Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Haftungsprivileg für Kinder unter 10 Jahren - Haftungsprivilegierung - Parkschaden - ruhender und fließender Verkehr - typische Gefahrensituation

Zum Haftungsprivileg für Kinder und die Haftung von Jugendlichen für ihr Handeln




Gliederung:


   Einleitung

Weiterführende Links

Allgemeines

10 Jahre alte Kinder oder knapp darüber

Jugendliche




Einleitung:


Im Jahre 2002 traten eine Reihe von Änderungen des Schadensersatzrechts in Kraft. Eine der ganz wesentlichen Änderungen betraf die Begrenzung der Haftung von Kindern im motorisierten Straßenverkehr.

Auch nach der derzeitigen Gesetzeslage bleibt es bei dem schon immer geltenden Rechtszustand, dass Kinder bis zum vollendeten siebenten Lebensjahr für Schäden, die sie schuldhaft verursachen, nicht haften, weil davon auszugehen ist, dass es ihnen insoweit an der für eine Haftung erforderlichen Einsicht fehlt.

In allen Fällen von Schadenszufügungen außerhalb des Verkehrs richtet sich die Haftung von Kindern, die zwar das siebente, jedoch noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, nach der ihrer Entwicklung entsprechenden, für die Erkenntnis ihrer Verantwortlichkeit erforderlichen Einsichtsfähigkeit.

Die bedeutsamste Neuregelung war, dass unter anderem für den motorisierten Straßenverkehr eine neue Altersgruppe weitgehend von jeglicher Haftung freigestellt wurde; dies betrifft alle Kinder, die zum Zeitpunkt eines Unfallereignisses zwar das siebente, aber noch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet haben:

Sie haften nicht für Schäden, die sie bei einem Unfall mit einem Kfz, einem Schienenfahrzeug oder eine Schwebebahn einem anderen zufügen, es sei denn, die Schadenszufügung geschah vorsätzlich.


Streit entwickelte sich in der Folgezeit in Literatur und Rechtsprechung darüber, ob die Haftungsprivilegierung auch dann greift, wenn ein Kind nicht in einen Unfall im fließenden Verkehr verwickelt ist, sondern z. B. mit seinem Fahrrad ein parkendes Kfz beschädigt.

- nach oben -



Weiterführende Links:


Personenschaden allgemein

Kinderunfälle

Die Haftungserleichterungen für Kinder

Die Pflicht von Eltern und sonstigen Aufsichtspersonen zur Beaufsichtigung von Kindern und sonstigen Schutzbefohlenen

- nach oben -






Allgemeines:


OLG Schleswig v. 18.12.2002:
In nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a.F. zu beurteilenden Fällen ist in aller Regel die Verantwortlichkeit (Einsichtsfähigkeit) von Kindern bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres zu verneinen, sofern es um lediglich fahrlässiges Verhalten bei Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen geht; mangelnde Einsichtsfähigkeit i.S.v. § 828 Abs. 2 S. 1 BGB a.F. steht auch der Zurechnung eines Mitverschuldens nach §§ 9 StVG, 254 BGB entgegen.

LG Trier v. 03.11.2003:
Voraussetzung der Haftungsprivilegierung im Sinne des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB ist, dass sich das Kraftfahrzeug in Bewegung, es sich also im sogenannten "fließenden" Verkehr befindet.

BGH v. 30.11.2004:
Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl I S. 2674) greift nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat.

BGH v. 30.11.2004:
Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB greift nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat (vgl. Senatsurteil vom 30. November 2004 VI ZR 335/03 zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt).




LG Kaiserslautern v. 06.04.2005:
Eine Überforderungssituation mit der Folge der Haftungsprivilegierung liegt für ein 9-jähriges Kind auch dann vor, wenn es gegen ein kurz zuvor geparktes Fahrzeug gerät, das weit in den Gehweg hineinragt.

BGH v. 14.06.2005:
Das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I 2674) führt nicht zu einer Änderung der Darlegungs- und Beweislast für Schadensfälle, die sich vor dem 1. August 2002 ereignet haben.

BGH v. 17.04.2007:
Stößt ein achtjähriges Kind mit seinem Fahrrad aufgrund überhöhter, nicht angepasster Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit im fließenden Verkehr gegen ein verkehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es nicht herankommen sehen konnte und mit dem es deshalb möglicherweise nicht rechnete, so handelt es sich um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es im Hinblick auf die generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit von Kindern durch § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB nicht an.

BGH v. 16.10.2007:
Lässt ein achtjähriges Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad los, damit es von alleine weiterrollt, und rollt das führungslose Fahrrad auf die Fahrbahn gegen das zu diesem Zeitpunkt vorbeifahrende Kraftfahrzeug, so handelt es sich um einen Unfall mit einem Kraftfahrzeug im Sinne des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F., der zu einer Haftungsprivilegierung des Kindes führt.

BGH v. 11.03.2008:
Fährt ein Kind mit einem Fahrrad gegen ein mit geöffneten hinteren Türen am Fahrbahnrand stehendes Fahrzeug, entfällt seine Haftung nach § 828 Abs. 2 BGB.

BGH v. 30.06.2009:
Der Geschädigte, der sich darauf beruft, hat darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass sich nach den Umständen des Falles die typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs bei einem Unfall nicht realisiert hat.

AG München v. 30.07.2009:
Die Haftungsprivilegierung aus § 828 Abs. 2 BGB für Kinder greift nur bei verkehrsgerecht geparkten, nicht hingegen bei verkehrswidrig auf dem Bürgersteig abgestellten Fahrzeugen.

LG Saarbrücken v. 20.11.2009:
Für das Eingreifen des Haftungsprivilegs ist nicht etwa zwischen dem fließenden und dem ruhenden Verkehr zu unterscheiden, wenn es auch im fließenden Verkehr häufiger als im sogenannten ruhenden Verkehr eingreifen mag. In besonders gelagerten Fällen kann sich auch im ruhenden Verkehr eine spezifische Gefahr des motorisierten Verkehrs verwirklichen. Für die Frage, ob der Haftungsausschluss nach § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB überhaupt in Betracht kommt, ist maßgebend darauf abzustellen, ob eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr gegeben war. Allerdings kommt es nicht darauf an, ob sich die Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten.

OLG Düsseldorf v. 15.02.2018:
Kommt es an einer Fußgängerampel zu einer Kollision zwischen einem Kraftfahrzeug und einem zehnjährigen Kind, weil das Kind die Fahrbahn trotz Rotlicht überquert und der Fahrer das Kraftfahrzeug nicht rechtzeitig bremst, kann eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Kfz.-Führers angemessen sein.

OLG Celle v. 19.02.2020:
Einem altersgerecht entwickeltem achtjährigem Kind, das bereits seit seinem fünften Lebensjahr im Straßenverkehr Fahrrad fährt, muss bewusst sein, dass eine länger andauernde Vorwärtsfahrt mit dem Fahrrad, während der Kopf rückwärtsgewandt und damit das Blickfeld vom Fahrweg abgewandt ist, gefahrenträchtig ist.

- nach oben -



10 Jahre alte Kinder oder knapp darüber:


OLG Hamm v. 13.07.2009:
Obwohl jemand, der das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nach der gesetzlichen Neuregelung des § 828 Abs. 2 BGB für einen Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich ist, sind die Anforderungen an Verkehrsteilnehmer nach Vollendung des 10. Lebensjahres nicht geringer anzusetzen als nach der früheren Rechtslage. Es ist auch weiterhin eine Abwägung der Schadensverursachungsanteile dahin möglich, dass der Jugendliche alleine haftet, wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lässt.


OLG Celle v. 08.06.2011:
Bei der Abwägung des Mitverschuldens von Kindern, die nicht dem Anwendungsbereich des § 828 Abs. 2 BGB unterfallen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass deren Mitverschulden geringer zu bewerten ist, als das eines unfallbeteiligten Erwachsenen. Anders ist das jedoch, wenn der dem Minderjährigen anzulastende Sorgfaltsverstoß sowohl altersspezifisch als auch subjektiv besonders vorwerfbar ist. In einem derartigen Fall kann ausnahmsweise auch die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Fahrzeugs hinter dem groben Verschulden des Minderjährigen zurücktreten.

OLG Düsseldorf v. 15.02.2018:
Nach § 3 Abs. 2 a StVO muss derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Durch diese Vorschrift ist eine gegenüber dem Regelfall erhöhte Sorgfaltspflicht begründet worden, die den Vertrauensgrundsatz, dass sich auch die anderen Verkehrsteilnehmer regel- und interessensgerecht verhalten, weiter einschränkt. Dabei hängt das Ausmaß der erhöhten Sorgfaltspflicht von der für den Fahrzeugführer erkennbaren Altersstufe eines Kindes ab, aus der auf den Grad der Verkehrsreife und den Umfang der bereits erfolgten Verkehrserziehung geschlossen werden kann. Bei Kindern ab zehn Jahren darf gemäß § 828 Abs. 3 BGB widerleglich vermutet werden, dass sie den geltenden Verkehrsregeln Beachtung schenken können. Bei diesen älteren Kindern muss sich ein Fahrzeugführer daher nur dann auf die Möglichkeit eines unbesonnenen und verkehrswidrigen Verhaltens einstellen, wenn besondere Umstände auf eine solche Möglichkeit hindeuten. Das ist insbesondere der Fall, wenn sich ein Kind bereits verkehrswidrig verhält oder wenn seine Aufmerksamkeit erkennbar anderweitig in Anspruch genommen ist

- nach oben -





Jugendliche:


OLG Koblenz v. 16.04.2012:
Für die erforderliche Einsicht genügt das allgemeine Verständnis in die Gefährlichkeit des eigenen Tuns. Ab dem Alter von 7 Jahren wird das Vorliegen der Einsichtsfähigkeit vom Gesetz widerlegbar vermutet. Bei Jugendlichen von über 16 und 17 Jahren ist nichts ersichtli LG Dortmund v. 19.02.2015:
Ein 14-jähriger, der im Straßenverkehr bereits geübt gewesen ist und regelmäßig mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilgenommen hat, ist gemäß § 828 Abs. 3 BGB für sein Verhalten als verantwortlich anzusehen. - Soweit er davon ausgegangen ist, die Kreuzung noch vor einem von rechts kommenden Pkw überqueren zu können beruht diese Fehleinschätzung nicht auf mangelnder Erkenntnis der Verantwortlichkeit, sondern auf einer altersunabhängigen Fehleinschätzung der äußeren Umstände.

- nach oben -



Datenschutz    Impressum