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BGH Beschluss vom 17.04.2012 - VI ZB 44/11 - Das Gericht darf über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden

BGH v. 17.04.2012: Das Gericht darf über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden


Der BGH (Beschluss vom 17.04.2012 - VI ZB 44/11) hat entschieden:
  1. Das Gericht darf über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Durch eine vorzeitige Entscheidung ist der Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör aber nur dann verletzt, wenn die Partei, die die Frist versäumt hat, substantiiert darlegt, dass sie vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist noch weiter vorgetragen hätte, so dass das Gericht den ergänzenden Vortrag bei seiner Entscheidung hätte berücksichtigen können (Abgrenzung zu BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011, V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4).

  2. Bei einem Wiedereinsetzungsgesuch wegen Versäumung einer Rechtsmittelbegründungsfrist reicht der allgemein gehaltene, nicht weiter substantiierte Vortrag, einer bewährten Rechtsanwaltsfachangestellten sei ein Versehen unterlaufen, zur Prüfung der Verschuldensfrage (§ 233 ZPO) und der Zurechnungsfrage (§ 85 Abs. 2 ZPO) nicht aus.


Siehe auch Wiedereinsetzung und Beweislast


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die beklagte Gemeinde auf Schadensersatz wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am 25. Februar 2011 mit Schriftsatz vom 24. März 2011, der am selben Tag bei Gericht einging, Berufung eingelegt. Unter dem 2. Mai 2011 wies das Berufungsgericht darauf hin, die routinemäßige Aktenkontrolle habe ergeben, dass bisher keine Berufungsbegründungschrift zu den Akten gelangt sei. Dieser Hinweis ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Fax vom 3. Mai 2011 zugänglich gemacht worden. Daraufhin hat der Kläger mit bei Gericht am 5. Mai 2011 eingegangenem Schriftsatz vom 4. Mai 2011 - verbunden mit seinem Berufungsantrag und einer Berufungsbegründung - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt.

Das Berufungsgericht hat die Berufung unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist aber im Übrigen unzulässig. Weder der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) noch der der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) liegen vor.

1. Das Berufungsgericht hat die Ablehnung der Wiedereinsetzung wie folgt begründet:

Die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs lasse weder erkennen, ob und welche allgemeinen Anweisungen der Prozessbevollmächtigte des Klägers in Bezug auf das Notieren der Fristen und ihrer Überwachung erteilt habe, noch trage der Prozessbevollmächtigte vor, ob und in welcher Weise er selbst eine Überprüfung vornehme. Der allgemeine Vortrag, der bewährten Rechtsanwaltsfachangestellten sei ein Versehen unterlaufen, reiche hierfür nicht aus. Das Fehlen von Sicherheitsvorkehrungen stelle jedenfalls einen entscheidenden Organisationsmangel dar.

Außerdem könne sich ein Rechtsanwalt nur auf die Zuverlässigkeit seines Büropersonals berufen, wenn er dieses sorgfältig ausgewählt und eingewiesen habe, sowie stichprobenartig kontrolliere. Auch hierzu sei im Wiedereinsetzungsgesuch weder etwas ausgeführt noch glaubhaft gemacht, was die Beklagtenseite zutreffend in der Stellungnahme vom 12. Mai 2011 gerügt habe.

2. Gegen die Verweigerung der Wiedereinsetzung wendet sich die Rechtsbeschwerde ohne Erfolg.

a) Die Rechtsbeschwerde ist wie folgt begründet worden:

Das Berufungsgericht habe den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Damit habe es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, sodass die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig sei.

Wäre das Berufungsgericht nicht so verfahren, hätte der Kläger innerhalb der am "05.05.2011" endenden Wiedereinsetzungsfrist noch folgendes vorgetragen:

Die Rechtsanwaltsfachangestellte, Frau M., des bisherigen Prozessbevollmächtigten sei seit 1. Januar 1997 in der Kanzlei tätig (Beweis: Arbeitsvertrag in Fotokopie anliegend). Die Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten sei allerdings in der Zeit vom 1. September 2007 bis 26. Juni 2009 erfolgt. Sie habe die Prüfung mit der Note "sehr gut" abgelegt. Eine beglaubigte Kopie des Prüfungszeugnisses sei in zweifacher Ausfertigung angeschlossen. Hierdurch sei belegt, dass Frau M. über überdurchschnittliche Kenntnisse in ihrem Fachgebiet verfüge. Innerhalb der Kanzlei bestehe die Anweisung und Übung, dass Rechtsmittelfristen sowie die Begründungsfristen vom Rechtsanwalt in der jeweiligen Akte eingetragen würden. So sei es auch vorliegend geschehen.

Sodann werde die Akte der Fachangestellten zur Eintragung in den Fristenkalender überlassen, wobei die Anweisung bestehe, eine Woche vor Fristablauf einen so genannten "Vorwarner" zu setzen. Von Zeit zu Zeit werde durch den Rechtsanwalt auch selbst überprüft, ob die Einträge korrekt seien. In jedem Einzelfall könne dies im Interesse der eigentlichen anwaltlichen Aufgabe nicht geschehen, was anerkannt sei. Fehler seien bislang nicht vorgekommen bis auf den vorliegenden Fall, in dem es leider zu dem Versehen gekommen sei.

Frau M. habe, wie aus der eidesstattlichen Versicherung vom 4. Mai 2011 ersichtlich sei, den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist versehentlich für den 26. Mai 2011 (Vorwarner: 18. Mai 2011) statt auf den 26. April 2011 eingetragen. Dies habe leider zur Folge gehabt, dass die Akte nicht rechtzeitig dem Rechtsanwalt vorgelegt worden sei, so dass die Berufungsbegründungsfrist verstrichen sei.

Unabhängig davon sei das Wiedereinsetzungsvorbringen des Klägers in seinem zur Akte gelangten Wiedereinsetzungsgesuch ausreichend gewesen.

b) Der Beschwerdevortrag ist nicht geeignet, einen durchgreifenden Rechtsfehler des Berufungsgerichts darzutun.

aa) Zutreffend weist die Rechtsbeschwerde allerdings darauf hin, dass das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden darf und dass eine vorzeitige Entscheidung den Anspruch des Antragsstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen kann (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs setzt allerdings voraus, dass die Partei, die die Frist versäumt hat, vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist noch weiter vorgetragen hätte, so dass das Gericht den ergänzenden Vortrag bei seiner Entscheidung hätte berücksichtigen können.

Davon kann im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.

Ausweislich der Akten ist dem Rechtsanwalt des Klägers der gerichtliche Hinweis über den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist und darauf, dass der Eingang einer Berufungsbegründungsschrift bislang nicht festgestellt werden könne, am 3. Mai 2011 per Fax zugesandt worden. Damit war das Hindernis behoben (§ 234 Abs. 2 ZPO), so dass die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO an diesem Tag zu laufen begann. Fristablauf war danach Freitag, der 3. Juni 2011. Der angegriffene Beschluss des Berufungsgerichts vom 25. Mai 2011 ist dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich des sich bei der Akte befindlichen Empfangsbekenntnisses am 3. Juni 2011 zugegangen. Eine ergänzende Stellungnahme zu dem Wiedereinsetzungsgesuch ist bei dem Berufungsgericht weder an diesem Freitag noch an dem folgenden Montag, dem 6. Juni 2011, eingegangen.

Bei dieser Sachlage ist nicht nachvollziehbar, inwieweit die nach der Behauptung des Klägers beabsichtigte ergänzende Stellungnahme noch innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist hätte erfolgen können. Der Kläger trägt nicht vor, dass am 3. Juni 2011 die Anfertigung und Übersendung einer ergänzenden Stellungnahme bereits in Angriff genommen worden wäre oder jedenfalls beabsichtigt gewesen, dann aber aufgrund der Zustellung des angegriffenen Beschlusses des Berufungsgerichts aufgegeben worden sei. Die Stellungnahme der Beklagtenseite zu dem Wiedereinsetzungsgesuch war bereits am 13. Mai 2011 beim Berufungsgericht eingegangen und dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 16. Mai 2011 übersandt worden und wird in der Rechtsbeschwerdebegründung auch nicht als Grund für die beabsichtigte ergänzende Stellungnahme genannt.

Die Behauptung des Klägers, dass ohne den voreiligen Beschluss des Berufungsgerichts noch weiter vorgetragen worden wäre, wird nicht durch Fakten nachvollziehbar konkretisiert. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers aufgrund der verfrühten Entscheidungsfindung ist damit nicht schlüssig dargetan.

bb) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs vom 4. Mai 2011 eine Wiedereinsetzung nicht rechtfertigte.

Das Wiedereinsetzungsgesuch ist lediglich wie folgt begründet:
"Die bewährte Rechtsanwaltsfachangestellte, Frau … M…, hat den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist leider versehentlich auf den 26.05.2011 statt auf den 26.04.2011 notiert."
Zur Glaubhaftmachung wird auf den Eintrag im Terminkalender und eine eidesstattliche Versicherung der Frau M. verwiesen. In letzterer führt Frau M. aus, es gehöre zu ihren Aufgaben, den Ablauf der Berufungsfrist sowie der Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß im Terminkalender einzutragen. In der vorliegenden Sache habe sie den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist versehentlich für den 26. Mai 2011 statt auf den 26. April 2011 eingetragen. Dies habe leider zur Folge gehabt, dass die Akte nicht rechtzeitig ihrem Vater, Herrn Rechtsanwalt M., vorgelegt worden sei, so dass die Berufungsbegründungsfrist verstrichen sei.

Mit Recht führt das Berufungsgericht aus, dass dem nicht zu entnehmen ist, ob und welche allgemeinen Anweisungen der Prozessbevollmächtigte des Klägers in Bezug auf das Notieren der Fristen und ihre Überwachung erteilt hat sowie ob und in welcher Weise er selbst eine Überprüfung vornimmt. Ferner vermisst das Berufungsgericht mit Recht Vortrag dazu, aus welchen Gründen es sich bei Frau M. um eine "bewährte" Angestellte handeln soll.

Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde reicht bei einem Wiedereinsetzungsgesuch wegen Versäumung einer Rechtsmittelbegründungsfrist der allgemeine Vortrag, einer bewährten Rechtsanwaltsfachangestellten sei ein Versehen unterlaufen, nicht aus. Weder lässt sich aus einem derart unsubstantiierten Vortrag der äußere Geschehensablauf, der zur Versäumung der Frist geführt hat, ausreichend nachvollziehen, wenn jede Information zur Organisation der Rechtsanwaltskanzlei fehlt, noch enthält der Begriff "bewährt" irgendeine brauchbare Information zur Prüfung der Verschuldensfrage (§ 233 ZPO) und der Zurechnungsfrage (§ 85 Abs. 2 ZPO).