Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

BGH Urteil vom 06.05.2008 - VI ZR 200/05 - Zur Direktklage eines Geschädigten bei seinem Wohnsitzgericht in einem EU-Mitgliedstaat gegen einen Versicherer mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat

BGH v. 06.05.2008: Zur Direktklage eines Geschädigten bei seinem Wohnsitzgericht in einem EU-Mitgliedstaat gegen einen Versicherer mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat


Der BGH (Urteil vom 06.05.2008 - VI ZR 200/05) hat entschieden:
Nach Art. 11 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO kann der Geschädigte, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, vor dem Gericht seines Wohnsitzes eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates hat.


Siehe auch Unfälle mit Auslandsberührung und Nationaler und internationaler Gerichtsstand für Kfz-Haftpflichtklagen


Tatbestand:

Der Kläger, der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, verlangt von der Beklagten, einer Haftpflichtversicherung mit Sitz in den Niederlanden, Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in den Niederlanden mit einem Versicherten der Beklagten. Das Amtsgericht am Wohnsitz des Klägers hat die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte als unzulässig abgewiesen. Das Berufungsgericht hat mit einem Zwischenurteil (veröffentlicht: OLG Köln, VersR 2005, 1721 f.) die Zulässigkeit der Klage bejaht. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die Klageabweisung. Der erkennende Senat hat mit Beschluss vom 26. September 2006 (veröffentlicht: VersR 2006, 1677 ff.) das Verfahren ausgesetzt und die Frage zur Auslegung der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 234 EGV zur Vorabentscheidung vorgelegt.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hält die Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts des Klägers in Deutschland aufgrund der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO für gegeben. Diese Auslegung entspreche dem ausdrücklichen Willen des europäischen Verordnungsgebers und sei mit dem Wortlaut der auszulegenden Norm sowie deren Zweck und Entstehungsgeschichte vereinbar.


II.

Die Revision gegen das Zwischenurteil des Berufungsgerichts bleibt erfolglos.

1. Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 13. Dezember 2007 (Rechtssache - C-463/06 - VersR 2008, 111 ff.) die Vorlagefrage bejaht und dies wie folgt begründet:
"Abschnitt 3 des Kapitels II der Verordnung Nr. 44/2001, der die Art. 8 bis 14 enthält, sieht Zuständigkeitsregeln für Versicherungssachen vor, die zu den Regeln hinzukommen, die durch die allgemeinen Vorschriften in Abschnitt 1 desselben Kapitels der Verordnung aufgestellt werden. In diesem Abschnitt 3 werden mehrere Zuständigkeitsregeln für Klagen gegen den Versicherer aufgestellt. Er sieht insbesondere vor, dass ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a), vor dem Gericht des Ortes, an dem der Kläger seinen Wohnsitz hat, wenn die Klage von dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Begünstigten erhoben wird (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b), und schließlich bei der Haftpflichtversicherung oder bei der Versicherung von unbeweglichen Sachen vor dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist (Art. 10). In Bezug auf die Haftpflichtversicherung verweist Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 auf diese Zuständigkeitsregeln für Klagen, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt.

Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist daher die Tragweite der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung zu bestimmen. Insbesondere ist festzustellen, ob diese Verweisung dahin auszulegen ist, dass durch sie nur den durch die letztgenannte Bestimmung bezeichneten Gerichten, d. h. den Gerichten des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten, die Zuständigkeit für die Entscheidung über die unmittelbare Klage des Geschädigten gegen den Versicherer zuerkannt wird oder ob aufgrund dieser Verweisung auf diese unmittelbare Klage die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellte Zuständigkeitsregel des Wohnsitzes des Klägers angewendet werden kann.

Hierzu ist festzustellen, dass diese Vorschrift sich nicht darauf beschränkt, die Zuständigkeit den Gerichten des Wohnsitzes der darin aufgezählten Personen zuzuweisen, sondern dass sie vielmehr die Regel der Zuständigkeit des Wohnsitzes des Klägers aufstellt und damit diesen Personen die Befugnis zuerkennt, den Versicherer vor dem Gericht des Ortes ihres eigenen Wohnsitzes zu verklagen.

Eine Auslegung der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung dahin gehend, dass diese dem Geschädigten nur erlaubt, vor den aufgrund der letztgenannten Vorschrift zuständigen Gerichten zu klagen, d. h. den Gerichten des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten, würde daher dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 unmittelbar zuwiderlaufen. Mit dieser Verweisung wird der Anwendungsbereich dieser Regel auf andere Kategorien von Klägern gegen den Versicherer als dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten oder dem Begünstigten aus dem Versicherungsvertrag erstreckt. Die Funktion dieser Verweisung besteht somit darin, der in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b enthaltenen Liste von Klägern die Personen hinzuzufügen, die einen Schaden erlitten haben.

Dabei kann die Anwendung dieser Zuständigkeitsregel auf die unmittelbare Klage des Geschädigten nicht von dessen Qualifizierung als "Begünstigter" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 abhängen, denn die Verweisung auf diese Vorschrift durch Art. 11 Abs. 2 dieser Verordnung ermöglicht die Erstreckung der Zuständigkeitsregel auf diese Rechtsstreitigkeiten über die Zuordnung des Klägers zu einer der in dieser Vorschrift aufgeführten Kategorien hinaus.

Diese Erwägungen werden auch durch die teleologische Auslegung der im Ausgangsverfahren betroffenen Vorschriften gestützt. Nach dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 44/2001 soll diese einen günstigeren Schutz der schwächeren Parteien gewährleisten, als ihn die allgemeinen Zuständigkeitsregeln vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Group Josi, Rn. 64, und Société financière et industrielle du Peloux, Rn. 40, sowie Urteil vom 26. Mai 2005, GIE Réunion européenne u. a., C-77/04, Slg. 2005, I-4509, Rn. 17). Dem Geschädigten das Recht zu verweigern, vor dem Gericht des Ortes seines eigenen Wohnsitzes zu klagen, würde ihm nämlich einen Schutz vorenthalten, der demjenigen entspricht, der anderen ebenfalls als schwächer angesehenen Parteien in Versicherungsrechtsstreitigkeiten durch diese Verordnung eingeräumt wird, und stünde daher im Widerspruch zum Geist dieser Verordnung. Außerdem hat die Verordnung Nr. 44/2001, wie die Kommission zu Recht feststellt, diesen Schutz im Verhältnis zu dem Schutz, der sich aus der Anwendung des Brüsseler Übereinkommens ergab, verstärkt.

Diese Auslegung wird durch den Wortlaut der Richtlinie 2000/26 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung in der nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 44/2001 durch die Richtlinie 2005/14 geänderten Fassung bestätigt. In dieser Richtlinie hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nämlich nicht nur in Art. 3 die Zuerkennung eines Direktanspruchs des Geschädigten gegen das Versicherungsunternehmen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vorgesehen, sondern er hat auch ausdrücklich im Erwägungsgrund 16a auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 Bezug genommen, um auf das Recht des Geschädigten hinzuweisen, eine Klage gegen den Versicherer vor dem Gericht des Ortes zu erheben, an dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat.

Schließlich ist zu den Folgen der Qualifizierung der unmittelbaren Klage des Geschädigten gegenüber dem Versicherer die, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, im deutschen Recht Gegenstand eines Meinungsstreits sind, festzustellen, dass die Anwendung der durch Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 aufgestellten Zuständigkeitsregel auf eine solche Klage nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass diese im nationalen Recht als Delikthaftungsklage, die sich auf ein außerhalb der vertraglichen Rechtsbeziehungen liegendes Recht bezieht, qualifiziert wird. Die Natur dieser Klage im nationalen Recht ist nämlich für die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung unerheblich, da diese Zuständigkeitsregeln in einem Abschnitt, nämlich Abschnitt 3 des Kapitels II dieser Verordnung, enthalten sind, der Versicherungssachen im Allgemeinen betrifft und der sich von dem Abschnitt über besondere Zuständigkeiten für Verträge oder unerlaubte Handlungen betreffende Sachen, nämlich Abschnitt 2 des Kapitels II, unterscheidet. Die einzige Bedingung, von der Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 die Anwendung dieser Zuständigkeitsregel abhängig macht, besteht darin, dass die unmittelbare Klage im nationalen Recht vorgesehen sein muss."
2. Danach hat das Berufungsgericht mit Recht einen Gerichtsstand am inländischen Wohnort des Klägers für die Direktklage gegen die Beklagte bejaht, da der Kläger nach der gemäß Art. 40 Abs. 1 und 4 EGBGB heranzuziehenden niederländischen Gesetzesvorschrift einen Direktanspruch gegen den niederländischen Versicherer hat (Art. 7 Nr. 2 WAM Gesetz über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung vom 30. Mai 1963).

Die Revision ist deshalb zurückzuweisen.