Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 28.03.2011 - 12 U 59/10 - Zur Definition des Vorfahrtbereichs bei Straßeneinmündungen und Kreuzungen
KG Berlin v. 28.03.2011: Zur Definition des Vorfahrtbereichs bei Straßeneinmündungen und Kreuzungen
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 28.03.2011 - 12 U 59/10) hat entschieden:
- Der Vorfahrtsbereich besteht aus dem Einmündungsviereck und aus der Fahrbahnhälfte der untergeordneten Straße, in die der Vorfahrtsberechtigte bei seinem Abbiegevorgang einfährt. In diesem Bereich darf der Vorfahrtberechtigte grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtsrecht von dem Wartepflichtigen beachtet wird.
- Das Einmündungsviereck umfasst die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite. Lediglich bei rechtwinkligen Kreuzungen oder Einmündungen wird das Einmündungsviereck durch die Fluchtlinien der beiden Fahrbahnen begrenzt.
- Bei spitzwinkligen Einmündungen besteht das Einmündungsviereck zumindest aus dem Quadrat, welches sich aus den Fluchtlinien der Fahrbahnbegrenzung ergeben würde, wenn die Einmündung rechtwinklig wäre.
Siehe auch Kurve schneiden und Vorfahrtthemen
Gründe:
I.
Die Berufung war durch Beschluss zurückzuweisen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungs-gerichts nicht erfordert (§ 522 Absatz 2 Satz 1 ZPO).
Hinsichtlich der weiteren Begründung wird auf den Hinweis nach § 522 Absatz 2 Satz 2 ZPO vom 7. Februar 2011 verwiesen, in dem der Senat u.a. das Folgende ausgeführt hat:
“Zu Recht und mit zutreffender Begründung ist das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung von einer Vorfahrtsverletzung durch den Kläger ausgegangen.
1. Der Vorfahrtsbereich besteht aus dem Einmündungsviereck und aus der Fahrbahnhälfte der untergeordneten Straße, in die der Vorfahrtsberechtigte bei seinem Abbiegevorgang einfährt. In diesem Bereich darf der Vorfahrtberechtigte grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtsrecht von dem Wartepflichtigen beachtet wird. Das Einmündungsviereck umfasst die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite. Lediglich bei rechtwinkligen Kreuzungen oder Einmündungen wird das Einmündungsviereck durch die Fluchtlinien der beiden Fahrbahnen begrenzt.
Bei spitzwinkligen Einmündungen führt die vom Kläger vertretene Begrenzung des Einmündungsvierecks durch die Fluchtlinien der Straßen zu einer Verzerrung der wechselseitigen Pflichten der Verkehrsteilnehmer im Kreuzungsbereich. Vorliegend würde das Einmündungsviereck so zu einem spitzwinkligen Parallelogramm verzerrt, dass der Beklagte zu 1) als Linksabbieger gezwungen wäre, “nichtgeschützte” Fahrbahnteile zu befahren, um seinen Abbiegevorgang durchführen zu können. Dies kann nicht zutreffend sein. Auf die Frage, ob die vom Landgericht zitierte Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGHZ 56, 1) einschlägig ist, kommt es deshalb nicht an.
Bei spitzwinkligen Einmündungen besteht das Einmündungsviereck deshalb zumindest aus dem Quadrat, welches sich aus den Fluchtlinien der Fahrbahnbegrenzung ergeben würde, wenn die Einmündung rechtwinklig wäre.
Der Vorfahrtsbereich umfasst vorliegend deshalb jedenfalls den in der nachfolgenden Skizze ersichtlichen Bereich:
Aus dieser Skizze ergibt sich auch, dass der Kläger sich nicht nur mit der Front seines Fahrzeugs 0,8 m im Vorfahrtsbereich des Beklagten zu 1) befindet sondern auch mit der gesamten linken Seite seines Fahrzeugs.
2. Entgegen der Ansicht des Klägers kommt es bei der Bestimmung des Vorfahrtsbereichs nicht darauf an, ob die Sicht des Wartepflichtigen in Richtung des Vorfahrtsberechtigten beeinträchtigt war. Kann der Wartepflichtige die Kreuzung nicht einsehen, wenn er an der Begrenzung des Vorfahrtsbereichs anhält, so muss er sich, wie das Gesetz (§ 8 Absatz 2 StVO) dies für solche Fälle vorschreibt, von dort vorsichtig in die Kreuzung hineintasten. Dass der Kläger dieser Pflicht nachgekommen ist, hat er selbst nicht behauptet.
3. Die Haftungsverteilung 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Klägers ist nicht zu beanstanden.”
Der Senat sieht auch nach erneuter Beratung und unter Berücksichtigung des Schriftsatzes des Klägers vom 16. März 2011 keinen Anlass, davon abzuweichen. Die Argumente des Klägers vermochten den Senat nicht zu überzeugen.
Wie sich aus der oben wiedergegebenen Skizze ergibt, führt die vom Kläger erstinstanzlich vertretene Begrenzung des Einmündungsvierecks (durch die Fluchtlinien der beiden Bordsteinkanten gebildetes Parallelogramm) zu einer Verzerrung der wechselseitigen Pflichten der Verkehrsteilnehmer im Kreuzungsbereich. Entgegen der vom Kläger in seinem Schriftsatz vom 16. März 2011 aufgestellten Behauptung würde vorliegend das Einmündungsviereck so zu einem spitzwinkligen Parallelogramm verzerrt, dass der Beklagte zu 1) als Linksabbieger gezwungen wäre, “nichtgeschützte” Fahrbahnteile zu befahren, um seinen Abbiegevorgang durchführen zu können. Der Beklagte zu 1) war nämlich gemäß § 9 Absatz 1 StVO als Linksabbieger gehalten, sich bis zur Mitte der Straße einzuordnen.
Die Schnittpunkte der Bordsteinkanten kommen als Anknüpfungspunkte für das Einmündungsviereck nicht in Betracht, weil dieses Viereck hierdurch bei besonders spitzwinkligen Einmündungen zu weit in den Kreuzungsbereich hinein verschoben würde.
Zu bedenken ist auch, dass auch für einen Ortsunkundigen leicht erkennbar feststehen muss, ab welcher (gedachten) Linie er die Vorfahrt des von rechts kommenden zu beachten hat. Ein solcher ortsunkundiger Fahrer weiß aber nicht, in welchem Winkel die kreuzende Straße auf die von ihm befahrene Straße trifft. Er wird deshalb im Regelfall davon ausgehen dürfen, dass es sich um eine rechtwinklige Kreuzung handelt. Dann muss er sich aber auf das in der obigen Skizze wiedergegebenen Einmündungsviereck einstellen. Die Lage dieses Vierecks kann er leicht an Hand des Verlaufs der rechten Bordsteinkante der von ihm befahrenen Straße feststellen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch das Amtsgericht Tiergarten in dem sich gegen den Kläger richtenden Bußgeldverfahren von einer Vorfahrtsverletzung durch den Kläger ausgegangen ist.
Das Schneiden der Kurve durch den Beklagten zu 1) hat das Landgericht im Rahmen der Quotenbildung ausreichend berücksichtigt.
II.
Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung; die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts (§ 522 Absatz 2 Satz 1 ZPO). Der Senat konnte die Berufung durch Beschluss zurückweisen, da die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorliegen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Frage der Definition des Einmündungsvierecks für nicht rechtwinklige Kreuzungen war trotz der großen Zahl von Kreuzungsunfällen bisher – soweit ersichtlich – nicht Gegenstand der Rechtsprechung. Ganz offensichtlich tritt die vom Kläger aufgeworfene Frage nicht in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen auf. Weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Da es - soweit ersichtlich - keine in dieser Frage abweichenden Entscheidungen gibt, ist die Einheitlichkeit der Rechtsprechung nicht betroffen. Die Fortbildung des Rechts erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht, da die zu entscheidende Frage nicht das Bedürfnis für eine Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes indiziert.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Absatz 1 ZPO.
IV.
Der Streitwert für den zweiten Rechtszug auf wird auf 7.098,28 € festgesetzt.