Das Verkehrslexikon
BGH Urteil vom 18.10.1988 - VI ZR 223/87 - Zum Fahren auf Sicht bei Dunkelheit dicht hinter einem sichtbehindernden plötzlich ausscherenden Fahrzeug
BGH v. 18.10.1988: Zum Fahren auf Sicht bei Dunkelheit dicht hinter einem sichtbehindernden plötzlich ausscherenden Fahrzeug
Der BGH (Urteil vom 18.10.1988 - VI ZR 223/87) hat entschieden:
Zum Umfang der Darlegungs- und Beweislast, wenn sich bei einem Auffahrunfall der Auffahrende zur Erschütterung des für sein Verschulden sprechenden ersten Anscheins darauf beruft, daß ihm die Sicht auf das Hindernis durch ein im letzten Augenblick auf die Nachbarfahrspur ausgewichenes anderes Fahrzeug versperrt gewesen sei (im Anschluß an BGH, 1986-12-09, VI ZR 138/85, VersR 1987, 358).
Siehe auch Fahren auf Sicht - Sichtfahrgebot - Auffahren auf Hindernisse und Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle
Zum Sachverhalt:
Der Kläger begehrt von der Beklagten als Prozessstandschafterin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, an dem ein Tieflader der britischen Streitkräfte beteiligt war. Die Beklagte verlangt im Wege der Widerklage von dem Kläger und seinem Haftpflichtversicherer Schadensersatz für die Beschädigung des Tiefladers und Erstattung unfallbedingter Aufwendungen. Der Unfall ereignete sich am 3. Februar 1983 gegen 13.00 Uhr auf der Bundesautobahn zwischen Duisburg und Essen. Der Fahrer des Tiefladers, der britische Soldat Th., hatte den Tieflader auf dem rechten (von drei) Fahrstreifen zum Halten gebracht, weil sich die rechte Auffahrbrücke gelöst hatte; einen Standstreifen hat die Bundesautobahn an dieser Stelle nicht. Der Zeuge Th. und ein weiterer britischer Soldat, der Zeuge R., begaben sich an das Ende des Tiefladers, um den Defekt zu überprüfen. In diesem Augenblick fuhr der Kläger mit seinem VW-Kombi auf. Die beiden Soldaten wurden verletzt, die Fahrzeuge beschädigt. Die Warnblinkanlage des Tiefladers war eingeschaltet. Ein Warndreieck war noch nicht aufgestellt.
Das Landgericht hat der auf Zahlung von 16.494,04 DM (nebst 4% Zinsen) gerichteten Klage unter Abweisung im übrigen in Höhe von 3.948,51 DM (nebst Zinsen) stattgegeben. Der auf Zahlung von 102.332,18 DM (nebst 8% Zinsen) gerichteten Widerklage hat es, und zwar gegen die drittwiderbeklagte Haftpflichtversicherung des Klägers im Wege des Versäumnisurteils, unter Abweisung der weitergehenden Widerklage in Höhe von 64.447,28 DM (nebst 4% Zinsen) stattgegeben.
Auf die Berufungen sowohl der Beklagten als auch des Klägers hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel dahin abgeändert, dass von der Beklagten an den Kläger 9.476,42 DM (nebst 4% Zinsen) und auf die Widerklage von dem Kläger an die Beklagte 15.521,63 DM (nebst 4% Zinsen) sowie von der - am Berufungsverfahren nicht beteiligten - Drittwiderbeklagten, teils gesamtschuldnerisch mit dem Kläger, im Versäumniswege 64.447,28 DM (nebst Zinsen) zu zahlen seien.
Mit ihrer Revision hält die Beklagte daran fest, dass die Klage in vollem Umfange abzuweisen und der Widerklage in vollem Umfange stattzugeben sei. Der Kläger erstrebt im Wege der Anschlussrevision die Abweisung der Widerklage, soweit er zur Zahlung von mehr als 6.470,26 DM nebst Zinsen verurteilt worden ist. Die Drittwiderbeklagte macht mit ihrer Anschlussrevision geltend, dass gegen sie ein Urteil des Berufungsgerichts nicht habe ergehen dürfen.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... 1. a) Das Berufungsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Beklagte zu 60% und der Kläger zu 40% für den Unfall einzustehen habe. Dabei geht es davon aus, dass ebenso wie den beiden britischen Soldaten auch dem Kläger ein Verschulden an dem Unfall nicht nachgewiesen sei. Der Kläger habe bei seiner persönlichen Anhörung unwiderlegt angegeben: Er sei hinter einem Lkw mit Kastenaufbau hergefahren, der ihm die Sicht auf den liegengebliebenen Tieflader versperrt habe. Jener Lkw mit Kastenaufbau sei vor dem Tieflader nach links auf die mittlere Fahrspur ausgewichen, ohne dass er dieser Ausweichbewegung habe folgen können, weil sich auf der mittleren Fahrspur neben ihm ein weiteres Kraftfahrzeug befunden habe; andererseits sei ihm auf der verbleibenden Strecke ein Anhalten vor dem Tieflader nicht mehr möglich gewesen. Unter diesen Umständen, so meint das Berufungsgericht, sei bei Zugrundelegung der Entscheidung des erkennenden Senats vom 9. Dezember 1986 (VI ZR 138/85, VersR 1987, 358) ein Unfallverschulden des Klägers nicht festzustellen. Es lasse sich nicht ausschließen, dass er im Sinne dieser Entscheidung einen ausreichenden Abstand (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) zu jenem Lkw mit Kastenaufbau eingehalten habe. Somit könne nach § 17 Abs. 1 StVG allein die Betriebsgefahr der beiden unfallbeteiligten Kraftfahrzeuge gegeneinander abgewogen werden. Dabei erweise sich die Betriebsgefahr des auf der Autobahn liegengebliebenen Tiefladers als schwerwiegender.
b) Dies hält, soweit ein Verschulden des Klägers verneint wird, der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Allerdings hat sich der Senat in der von dem Berufungsgericht herangezogenen Entscheidung vom 9. Dezember 1986 auf den Standpunkt gestellt, auf der Autobahn sei der nachfolgende Kraftfahrer nicht verpflichtet, den Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug generell so zu wählen, dass er vor einem durch den Vorausfahrenden zunächst verdeckten Hindernis selbst dann anhalten kann, wenn dieser, ohne zu bremsen, unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur wechselt (s. näher aaO S. 359f.). Hiernach kann dem nachfolgenden Kraftfahrer, der auf das Hindernis auffährt, kein Schuldvorwurf gemacht werden, wenn er einen außer für diese spezielle Situation ausreichenden Abstand zu dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug eingehalten hat, das Hindernis wegen Sichtbehinderung durch das vorausfahrende Fahrzeug nicht früher erkennen konnte, keinen Anlass zu Zweifeln an der Fahrweise des Vorausfahrenden zu haben brauchte und der Ausweichbewegung wegen eines auf der Ausweichspur herangekommenen weiteren Kraftfahrzeuges nicht zu folgen vermocht hat. Die genannte Entscheidung des Senats darf jedoch nicht dahin missverstanden werden, dass immer schon dann, wenn eine Fallgestaltung dieser Art auch nur behauptet wird und nicht widerlegt ist, ein Verschulden des Auffahrenden zu verneinen wäre. Vielmehr hält der Senat daran fest, dass bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden spricht (s. etwa Senatsurteile vom 6. April 1982 - VI ZR 152/80 - VersR 1982, 672 und vom 23. Juni 1987 - VI ZR 188/86 - VersR 1987, 1241). Dieser erste Anschein wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, für den die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheint, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird. Dementsprechend muss der Auffahrende, der sich auf eine Situation wie die in der Senatsentscheidung vom 9. Dezember 1986 ins Auge gefasste beruft, diesen Ablauf oder doch die ernsthafte Möglichkeit eines solchen Ablaufs beweisen. Erforderlich ist zumindest der Nachweis, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dass dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dass dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war. Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Nach seiner Beweiswürdigung, der allein die Anhörung des Klägers zugrundelag, ist der für ein Verschulden des Klägers sprechende Anscheinsbeweis nicht erschüttert. Denn das Berufungsgericht hat die Darstellung des Klägers nur als "unwiderlegt" angesehen; es lasse sich "nicht ausschließen", dass sich der Kläger im Einklang mit den in der Senatsentscheidung vom 9. Dezember 1986 aufgestellten Grundsätzen verhalten habe. Hiernach ist der Beweis für die ernsthafte Möglichkeit eines Unfallablaufs, bei dem ein Verschulden des Klägers zu verneinen wäre, nicht geführt. Der Hinweis der Revisionserwiderung, dass die Unfalldarstellung des Klägers unstreitig gewesen sei, trifft nicht zu. Die Beklagte hat daran festgehalten, dass es dem Kläger möglich gewesen wäre, ebenfalls auf die mittlere Fahrspur auszuweichen (GA Bl. 365).
Nach alledem kann die Haftungsverteilung des Berufungsgerichts, die wesentlich auf der Verneinung eines Verschuldens auch des Klägers beruht, nicht bestehen bleiben. Vielmehr steht der objektiven Betriebsgefahr des liegengebliebenen Tiefladers der britischen Streitkräfte die um das Auffahrverschulden des Klägers erhöhte Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeuges gegenüber. Unter diesem Umständen erscheint eine überwiegende Haftung der Beklagten, wie sie das Berufungsgericht angenommen hat, nicht gerechtfertigt. Im einzelnen überlässt der Senat die Bildung der Haftungsquote, die in erster Linie Sache des Tatrichters ist, dem Berufungsgericht, an das der Rechtsstreit aus anderen Gründen (s. nachfolgend zu 2.) ohnehin zurückzuverweisen ist.
..."