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OLG Naumburg Urteil vom 09.06.2011 - 2 U 45/11 - Zu den Sorgfaltsanforderungen bei der Eigensicherung des Fahrgastes

OLG Naumburg v. 09.06.2011: Zu den Sorgfaltsanforderungen bei der Eigensicherung des Fahrgastes im öffentlichen Personennahverkehr


Das OLG Naumburg (Urteil vom 09.06.2011 - 2 U 45/11) hat entschieden:
  1. Zwar werden an die Eigensicherung des Fahrgastes des öffentlichen Personennahverkehrs hohe Sorgfaltanforderungen gestellt. Gleichwohl besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass jeder Sturz während der Fahrt auf eine schuldhafte Verletzung der grundsätzlichen Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist.

  2. Es stellt keine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht dar, wenn der Fahrgast nach dem Anfahren der Straßenbahn den Wagen zum Aufsuchen eines sicheren Sitzplatzes durchquert und sich dabei jeweils um festen Halt bemüht.

Siehe auch Fahrgaststurz und Nahverkehr


Gründe:

A.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schmerzensgeld und die Feststellung der Einstandspflicht für Schäden aus einem Unfallereignis vom 4. März 2010. Die Parteien streiten allein um die Frage, ob der Klägerin ein Mitverschulden an dem Unfall zur Last fällt.

Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen i.S.v. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird nach §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.


B.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig; insbesondere ist sie form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Das Landgericht hat zu Recht darauf erkannt, dass der Klägerin gegen die Beklagte ein Schadenersatzanspruch zu 100 % ihrer Schäden zusteht und insbesondere ein mitwirkendes Eigenverschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht festzustellen ist.

I.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schadenersatz wegen der Verletzung vertraglicher Pflichten aus § 280 Abs. 1 BGB.

Zwischen den Parteien des Rechtsstreits ist am Unfalltag konkludent ein Personenbeförderungsvertrag zustande gekommen, indem die Klägerin in die Straßenbahn der Linie 6 an der Haltestelle D. Platz in M. einstieg und ihren Fahrschein für eine Stadtfahrt entwertete. Die Beklagte hat die ihr im Rahmen dieses Vertrages obliegende Pflicht zur Vermeidung gefahrgeneigter Fahrmanöver verletzt. Der Führer der Straßenbahn, der Zeuge W., fuhr unmittelbar nach dem Einsteigen der Klägerin und ihrer zwei Begleiterinnen an, beschleunigte die Straßenbahn innerhalb von 20 Fahrmetern auf mehr als 20 km/h und führte an der etwa rechtwinkligen Linkskurve beim Abbiegen von der E. Allee in die G. Straße – nach Angaben der Beklagten wegen einer die Wartepflicht verletzenden entgegen kommenden Straßenbahn der Beklagten – eine Vollbremsung durch. Bei der Vollbremsung wurden ausweislich der Fahrdaten-Auswertung alle drei Bremssysteme zugleich eingesetzt; die Straßenbahn kam innerhalb von vier Fahrmetern zum Stillstand. Infolge der sehr intensiven Bremsung wirkte ein starker Ruckimpuls auf den Straßenbahnwagen und die Insassen. Hierdurch kam die Klägerin zu Fall und zog sich die im Urteil des Landgerichts beschriebenen Verletzungen zu, für welche die Parteien des Rechtsstreits im Falle einer 100-igen Haftung der Beklagten übereinstimmend ein Schmerzensgeld in Höhe von 6.000 € für angemessen und auch die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für künftige Schäden für begründet erachten.

II.

Die Klägerin muss sich im Rahmen der Haftung der Beklagten für ihre Unfallschäden vom 4. März 2010 kein Mitverschulden anrechnen lassen. Die Beklagte hat den Nachweis eines mitwirkenden Eigenverschuldens der Klägerin nicht erbracht.

1. Es oblag der Beklagten, die tatsächlichen Umstände für ein Eigenverschulden der Klägerin darzulegen und zu beweisen.

Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt, so ist dies nach § 254 Abs. 1 BGB insbesondere beim Umfang des Schadenersatzes zu berücksichtigen. Die Darlegungs- und Beweislast für ein Mitverschulden des Geschädigten trägt der Schädiger.

2. Zugunsten der Beklagten streitet keine tatsächliche Vermutung eines Eigenverschuldens der Klägerin.

a) Allerdings werden an die Eigensicherung eines Fahrgastes im Öffentlichen Personennahverkehr hohe Sorgfaltsanforderungen gestellt. Nach § 4 Abs. 3 S. 5 der Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Omnibusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BefBedV) und – gleich lautend – nach § 14 Abs. 3 Nr. 4 der Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr (BOKraft) ist jeder Fahrgast grundsätzlich verpflichtet, sich im Fahrzeug stets einen festen Halt zu verschaffen. In der Rechtsprechung ist hinsichtlich des Maßes dieser Eigensicherung anerkannt, dass ein Fahrgast sich selbst gegen typische Fahrzeugbewegungen, darunter auch verkehrsbedingte Anhaltemanöver, ausreichend sichern muss.

b) Im Falle eines Sturzes aufgrund eines typischen Fahrmanövers kann sich ein Fahrgast auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Wagenführer einer Straßenbahn oder eines Omnibusses etwa verpflichtet gewesen sei, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, ob alle Fahrgäste festen Halt gefunden haben (so BGH, Urteil v. 16.11.1971, VI ZR 69/70 – VersR 1972, 152; BGH, Urteil v. 01.12.1992, VI ZR 27/92 – VersR 1993, 240). Insoweit ist jedoch darauf zu verweisen, dass diese Rechtsprechung eine entsprechende Rücksichtnahme nicht ausschließt, insbesondere dann, wenn – wie hier – der Wagenführer den Straßenbahnwagen gut überschauen kann und an einer Haltestelle drei ältere Fahrgäste nur an der ersten, direkt hinter der Fahrerkabine befindlichen Tür einsteigen.

c) Trotz dieser hohen Sorgfaltsanforderungen besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass jeder Sturz eines Fahrgastes in einer Straßenbahn bzw. einem Omnibus zwingend auf eine Verletzung der grundsätzlichen Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist. Dieser Grundsatz erleidet verschiedene Ausnahmen, z. Bsp., wenn keine hinreichenden Möglichkeiten zur Eigensicherung vorhanden bzw. für den Fahrgast erreichbar sind (vgl. OLG München, Urteil v. 25.07.2008 und Verfügung v. 03.06.2008, 10 U 2966/08 – zitiert nach juris), wenn der Fahrgast beim gebotenen unverzüglichen Entwerten seines Fahrausweises zu Fall kommt (vgl. OLG Celle, Urteil v. 21.02.1974, 5 U 93/73 – VersR 1975, 1122; OLG Düsseldorf, Urteil v. 26.10.1998, 1 U 245/97 – VersR 2000, 71), wenn der Fahrgast seinen Sitzplatz bei Annäherung des Busses an die Ziel-Haltestelle verlässt (vgl. OLG Hamm, Urteil v. 27.05.1998, 13 U 29/98 – VersR 2000, 507) oder wenn sich der Sturz gerade beim Hinsetzen ereignet (vgl. OLG Koblenz, Urteil v. 14.08.2000, 12 U 895/99 – VRS 99, 245 <2000>). Es ist vielmehr stets auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen und auf die konkrete Situation des einzelnen Fahrgastes (vgl. OLG München, Urteil v. 02.03.2006, 24 U 617/05 – NJW-RR 2006, 971).

d) Dies gilt hier umso mehr, als das unfallverursachende Fahrmanöver des Zeugen W. – eine Vollbremsung mitten in einer Beschleunigungsphase – gerade keine typische Fahrzeugbewegung mehr darstellte, sondern sowohl nach dessen eigener Zeugenaussage als auch nach den Schilderungen der Klägerin in ihrer persönlichen Anhörung und der Zeugin B. sowie nach den Erkenntnissen aus der Fahrdaten-Auswertung ein höchst atypischer Vorgang im Rahmen einer Personenbeförderung war. Im Sinne einer vorausschauenden Fahrweise war das beschleunigte Zufahren auf eine enge Kurve trotz erkennbaren, wenn auch – hier unterstellt – wartepflichtigen Gegenverkehrs kein verkehrstypisches Fahrmanöver im Öffentlichen Personennahverkehr.

3. Eine Pflichtverletzung der Klägerin ist im Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erwiesen.

a) Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Klägerin nicht schon dadurch schuldhaft gegen ihre Verpflichtung zur Eigensicherung verstoßen, dass sie bei Anfahren der Straßenbahn nicht sofort im Eingangsbereich der Straßenbahn, d.h. an der ersten Tür, an der ersten Haltemöglichkeit stehen geblieben ist und für die Suche nach einem Sitzplatz auf den nächsten Halt der Straßenbahn gewartet hat. Insoweit kommt es nicht entscheidend darauf an, inwieweit dieses Stehenbleiben zu einem totalen Verstellen des Ein- und Ausstiegs geführt hätte oder nicht. Es entspricht der Verpflichtung zur Sicherung eines festen Halts, dass die damals 68-jährige Klägerin bestrebt war, möglichst einen Sitzplatz aufzusuchen, weil der Sitzplatz den sichersten Halt während der Fahrt versprach. Darüber hinaus besteht nach § 14 Abs. 3 Nr. 3 BOKraft für jeden Fahrgast gerade auch die Verpflichtung, Durchgänge sowie Ein- und Ausstiege freizuhalten. Dieser Pflicht ist die Klägerin nachgekommen.

b) Unstreitig war es der Klägerin nicht möglich, unmittelbar im Bereich ihres Einstiegs einen – sicheren Halt versprechenden – Sitzplatz einzunehmen. Im Eingangsbereich waren alle Sitzplätze besetzt, wie sich auch aus dem Verhalten der Zeugin B. ergibt, die vor der Klägerin eingestiegen war und ebenfalls zur Suche eines Sitzplatzes durch den Straßenbahnwagen ging.

c) Die Beklagte hat nicht bewiesen, dass sich die Klägerin bei ihrer Fortbewegung durch den Straßenbahnwagen mit dem Ziel, die im hinteren Bereich des Wagens freien Sitzplätze zu erreichen, nicht im Rahmen der objektiv gegebenen Möglichkeiten festgehalten hat.

aa) Im Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass sich der Sturz der Klägerin im Bereich der zweiten, besonders breiten Tür bei Überquerung des Kinderwagen-Stellplatzes ereignet hat. In diesem Übergangsbereich hatte die Klägerin objektiv keine Gelegenheit, sich festzuhalten. Selbst nach der letzten Haltemöglichkeit – der Vertikalstange an der in Fahrtrichtung vorderen Begrenzung des Kinderwagen-Stellplatzes – wäre die nächste Haltemöglichkeit – die Vertikalstange an der hinteren Begrenzung dieses Stellplatzes – nicht unmittelbar zu erreichen gewesen, sondern erst nach einem oder mehreren Zwischenschritten ohne Haltemöglichkeit.

bb) Die Klägerin war nicht gehalten, ihren Gang zu einem freien Sitzplatz an dieser Stelle abzubrechen. Zwar geht auch der Senat davon aus, dass sich ein Fahrgast bei der Fortbewegung durch das Fahrzeug – den Straßenbahnwagen oder einen Omnibus – grundsätzlich festzuhalten hat, d.h. dass er sich von einem festen Halt zum anderen „hangelt“. Dieser Fortbewegungsart ist es jedoch immanent, dass nicht zu jedem Zeitpunkt ein fester Halt besteht. Sowohl die Fußbewegungen als auch die Handbewegungen führen zu Zuständen relativer Instabilität, ohne dass hierin bereits ein schuldhaft pflichtwidriges Verhalten des Fahrgastes zu sehen ist. Seinem legitimen Bestreben zum unverzüglichen Aufsuchen eines sicheren Sitzplatzes kann der Fahrgast nur in der beschriebenen Weise nachkommen. Das trifft hier auch auf die Klägerin zu.

cc) Die Beklagte hat auch nicht bewiesen, dass sich die Klägerin leichtfertig ohne Suche nach ausreichendem Halt durch den Straßenbahnwagen fortbewegt hat.

(1) Die Klägerin selbst hat in ihrer persönlichen Anhörung durch das Landgericht angegeben, dass sie auf dem Wege zu den freien Sitzplätzen hinter der zweiten Eingangstür des Straßenbahnwagens unterwegs gewesen sei und dass sie sich jeweils festgehalten habe, soweit dies möglich gewesen sei. Unmittelbar vor dem Sturz habe sie sich an einem Haltegriff am Rande eines Zweisitzers festgehalten. Diese Angaben stehen – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht im Widerspruch zu der (undatierten) handschriftlichen Unfallschilderung der Klägerin gegenüber der Polizei, welche die Beklagte als Anlage 3 der Berufungsbegründung vorgelegt hat. Die spätere, vor dem Landgericht abgegebene Darstellung der Unfallentwicklung ist lediglich detaillierter und hat auch die im Rahmen des Rechtsstreits besonders interessierenden tatsächlichen Umstände zum Gegenstand.

(2) Die Angaben der Klägerin sind nicht widerlegt durch die Aussage der Zeugin B. . Diese Zeugin lief im Straßenbahnwagen vor der Klägerin und konnte dem gemäß nicht selbst wahrnehmen, ob sich die Klägerin festgehalten hat oder nicht. Die Zeugin hat darüber hinaus lediglich angegeben, dass das durch die Vollbremsung verursachte Rucken derart heftig gewesen sei, dass sie selbst auch gestürzt wäre, wenn sie sich in diesem Moment nur mit einer Hand festgehalten hätte.

(3) Die Angaben der Zeugen W. und C. sind letztlich unergiebig. Beide haben die Klägerin erst nach dem Sturz gesehen. Beide Zeugen haben auch nur mit der Zeugin B. gesprochen, die nach ihren Angaben vor dem Landgericht gerade keine eigenen Wahrnehmungen zum Verhalten der Klägerin gemacht hatte. Der Zeuge W. hat die spontane Aussage der Zeugin B. unmittelbar nach dem Unfall der Klägerin so wiedergegeben, dass sie – die Klägerin – sich nicht habe festhalten können. Diese Auskunft ist mehrdeutig und spricht eher dafür, dass sie eine (miss-)erfolgsbezogene, auf den Zeitpunkt des Sturzes ausgerichtete Information darstellen sollte. Die Aussage des Zeugen C., der später mit der Zeugin B. gesprochen hatte, hatte keinen über diesen Aussagewert hinausgehenden Inhalt.

(4) Andere Beweismittel stehen der Beklagten für ihre Behauptung eines sorglosen Verhaltens der Klägerin nicht zur Verfügung, wie sie im Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt hat.

d) Die von der Beklagten angeführten Entscheidungen anderer Gerichte betrafen – ungeachtet der Frage, ob der Senat sich diesen Wertungen anschließen könnte – jedenfalls nicht vergleichbare Sachverhalte.

Dem Urteil des Kammergerichts Berlin vom 1. März 2010 (12 U 95/09 – MDR 2010, 1111, hier zitiert nach juris) lag zugrunde, dass der später sturzgeschädigte Fahrgast seinen sicheren Sitzplatz aus Gründen aufgab, die das Kammergericht zwar als „an sich“ höchst lobenswerte Hilfsbereitschaft, jedoch gleichwohl als nicht zu rechtfertigende Leichtfertigkeit bewertet hat. Vorliegend hatte die Klägerin einen sicheren Sitzplatz aber noch nicht erreicht.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat die Beklagte auch nicht nachgewiesen, dass sich die Klägerin etwa „ohne jedes Bestreben, einen Halt zu suchen“, fortbewegt hätte (so KG Berlin, Urteil v. 28.10.2010, 12 U 62/10 – hier zitiert nach juris).


C.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nr. 8 EGZPO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1, 713 sowie 543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.

Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.