Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 15.12.1970 - VI ZR 116/69 - Zu den erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beim Liegenbleiben auf der Autobahn

BGH v. 15.12.1970: Zu den erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zur Verhinderung der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beim Liegenbleiben auf der Autobahn


Der BGH (Urteil vom 15.12.1970 - VI ZR 116/69) hat entschieden:
Kommt ein Fahrzeug aus zwingenden Gründen auf der Autobahn unter teilweiser Inanspruchnahme der Fahrspur zum Halten, so muss der Fahrer mit allen ihm möglichen und zumutbaren Mitteln dafür sorgen, dass der nachfolgende Verkehr gewarnt wird.


Siehe auch Liegenbleiben von Fahrzeugen - Warnung des übrigen Verkehrs und Stichwörter zum Thema Autobahn


Tatbestand:

Am 31. Juli 1964 gegen 12 Uhr hielt der Kläger, ein Soldat der amerikanischen Stationierungsstreitkräfte, seinen Personenkraftwagen auf der Bundesautobahn Frankfurt/M. – Mannheim wegen eines Motorschadens auf der rechten Seite der rechten Fahrspur unmittelbar neben der Leitplanke an. Das 1,67 m breite Fahrzeug, Marke Oldsmobile, stand mit den rechten Rädern auf dem 0,90 m breiten betonierten Randstreifen, ragte aber noch mindestens 0,77 m in die Fahrbahn hinein. Als der Kläger vor seinem Wagen stand und bei hochgeklappter Motorhaube die Ursache des Schadens untersuchte, näherte sich der Beklagte mit einem von ihm gelenkten Lastzug, Marke Henschel, auf der rechten Fahrspur. Er erkannte den stehenden Kraftwagen des Klägers zu spät, erfasste den Wagen am linken Teil des Hecks und schob ihn etwa 40 m vor sich her. Dabei wurde der Kläger mitgeschleift und erheblich verletzt. Der Beklagte hatte zwar kurz vor dem Zusammenstoß noch versucht, nach links auszuweichen. Dies misslang jedoch, weil er gerade von einem Volkswagen überholt wurde, der durch die Ausweichbewegung des Beklagten ins Schleudern geriet und sich überschlug. Der Beklagte wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft. In diesem Strafurteil heißt es:
"Der Angeklagte merkte aus Unachtsamkeit – er hatte kurz zuvor zu einem ihm bekannten Lkw-Fahrer, der die Gegenfahrbahn befuhr, gegrüßt und deshalb auf seine Fahrbahn nicht in genügendem Maße geachtet – zu spät, dass der Pkw stand."
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Ersatz des gesamten, ihm aus dem Unfall entstandenen materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch und begehrt die Feststellung künftiger Schadensersatzverpflichtung. Der Beklagte stellt seine Haftung nicht in Abrede, beruft sich aber auf ein mitwirkendes Verschulden des Klägers in Höhe von 1/3. Er habe es versäumt, seinen Wagen nach rückwärts zu sichern.

Land- und Oberlandesgericht haben den Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach und die Klage im übrigen zu drei Vierteln für gerechtfertigt erklärt.

Mit der Revision begehrt der Kläger, seine Ansprüche in voller Höhe dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat die vom Landgericht zuerkannte Schadensquote von drei Vierteln mit der Begründung bestätigt, die vom Kraftwagen des Klägers ausgehende Betriebsgefahr sei für den Unfall mitursächlich geworden und etwa gleich hoch zu veranschlagen wie die Betriebsgefahr des auffahrenden Lastzuges. Auch treffe beide Fahrer ein Verschulden, wobei das Verschulden des Beklagten, der unaufmerksam gefahren sei, erheblich überwiege. Dem Kläger sei nur zur Last zu legen, dass er seinen stehenden Kraftwagen nicht nach rückwärts abgesichert habe, während ihm das Anhalten als solches nicht zum Vorwurf gemacht werden könne.


II.

Diese Beurteilung ist rechtlich insoweit zu beanstanden, als das Berufungsgericht nicht geprüft hat, welche Sicherungsmaßnahme erforderlich und ausreichend und ob deren Unterlassung für den Unfall ursächlich war.

1. Zu Recht hat das Berufungsgericht die Betriebsgefahr des am Fahrbahnrand wegen Motorschadens zum Stehen gekommenen Personenkraftwagens bei der Schadensabwägung mit berücksichtigt.

Die Revision stellt nicht in Frage, dass sich der Unfall beim Betriebe des haltenden Fahrzeugs ereignete (BGHZ 29, 163, 166), und dass, weil ein Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs vorlag, ein Ausschluss der Ersatzpflicht nach § 7 Abs. 2 StVG nicht in Betracht kommt.

2. Der Streit der Parteien geht im wesentlichen darum, ob der Kläger verpflichtet und in der Lage war, das Fahrzeug nach rückwärts abzusichern.

a) Nach § 15 Abs. 3 StVO darf auf Bundesautobahnen grundsätzlich nicht gehalten werden. Dies kann nur bei zwingender Notwendigkeit erlaubt sein, wie sie hier das Berufungsgericht festgestellt hat. Aber auch in solchen Ausnahmefällen muss der Fahrer mit allen ihm möglichen und zumutbaren Mitteln dafür sorgen, dass der nachfolgende Verkehr rechtzeitig gewarnt wird. Dies gilt insbesondere bei Dunkelheit oder sonst schlechter Sicht (BGH Urt. v. 26. März 1956 – VI ZR 242/54 – VRS 11, 1; 7. Juli 1956 – VI ZR 129/55 – VersR 1956, 692; 21. November 1967 – VI ZR 75/66 – VersR 1968, 196; 28. November 1967 – VI ZR 101/66 – VersR 1968, 199). Aber auch bei guter Sicht am Tage muss ein am Fahrbahnrand der Bundesautobahn zum Stehen gekommenes, teilweise in die rechte Fahrspur hineinragendes Fahrzeug nach rückwärts abgesichert werden, auch wenn das Fahrzeug so weit wie möglich nach rechts herangefahren worden ist (§ 1 StVO; BGH Urt. v. 9. Dezember 1958 – VI ZR 259/57 – VersR 1959, 194; Floegel/Hartung Straßenverkehrsrecht 18. Aufl. StVO § 15 Anm. 5; Krumme/Sanders/Mayr Straßenverkehrsrecht StVO § 15 Anm. VIII, 2; Schmidt DAR 1965, 145). Denn die Autobahnen dienen dem Schnellverkehr. Ihre kreuzungsfreie Anlage mit Vorfahrtsrecht bei allen Einmündungen, das Benutzungsverbot für langsam fahrende Kraftfahrzeuge, für Fahrräder mit Hilfsmotor und für Fußgänger (§§ 8 Abs. 7, 37 Abs. 1 StVO) sowie das Halteverbot (§ 15 Abs. 3 StVO) erlauben die Einhaltung erheblicher, durchweg der Höhe nach nicht begrenzter Geschwindigkeiten. Dies muss auch der Fahrer eines ausnahmsweise erlaubt haltenden oder liegengebliebenen Fahrzeugs selbst bei guter Sicht auf mehrere hundert Meter in Rechnung stellen, ebenso den Umstand, dass es auf größere Entfernung schwer zu erkennen ist, ob ein Fahrzeug steht oder fährt. Hinzu kommt, dass sich erfahrungsgemäß die Aufmerksamkeit der Fahrer auf Bundesautobahnen nicht in demselben Maße auf unvorhergesehene Zwischenfälle einstellt wie im sonstigen Straßenverkehr und durch die Gleichmäßigkeit der Fahrweise und die Eintönigkeit der Eindrücke beeinträchtigt werden kann. Die Erfahrung zeigt, dass auf Bundesautobahnen anhaltende oder abgestellte Fahrzeuge eine erhebliche Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bilden. Darum ist es erforderlich, auch bei guter Sicht das Stehenbleiben eines Fahrzeuges kenntlich zu machen.

Der Hinweis der Revision, zu einer Verkehrsgefährdung sei es hier schon deshalb nicht gekommen, weil das Fahrzeug des Klägers nur 0,77 m in die rechte Fahrbahn hineingeragt habe, geht fehl. Auch ein 0,77 m in die Fahrbahn ragendes Fahrzeug kann den Fahrer eines nachfolgenden Lastzuges zumindest dann irritieren, wenn er, wie es vorliegendenfalls zutraf, wegen eines sich gleichzeitig vollziehenden Überholvorganges nicht nach links in die Überholspur ausweichen kann. Es kommt nicht darauf an, ob es technisch möglich war, mit einem Abstand von knapp 0,50 m an dem Hindernis vorbeizukommen, sondern ob der durch das haltende Fahrzeug verursachte Engpass unter Berücksichtigung der hohen Geschwindigkeiten den Fahrer eines nachfolgenden Fahrzeuges irritieren konnte. Dies ist in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht zu bejahen.

Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich wesentlich von den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 5. Juli 1963 (VI ZR 137/62 – VersR 1963, 1159) und vom 22. Dezember 1964 (VI ZR 198/63 – VersR 1965, 362). Im ersten Fall befand sich das haltende Fahrzeug mit seiner ganzen Breite außerhalb der rechten Fahrspur; beim zweiten Fall handelte es sich um eine Bundesstraße, auf der dem auffahrenden Lastzug 6 m der 8 m breiten Fahrbahn zur Vorbeifahrt an dem haltenden Fahrzeug zur Verfügung standen, da weder Gegenverkehr herrschte noch ein weiterer Überholvorgang ihn behinderte.

b) Die Revision rügt jedoch zu Recht, das Berufungsgericht habe nicht dargelegt, welche Sicherungsmaßnahme es im gegebenen Fall für erforderlich und zumutbar hält. Das Berufungsgericht hat das Mitverschulden des Klägers darin gesehen, dass er weder durch Zeichengebung noch durch Aufstellen eines Warnpostens noch durch Warnzeichen den nachfolgenden Verkehr aufmerksam gemacht habe. Eine solche wahlweise Aufzählung muss im vorliegenden Fall Bedenken unterliegen. Schon wegen der zeitlichen Möglichkeit, rechtzeitig erfolgversprechende Maßnahmen zu ergreifen, und der Unfallursächlichkeit der zum Vorwurf gemachten Unterlassung musste genau festgestellt werden, welche Sicherungsmaßnahme der Kläger hätte treffen sollen. Dies lässt sich nicht allgemein, sondern nur nach dem Ausmaß der Verkehrsgefährdung im einzelnen Fall beantworten. Die Gefährdung und Zumutbarkeit bestimmen sich im wesentlichen nach den jeweiligen Sichtverhältnissen, der Verkehrsdichte, dem in Anspruch genommenen Raum der Fahrbahn, der Dauer der Schadensbehebung und den vorhandenen Möglichkeiten der Sicherung. Das Berufungsgericht wird darum zu prüfen haben, wie lange der Kläger sich am Motor zu schaffen machte, ob er, obwohl das Mitführen eines Warndreiecks im Unfallzeitpunkt für Personenkraftwagen noch nicht vorgeschrieben war, ein Warndreieck oder ein anderes Warnzeichen mitführte und ob sein Fahrzeug etwa mit einem sog. Springlicht oder einer Warnblinkanlage (§ 53 a StVZO alter und neuer Fassung) ausgestattet war. Erst nach Aufklärung dieser Umstände wird die erforderliche und zumutbare Sicherungsmaßnahme näher bestimmt werden können, insbesondere, ob in Ermangelung anderer Sicherungsmöglichkeiten etwa die Einschaltung der Blinklichtanlage genügt hätte oder eine Warnung durch persönliche Zeichengebung bis zur Hilfeleistung durch andere Personen zu fordern gewesen wäre. Dabei wird zu beachten sein, dass im allgemeinen die Warnung des nachfolgenden Verkehrs den Vorrang vor der Schadensbehebung hat (BGH Urt. v. 4. Januar 1963 – VI ZR 38/62 – VersR 1963, 342).

c) Die Revision wirft mit Recht die Frage auf, ob dem Kläger eine Warnung des nachfolgenden Verkehrs zeitlich möglich gewesen ist. In der Tat lässt das Berufungsgericht Ausführungen hierzu vermissen. Auch diese Frage kann erst nach weiterer tatrichterlicher Aufklärung beantwortet werden. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich der Einlassung des Klägers bei seiner militärischen Vernehmung vom 15. September 1964 entnehmen, bei der er gesagt hat:
"Ich stieg aus meinem Wagen, öffnete den Kofferraum, nahm mein Werkzeug und ging zur Vorderseite, öffnete die Motorhaube und arbeitete am Motor, wenn (als) mein Wagen von hinten durch den Lastzug angefahren wurde."
Ob aber dieser Vorgang zwei, drei oder weitere Minuten in Anspruch nahm, wird zu untersuchen sein. Denn hierauf kam es je nach der Art der zu fordernden Sicherungsmaßnahme an.

d) Vor allem aber beanstandet die Revision mit Recht, dass das Berufungsgericht die Frage der Ursächlichkeit zwischen der unterlassenen Warnung und dem Auffahrunfall nicht geprüft hat. Sie behauptet, der Beklagte würde, weil er durch das Hinübergrüßen zu einem auf der Gegenfahrbahn fahrenden Bekannten abgelenkt gewesen sei, eine zusätzliche Warnung ebenso übersehen haben wie den haltenden Kraftwagen, den er zugegebenermaßen zu spät erkannte.

Das Berufungsgericht hat geglaubt, es könne die Ursache des Abgelenktseins dahingestellt sein lassen, und hat deshalb den vom Kläger durch Benennung des Amtsgerichtsrats G als Zeugen angetretenen Beweis nicht erhoben. Darin liegt ein Verfahrensfehler.

Wenn festgestellt werden kann, dass der Kläger der ihm obliegenden Sicherungspflicht für den zum Stehen gekommenen Personenkraftwagen nicht nachgekommen ist, dann käme dem Beklagten – obwohl ihn an sich die Beweislast für die Ursächlichkeit des dem Kläger anzulastenden Mitverschuldens trifft (BGH Urt. v. 27. Januar 1959 – VI ZR 30/58 – LM BGB § 823 (J) Nr. 11) – der Beweis des ersten Anscheins zugute. Das stehende Fahrzeug bot für den nachfolgenden Verkehr eine typische Gefahrenquelle, für deren Beseitigung und Absicherung – auch wenn das Anhalten an sich nicht vorwerfbar war – der Kläger die Verantwortung trug, weil er die Gefahrenquelle geschaffen hatte (§ 1 StVO). So wie bei einem Verstoß gegen das Halteverbot auf Autobahnen (§ 15 Abs. 3 StVO) oder gegen die Beleuchtungspflicht (§ 23 Abs. 2 StVO) spricht bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn zunächst die Erfahrung dafür, dass die unterlassene Sicherungsmaßnahme für den Zusammenstoß ursächlich war (vgl. BGH Urt. v. 25. März 1969 – VI ZR 247/67 – VersR 1969, 715; v. 20. Juni 1969 – VI ZR 32/68 – VersR 1969, 895).

Wenn es aber richtig ist, wie der Kläger behauptet und unter Beweis gestellt hat, dass der Beklagte in dem für die Wahrnehmung des haltenden Fahrzeugs entscheidenden Zeitpunkt zu einem ihm entgegenkommenden Fahrer geschaut und diesen gegrüßt hatte und dies nicht nur etwa ein kurzer Gruß war, sondern möglicherweise einige Sekunden in Anspruch nahm, bis er Fahrzeug und Fahrer erkannte und sich mit letzterem verständigte, so könnte damit der Anscheinsbeweis erschüttert sein. Denn dieser entfällt, wenn ein Sachverhalt dargetan wird, der die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsmäßigen Geschehensablaufes ergibt (BGHZ 6, 169, 170; 8, 239, 240).


III.

Schließlich wird das Berufungsgericht bei der zu treffenden Entscheidung auch die Unklarheiten des landgerichtlichen Teil- und Grundurteils bezüglich des Schmerzensgeldes (unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 1/4) und vor allem des Feststellungsurteils zu beseitigen haben.