch ein aufeinander bezogenes und miteinander verknüpftes Handeln, so dass diese Voraussetzungen für eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegen. Die beiden Tätigkeiten konnten nur "Hand in Hand" ausgeführt werden.
Entgegen der Auffassung der Revision lag auch eine so genannte Gefahrengemeinschaft vor, welche die Rechtfertigung für den Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII bildet (vgl. Senatsurteile BGHZ 148, 209, 212; 148, 214, 220; 157, 213, 218). Eine Gefahrengemeinschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass jeder der (in enger Berührung miteinander) Tätigen sowohl zum Schädiger als auch zum Geschädigten werden kann (vgl. Senatsurteile BGHZ 148, 214, 220; 157, 213, 218 f. m.w.N.). Dies setzt nicht voraus, dass im konkreten Fall jeder der auf der Betriebsstätte Tätigen in gleicher Weise verletzt werden könnte. Es reicht die Möglichkeit aus, dass es durch das enge Zusammenwirken wechselseitig zu Verletzungen kommen kann (vgl. Senatsurteile BGHZ 155, 205, 208 f.; vom 23. März 2004 - VI ZR 160/03 - VersR 2004, 1045, 1046). Demgemäß kann eine Gefahrengemeinschaft auch bestehen, wenn eine wechselseitige Gefährdung zwar eher fern liegt, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist (vgl. OLG Frankfurt r+s 2007, 524, 525 mit Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch Beschluss des Senats vom 6. November 2007 - VI ZR 76/07).
Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht zu Recht das Vorliegen einer Gefahrengemeinschaft zwischen dem Kläger und dem Zeugen S. bejaht, weil diese sich aufgrund der engen räumlichen Verknüpfung der beiderseitigen Tätigkeiten gegenseitig schädigen konnten. Nach den Zeugenaussagen musste der Zeuge S. sich immer wieder auf der Baustelle über die Art der Bautätigkeit informieren und mit dem Bauleiter sprechen. Wenn Züge herannahten, musste er die im Gleisbereich oder in Gleisnähe tätigen Bauarbeiter warnen und sicherstellen, dass sie sich rechtzeitig entfernten. Daher war es für ihn notwendig, sich immer wieder in den Bereich der durchgeführten Bauarbeiten zu begeben. Dabei war er Gefahren durch den Zustand der Baustelle und der Bautätigkeit ausgesetzt. Umgekehrt konnte er seinerseits die Bauarbeiter gefährden und schädigen, wenn er ihnen "in die Quere kam" oder nicht die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen traf, wie sich beim Unfall des Klägers gezeigt hat. Auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage, ob eine Gefahrengemeinschaft im Sinne des § 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII schon daraus folgt, dass eine den betrieblich Tätigen gemeinsame von außen drohende Drittgefahr vorliegt, kommt es unter den Umständen des Streitfalls nicht an, weil ohnehin die Voraussetzungen für eine Gefahrengemeinschaft erfüllt sind.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 516 Abs. 3, 565 ZPO.