Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

BGH Beschluss vom 14.10.2008 - VI ZB 37/08 - Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unterlassenem Hinweis des Gerichts auf das Fehlen der Unterschrift unter der Berufungsschrift

BGH v. 14.10.2008: Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei unterlassenem Hinweis des Gerichts auf das Fehlen der Unterschrift unter der Berufungsschrift


Der BGH (Beschluss vom 14.10.2008 - VI ZB 37/08) hat entschieden:
Dem Berufungskläger ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die von seinem Prozessbevollmächtigten nicht unterzeichnete Berufungsschrift zehn Tage vor Ablauf der Berufungsfrist beim Rechtsmittelgericht eingegangen ist und das Gericht den Prozessbevollmächtigten nicht rechtzeitig auf das Fehlen der Unterschrift hingewiesen hat.


Siehe auch Anwaltsverschulden - Haftung des Rechtsanwalts gegenüber dem Mandanten und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten aufgrund eines Verkehrsunfalls auf Schadensersatz in Anspruch. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 31. Januar 2008 zugestellt worden. Am 19. Februar 2008 ist beim Landgericht per Telefax ein Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers eingegangen, der Berufungsanträge und eine Begründung, aber keine Unterschrift enthielt. Auch das am 20. Februar 2008 eingegangene Original dieses Schriftsatzes trägt keine Unterschrift. Nach entsprechendem Hinweis des Gerichts vom 3. März 2008 hat der Kläger am 10. März 2008 erneut Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er u.a. vorgetragen, sein Prozessbevollmächtigter habe die Berufung und die Berufungsbegründung am 11. Februar 2008 diktiert. Am selben Tag sei der Schriftsatz gefertigt, aber noch nicht unterzeichnet worden. Rechtsanwalt H. habe seine Chefsekretärin R. vielmehr angewiesen, zunächst eine Abschrift an die Rechtsschutzversicherung zu senden und den Schriftsatz bei Gericht erst nach Eingang der Deckungszusage einzureichen. Nachdem diese am 18. Februar 2008 eingegangen sei, habe Frau R. den Schriftsatz am 19. Februar 2008 per Telefax an das Landgericht gesandt, ohne auf die fehlende Unterschrift zu achten. Diese hätte Rechtsanwalt R. noch vor Fristablauf nachholen können, wenn das Landgericht ihn darauf rechtzeitig hingewiesen hätte.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die begehrte Wiedereinsetzung versagt und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Versäumung der Berufungsfrist sei nicht unverschuldet erfolgt. Der Kläger müsse sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Die in seiner Praxis bestehende allgemeine Büroanweisung, ausgehende Schriftsätze auf das Vorhandensein der Unterschrift des Rechtsanwalts zu kontrollieren, sei unter den besonderen Umständen des Falles nicht ausreichend gewesen, weil die Berufungsschrift fertig abgefasst, aber ohne Unterschrift in die Postmappe gelegt und diese mit einem irreführenden Vermerk versehen worden sei ("Berufung erst einlegen, wenn Deckung von RS hier, Rückfrage RS 18.2.08, Achtung Fristende 29.02!"). Dass die Berufungsschrift noch gar nicht unterzeichnet gewesen sei, habe sich weder aus diesem Vermerk noch aus der im Kalender notierten Frist ergeben. Der Vermerk sei irreführend, weil er den Eindruck erwecke, dass außer der Deckungszusage und dem Fristablauf bei Einreichung des Schriftsatzes nichts weiter zu beachten sei. Wiedereinsetzung sei dem Kläger auch nicht wegen einer gerichtlichen Hinweispflicht zu gewähren. Der Vorsitzende der Berufungskammer, dem die Akte erstmals am 29. Februar 2008 vorgelegt worden sei, habe noch am selben Tag vergeblich versucht, den Prozessbevollmächtigten telefonisch auf das Fehlen der Unterschrift hinzuweisen. Eine Prüfung der Zulässigkeit der Berufung durch die Geschäftsstelle finde nicht statt.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde, die er zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung für zulässig erachtet (§ 574 Abs. 2 ZPO).


II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f. = NJW 1989, 1147; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004).

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieser verbietet es, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. Senatsbeschlüsse vom 9. Dezember 2003 - VI ZB 26/03 - VersR 2005, 138 und vom 14. Februar 2006 - VI ZB 44/05 - VersR 2006, 860; BVerfGE 79, 372, 376 f.; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004, 1005).

a) Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass es zu den Aufgaben des Prozessbevollmächtigten gehört, dafür Sorge zu tragen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig erstellt wird und innerhalb der Frist bei dem zuständigen Gericht eingeht (Senatsbeschluss vom 4. November 2003 - VI ZB 50/03 - VersR 2005, 94; BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1996 - II ZB 19/96 - NJW-RR 1997, 562). Dabei müssen Rechtsmittelschriften als bestimmende Schriftsätze im Anwaltsprozess grundsätzlich von einem beim Rechtsmittelgericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein (BGHZ 97, 251, 254 f.; Senatsbeschluss vom 14. Februar 2006 - VI ZB 44/05 - VersR 2006, 860 m.w.N.; BVerwG, NJW 1991, 120).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann bei fehlender Unterzeichnung der bei Gericht fristgerecht eingereichten Rechtsmittelbegründungsschrift Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn der Prozessbevollmächtigte sein Büropersonal allgemein angewiesen hatte, sämtliche ausgehenden Schriftsätze vor der Absendung auf das Vorhandensein der Unterschrift zu überprüfen. Dies ist insbesondere in Fällen entschieden worden, in denen dem Prozessbevollmächtigten das Versehen unterlaufen war, den bestimmenden Schriftsatz nicht unterzeichnet zu haben (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1995 - VIII ZR 12/95 - VersR 1996, 910, 911; BGH, Beschluss vom 15. Februar 2006 - XII ZB 215/05 - VersR 2007, 375). Nichts anderes kann grundsätzlich für den Fall gelten, in dem der Rechtsanwalt die Unterzeichnung des bestimmenden Schriftsatzes, wie es hier durch die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen des Prozessbevollmächtigten und seiner Chefsekretärin glaubhaft gemacht ist, bis zum Eingang der Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung zurückgestellt hat. Eine besondere Gefahrensituation, die einen technischen Vorgang aus der routinemäßigen Behandlung im büroorganisatorischen Ablauf heraushebt und deswegen ein Verschulden des Rechtsanwalts begründen könnte (vgl. Senatsbeschluss vom 9. September 2008 - VI ZB 8/08 - z.V.b.; BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1984 - IVb ZB 103/84 - VersR 1985, 285; BVerfG, NJW-RR 2002, 1004), wird damit allein noch nicht geschaffen. Ob vorliegend, wie das Berufungsgericht gemeint hat, eine andere Beurteilung im Hinblick darauf gerechtfertigt ist, dass der nicht unterzeichnete Schriftsatz in der Postmappe verblieb und der von Rechtsanwalt R. darauf angebrachte Vermerk möglicherweise missverständlich war, kann offenbleiben.

b) Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedenfalls deshalb zu gewähren, weil sich ein etwaiges Verschulden seines Prozessbevollmächtigten auf die Fristversäumung nicht ausgewirkt hat. Zu der Versäumung hat vorliegend nämlich beigetragen, dass das Landgericht gegen die ihm obliegende Hinweispflicht verstoßen hat.

Für ein Gericht besteht, solange die Sache bei ihm anhängig ist, die aus dem Gebot eines fairen Verfahrens folgende Fürsorgepflicht gegenüber den Prozessparteien (BVerfGE 93, 99 = NJW 1995, 3173, 3175). Diese kann es z.B. gebieten, einen versehentlich bei einem unzuständigen Gericht eingereichten Schriftsatz zeitnah an das zuständige Gericht weiterzuleiten (BGH, Beschluss vom 3. Juli 2006 - II ZB 24/05 - NJW 2006, 3499). Geht ein Schriftsatz so zeitig bei dem mit der Sache befasst gewesenen Gericht ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden kann, darf die Partei nicht nur darauf vertrauen, dass der Schriftsatz überhaupt weitergeleitet wird, sondern auch darauf, dass er noch fristgerecht beim Rechtsmittelgericht eingeht (BGH, Beschlüsse vom 24. September 1997 - XII ZB 144/96 - VersR 1998, 341; vom 1. Dezember 1997 - II ZR 85/97 - VersR 1998, 608 und vom 3. September 1998 - IX ZB 46/98 - VersR 1999, 1170).

Entsprechendes gilt, wenn ein nicht unterzeichneter bestimmender Schriftsatz so rechtzeitig bei Gericht eingeht, dass der Prozessbevollmächtigte auf entsprechenden Hinweis seine fehlende Unterschrift innerhalb der noch laufenden Rechtsmittelfrist ohne weiteres nachholen kann. Die aus dem Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. IV, 20 Abs. III GG) folgende gerichtliche Fürsorgepflicht gebietet es auch, eine Prozesspartei auf einen - leicht erkennbaren - Formmangel in ihrem Schriftsatz hinzuweisen und ihr gegebenenfalls Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben. Ein solcher Hinweis wäre hier erforderlich gewesen. Das Fehlen der Unterschrift war für das Landgericht bei Eingang der Berufungsschrift unschwer zu erkennen und hätte auffallen müssen. Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihre Schriftsätze alsbald nach ihrem Eingang bei Gericht zur Kenntnis genommen werden und offensichtliche äußere formale Mängel dabei nicht unentdeckt bleiben.

Vorliegend lag zwischen dem Eingang des Schriftsatzes bei Gericht und dem Ablauf der Berufungsfrist ein Zeitraum von zehn Tagen. Der Kläger durfte darauf vertrauen, dass dem Gericht das Fehlen der Unterschrift des Prozessbevollmächtigten bei fristgerechter Bearbeitung der Sache im ordentlichen Geschäftsgang innerhalb dieser Zeit auffallen würde. Dem steht nicht entgegen, dass sich die Gerichtsakte zu diesem Zeitpunkt noch beim Amtsgericht befand, denn der Mangel war ohne Kenntnis der Akten und ohne inhaltliche Prüfung der Rechtsmittelschrift unschwer erkennbar. Bei dieser Sachlage durfte der Kläger darauf vertrauen, dass sein Prozessbevollmächtigter rechtzeitig einen Hinweis auf die fehlende Unterschrift erhalten würde. Wäre dies geschehen, hätte der Mangel innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit ohne weiteres behoben werden können. Bei dieser Sachlage wirkt sich ein etwaiges Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers für die Fristversäumung nicht mehr aus (vgl. BVerfGE 75, 183, 188 ff. = NJW 1987, 2003; 81, 264, 273 f. = NJW 1990, 2373).

3. Mithin hat der Kläger glaubhaft gemacht, dass die Frist zur Berufungseinlegung ohne eigenes oder ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten versäumt worden ist. Daher war ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren. Soweit die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, ist der angegriffene Beschluss des Berufungsgerichts damit gegenstandslos.