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OLG Koblenz Urteil vom 24.08.2011 - 5 U 433/11 - Zum Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht
OLG Koblenz v. 24.08.2011: Zur Aufsichtspflichtverletzung der Eltern eines fünf Jahre alten auf dem Bürgersteig radfahrenden Kindes
Das OLG Koblenz (Urteil vom 24.08.2011 - 5 U 433/11) hat entschieden:
- Ein 5jähriges, auf dem Bürgersteig radelndes Kind muss nicht derart eng überwacht werden, dass der Aufsichtspflichtige jederzeit eingreifen kann. Ebenso wenig muss der Aufsichtspflichtige dafür sorgen, dass das Kind generell vor Biegungen des Gehwegs anhält und dort verharrt.
- Ein Verstoß gegen die Pflicht, dem Kind aus Sicht- und Rufweite zu folgen, ist haftungsrechtlich unerheblich, wenn feststeht, dass ihre Beachtung den Unfall nicht vermieden hätte.
- Über einen Feststellungsantrag darf zwar nicht durch Grundurteil entscheiden werden. Das ist aber nicht der Fall, wenn sich aus dem Gesamtinhalt des Urteils hinreichend deutlich ergibt, dass dem Feststellungsbegehren umfassend entsprochen wurde (Abgrenzung zu OLG Koblenz NJW-RR 2011, 1002).
Siehe auch Zum Haftungsprivileg für Kinder und die Haftung von Jugendlichen für ihr Handeln und Die Pflicht von Eltern und sonstigen Aufsichtspersonen zur Beaufsichtigung von Kindern und sonstigen Schutzbefohlenen
Gründe:
Die Beklagte ist die Mutter des am … 2003 geborenen A..., der den damals 76-jährigen Kläger am 23.08.2009 bei einem Zusammenprall verletzte. Der Kläger befand sich seinerzeit in der Biegung eines Fußweges. A... kam ihm mit dem Fahrrad entgegen und schlug gegen sein rechtes Bein. Wie schnell A... fuhr und wie intensiv die Kollision war, ist im Streit.
Der Kläger sieht sich in der Folge dauerhaft geschädigt. Er leide unfallbedingt unter einem offenen Bein und könne deshalb seinen Haushalt nicht mehr führen. Dafür macht er die Beklagte verantwortlich, die ihre Aufsichtspflicht verletzt habe.
A... war vor dem Unfallereignis zusammen mit einem ihm bekannten Erwachsenen auf einem Spielplatz gewesen. Der Zusammenstoß fand ohne dessen Beobachtung in deutlicher Entfernung statt, nachdem A... allein fortgeradelt war.
Mit seiner Klage hat der Kläger ein mit mindestens 10.000 € zu bezifferndes Schmerzensgeld, einen fortlaufenden Haushaltsführungsschaden und vorgerichtliche Anwaltskosten geltend gemacht. Darüber hinaus hat er die Feststellung einer umfassenden Haftung der Beklagten begehrt.
Das Landgericht hat Zeugenbeweis erhoben und sodann das Ersatzverlangen des Klägers dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Seiner Auffassung nach war A... unzulänglich beaufsichtigt. Er habe bei seiner Fahrradfahrt begleitet und überwacht werden müssen. Dafür habe die Beklagte nicht gesorgt. Der bekannte Erwachsene, mit dem A... auf dem Spielplatz gewesen sei, habe seiner Aussage nach keine Fürsorgepflichten übernommen.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Sie erstrebt die Abweisung der Klage, hilfsweise die Rückgabe des Rechtsstreits in die erste Instanz. Sie rügt, dass das Landgericht nicht generell durch ein Grundurteil habe entscheiden dürfen, sondern über den Feststellungsantrag des Klägers durch ein Teilurteil habe befinden müssen. Darüber hinaus habe es versäumt, sich zu dem Mitverschulden des Klägers zu äußern. In der Sache sei verkannt worden, dass die behauptete weitreichende Schadenskausalität des Unfalls nicht feststehe. Zudem fehle es an einer Aufsichtspflichtverletzung. Sie, die Beklagte, habe darauf vertrauen dürfen, dass A... durch den Bekannten, mit dem er auf dem Spielplatz gewesen sei, überwacht werde. Unabhängig davon habe es aufgrund der örtlichen Situation nicht einmal einer Überwachung bedurft.
Dem tritt der Kläger entgegen. Er erachtet das landgerichtliche Urteil für formal unangreifbar. Darüber hinaus ist es aus seiner Sicht auch sachlich richtig. A... sei in der Unfallsituation ohne die erforderliche Aufsicht gewesen. Das habe die Beklagte zu verantworten. Darauf, ob das Unfallereignis die behaupteten Schadensfolgen gehabt habe, komme es für die im Berufungsverfahren allein zu beantwortende Frage nach der grundsätzlichen Haftung der Beklagten nicht an.
II.
Die Berufung führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Über die von der Beklagten hilfsweise beantragte Rückgabe des Rechtsstreits in die erste Instanz ist damit nicht mehr zu befinden.
1. Die in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen würden auch nicht greifen. So ist der Feststellungsantrag des Klägers entgegen der Ansicht der Beklagten durch das Landgericht beschieden und stillschweigend zuerkannt worden. Die erstinstanzliche Entscheidung ist nämlich nicht als Teilurteil bezeichnet; außerdem lässt sich den Gründen nichts dafür entnehmen, dass sie sich auf die bezifferten Ansprüche beschränken wollte, und darüber hinaus stützt die getroffene rechtliche Würdigung das Feststellungsbegehren (BGH VersR 1959, 904; BGB NJW-RR 1992, 531; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 304 Rn. 7; vgl. auch BGHZ 7, 331). Seine Beurteilung wurde gerade nicht offen gelassen (vgl. dazu BGH NJW-RR 1994, 319) und hing auch nicht von der Klärung eines jenseits der Leistungsanträge liegenden Streitpunkts ab (vgl. insoweit BGH ZIP 2002, 1849). Soweit die Beklagte die Vernachlässigung des von ihr erhobenen Mitverschuldenseinwands beanstandet, ist dem entgegen zu halten, dass dieser Gesichtspunkt dem Nachverfahren vorbehalten bleiben dürfte (BGH NJW 2005, 1935; Vollkommer in Zöller, ZPO, 28. Aufl., § 304 Rn. 8).
2. Die Klage scheitert, weil die Voraussetzungen für die - auf § 832 Abs. 1 gestützte - Inanspruchnahme der Beklagten nicht gegeben sind. Das Landgericht hat eingangs seiner Urteilsbegründung zutreffend herausgestellt, dass eine Haftung der Beklagten ausscheidet, wenn sie entweder ihrer Aufsichtspflicht genügt hat oder wenn der geltend gemachte Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre. Es hat sich dann aber allein mit den ersten dieser beiden Kriterien befasst. Nachdem es insoweit einen Haftungsausschluss verneint hatte, hätte es sich dem zweiten Gesichtspunkt zuwenden und prüfen müssen, ob sich die Beklagte diesbezüglich freizeichnen kann. Das ist zu bejahen. Damit erübrigt sich eine Stellungnahme dazu, ob es angemessen war, A... am 23.08.2009 mit seinem Fahrrad ohne elterliche Begleitung zu belassen, solange nicht gleichzeitig sichergestellt wurde, dass eine verantwortliche Person sich anhaltend um ihm kümmerte - woran es nach den auf die Zeugenaussage B... gestützten Feststellungen des Landgerichts fehlte.
Das streitige Unfallereignis, aus dem der Kläger seine Ansprüche herleitet, wäre auch dann nicht vermieden worden, wenn die Beklagte A... am 23.08.2009 in Einhaltung der an Eltern zu stellenden Sorgfaltspflichten überwacht hätte. Man kann insoweit mit dem Kläger davon ausgehen, dass es geboten gewesen wäre, A... nicht unbegleitet vom Spielplatz fortradeln zu lassen, sondern ihm zu folgen. Dies hätte indessen nicht in kurzem Abstand zu geschehen brauchen, weil sich A... - der Vorgabe des § 2 Abs. 5 StVO gemäß - auf einem Gehweg und damit in dem Bereich befand, in dem nicht mit eklatanten Gefahrensituationen zu rechnen war. Der - von dem Zeugen ...[C] mitgeteilte - Umstand, dass A... dazu geneigt habe, nicht nach links oder rechts zu schauen, wenn er auf eine Straße fuhr, begründete hier kein Risiko. Insofern war es angemessen, A... als bald sechsjährigem Kind die Gelegenheit zu geben, sich eigenständig und unabhängig davon zu bewegen, ob die Beklagte jederzeit zu intervenieren vermochte (OLG-R Hamm 2000, 266; OLG Hamm VersR 2001, 386).
Überdies war A... mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut, und äußere Einflüsse, die ihn zu Unbedachtsamkeiten hätten verleiten können, waren nicht zu ersehen (vgl. dazu BGH NJW-RR 1987, 1430). Dass er die Wegstrecke im Auge zu behalten und Hindernissen auszuweichen hatte, brauchte ihm nicht weiter nahe gebracht zu werden, weil zu erwarten war, dass er in seinem Alter über die Einsichtsfähigkeit verfügte, schon im eigenen Interesse so zu handeln. Es ist auch nicht erkennbar, dass Anlass bestanden hätte, A... zu ermahnen, langsamer zu fahren. Mit welcher Geschwindigkeit er sich fortbewegte, ist im Streit. Der Kläger hat dazu mitgeteilt, A... sei "so schnell" gewesen, dass er "ihn vorher nicht habe sehen können". Das besagt objektiv wenig und kann sich ohne weiteres aus einer momentanen eigenen Unaufmerksamkeit erklären.
Mithin wäre die Beklagte in Erfüllung ihrer elterlichen Aufsichtspflicht allenfalls gehalten gewesen, A... auf allgemeine Sicht- und Rufweite zu folgen. Dann aber hätte sie dem Zusammenstoß, der sich dem Vortrag des Klägers zu Folge in einer in Sträucher und Gebüsch eingebetteten Wegbiegung ereignete, ebenso wenig wirksam vorbeugen können, wie dies dem Kläger und A... möglich war. Die Gelegenheit, physisch oder verbal präventiv einzugreifen, hätte nicht bestanden. Nach dieser hypothetischen Betrachtung kommt die Inanspruchnahme der Beklagten gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 BGB nicht in Betracht.
3. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1 S. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Berufungsstreitwert: 41.325 € (Schmerzensgeld 10.000 €, kapitalisierter Haushaltsführungsschaden 6.575 €, Haushaltsführungsschadensrente 5 x 12 x 337,50 €, Feststellung 5.000 €).