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OLG Naumburg Urteil vom 16.09.2011 - 10 U 3/11 - Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht und zur Überprüfung des Schmerzensgeldes in der Berufungsinstanz
OLG Naumburg v. 16.09.2011: Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht und zur Überprüfung des Schmerzensgeldes in der Berufungsinstanz
Das OLG Naumburg (Urteil vom 16.09.2011 - 10 U 3/11) hat entschieden:
- Ist durch Straßenbauarbeiten zwischen einem Gullyeinlauf und dem normalen Straßenbelag eine ziemlich plötzlich abfallende Kante in Höhe von 15 bis 20 cm entstanden, verletzt dies die Verkehrssicherungspflicht.
- Sind dem Geschädigten als ortskundigem Verkehrsteilnehmer die Bauarbeiten bekannt und konnte er aufgrund von Dunkelheit nicht genau sehen, wo er hintrat, begründet das ein hälftiges Mitverschulden.
- Hält das Berufungsgericht die erstinstanzliche Schmerzensgeldbemessung nicht für überzeugend, so darf und muss es nach eigenem Ermessen ein Schmerzensgeld festsetzen. Dabei ist bei mitwirkendem Verschulden des Verletzten nicht die entsprechende Quote des angemessenen Schmerzensgeldes zu bilden. Das Mitverschulden ist nur ein Bemessungsfaktor neben anderen.
Siehe auch Verkehrssicherungspflicht und Straßenverhältnisse und Verkehrssicherung
Gründe:
I.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen, §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO i V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
II.
1. Die Berufung ist zulässig. Die Klägerin hat ihre gemäß § 511 ZPO statthafte Berufung form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet, §§ 517, 519, 520 Abs. 2 und 3 ZPO.
2. Die Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg und führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils dahin, dass die Beklagte verurteilt wird, der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.000,00 € nebst Zinsen zu zahlen. In dieser Höhe steht der Klägerin ein Schmerzensgeld nach Art. 34 Satz 1 GG i. V. m. den §§ 839 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, §§ 9, 10 StrG LSA zu.
a) Zutreffend hat das Landgericht entschieden, dass die Beklagte als Trägerin der Straßenbaulast eine ihr obliegende drittgerichtete Amtspflicht verletzt hat, indem sie den Höhenunterschied zwischen dem Gullyeinlauf und dem normalen Straßenbelag weder beseitigt noch vor ihm gewarnt hat.
aa) Unstreitig ist die Beklagte für den Unfallort verkehrssicherungspflichtig. Die Beklagte hat die Straße A. in St., dazu gehört auch der Wassereinlauf (Gully), nach § 9 StrG LSA in einem verkehrssicherem Zustand zu halten bzw. falls dies nicht möglich sein sollte, vor Gefahren angemessen zu warnen.
bb) Gegen diese Pflicht hat die Beklagte verstoßen. Denn sie hat im Jahr 2006 den Fahrbahnbelag erneuert und einen Regenentwässerungsschacht gesetzt, wodurch zwischen dem Gullyeinlauf und dem normalen Straßenbelag eine ziemlich plötzlich abfallende Kante in Höhe von 15 - 20 cm entstanden ist. Dies ist ein Zustand, der nicht den normalen Verkehrsbedürfnissen entspricht.
cc) Die Amtspflicht oblag der Beklagten auch gegenüber der Klägerin, weil diese zu den zu erwartenden Straßennutzern zählte.
dd) Tatsachen, die eine Haftung der Beklagten nach § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ausschließen könnten, sind nicht ersichtlich.
b) Die Amtspflichtverletzung der Beklagten war auch für den Sturz der Klägerin ursächlich. Nach der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin am 21. September 2006 gegen 20:15 Uhr an eben dieser Stelle aufgetreten, umgeknickt und sich verletzt hat, als sie etwas aus dem Kofferraum ihres Autos, welches vor dem Gully stand, holen wollte.
c) Zu Recht hat das Landgericht allerdings ein hälftiges Mitverschulden der Klägerin an dem Unfall gemäß § 254 Abs. 1 BGB angenommen, das bei der Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes zu berücksichtigen ist. Der Klägerin waren als ortskundige Verkehrsteilnehmerin die Bauarbeiten der Beklagten bekannt. Schon nach ihrem eigenen Vortrag hatte die Klägerin aufgrund der Dunkelheit nicht genau gesehen, wo sie hintrat. Dies hätte sie veranlassen müssen, den Bereich als gefährlich einzustufen und besonders vorsichtig zu sein.
d) Nach der erstinstanzlichen Beweisaufnahme - insbesondere aufgrund des schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dr. med. J. P. W. sowie den vorgelegten Urkunden - steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin durch den Sturz eine Fraktur ihres Mittelfußknochens, eine knöcherne Absprengung im Bereich des Mittelfußknochens sowie ein Supinationstrauma im Bereich ihres linken oberen Sprunggelenks erlitten hat. Dabei ist ihre Beweglichkeit im Bereich des linken Sprunggelenkes gegenüber dem rechten immer noch deutlich eingeschränkt. So kann sie den rechten Fuß bis 20° nach oben ziehen, den linken dagegen nur bis 5°. Die Rotation (Pronation/Supination) links ist gegenüber rechts ebenfalls deutlich eingeschränkt – links 20/0/45°, rechts 40/0/80°. Ferner ist ihr linkes Sprunggelenk deutlich dicker als das rechte. Dies weist auf eine chronische Schwellneigung hin.
Aus diesem Grund wird die Klägerin nicht mehr in der Lage sein längere Strecken zu laufen (Joggen bzw. Walken). Sie wird für immer Beschwerden im Bereich des Mittelfußes bzw. der Fußwurzelknochen haben.
Ferner musste die Klägerin wegen ihrer Verletzungen in der Zeit vom 27. September 2006 bis zum 02. Oktober 2006 im J. Krankenhaus in St. stationär behandelt werden.
e) Bei der Frage der Höhe des Schmerzengeldes hält der Senat einen Betrag in Höhe von 2.000 € für angemessen.
aa) Dabei darf es der Senat nicht dabei belassen, zu prüfen, ob die erstinstanzliche Bemessung - was im hier vorliegenden Fall zu verneinen ist - Rechtsfehler enthält. Die erstinstanzliche Schmerzengeldbemessung ist vielmehr im Berufungsrechtszug auf der Grundlage der nach § 529 ZPO maßgeblichen Tatsachen gemäß §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO in vollem Umfang auch darauf zu überprüfen, ob sie überzeugt. Hält das Berufungsgericht sie für zwar vertretbar, letztlich aber bei Berücksichtigung aller Gesichtspunkte nicht für sachlich überzeugend, so darf und muss es nach eigenem Ermessen einen eigenen, dem Einzelfall angemessenen Schmerzensgeldbetrag finden (siehe BGH, NJW 2006, 1589).
bb) Im Rahmen seiner uneingeschränkten vollen Prüfungskompetenz erachtet der Senat das in erster Instanz festgesetzte Schmerzensgeld als zu gering. Das Landgericht hat zwar alle in die Bemessung einzubeziehenden Faktoren gesehen, diese jedoch im Ergebnis nicht völlig überzeugend bewertet. Dabei folgt der Senat noch dem Ausgangspunkt des Landgerichts, das ohne das Mitverschulden der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 € für angemessen erachtete. Das fügt sich in den Rahmen der durch Rechtsprechung zu vergleichbaren Verletzungen zuerkannten Schmerzensgeldbeträge ein (vgl. beispielsweise die in Hacks- Ring- Böhm, 29. Auflage, Schmerzensgeldbeträge unter lfde. Nr. 572 zitierte Entscheidung des Landgerichts Bonn vom 21. Oktober 1994 - 18 O 3/94 - 2.500 € Schmerzensgeld bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht - Sturz in einen Schacht).
Für die eigene Ermessensentscheidung des Senats, die im Ergebnis zu einer Erhöhung des vom Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldes führt, ist aber ausschlaggebend, dass bei mitwirkendem Verschulden des Verletzten grundsätzlich nicht - wie es das Landgericht getan hat - die entsprechende Quote des angemessenen Schmerzensgeldes, sondern ein Schmerzensgeld zuzubilligen ist, das unter Berücksichtigung des Mithaftungsanteils angemessen ist. Das Mitverschulden ist dabei nur ein Bemessungsfaktor (siehe BGH, VersR 1970, 624 und OLG Karlsruhe, VersR 1988, 59, 60).
Der Schmerzensgeldanspruch ist ein Schadensersatz eigener Art mit doppelter Funktion. Er soll dem Geschädigten einen angemessen Ausgleich für die Schmerzen und die entgangene Lebensfreude bieten und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung für das schuldet, was er ihm angetan hat. Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes sind alle Umstände zu berücksichtigen. Insbesondere ist das Maß der Lebensbeeinträchtigung (Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen) zu beachten (siehe OLG Karlsruhe, VersR 1988, 59, 60).
Hier kommt die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes voll zum Tragen. Die Klägerin musste wegen der eingetretenen Verletzungen mehrere Tage stationär behandelt werden. Sie leidet noch immer unter den Verletzungsfolgen. Der Klägerin kann durch die Zubilligung von Schmerzensgeld dafür eine Genugtuung verschafft werden. Dies hat auch bei Fahrlässigkeitstaten Bedeutung.
Unter Berücksichtigung der schweren Verletzungen der Klägerin und der eingetretenen Dauerfolgen erscheint dem Senat das Mitverschulden der Klägerin hier nicht so gravierend, dass ein Schmerzensgeld unter 2.000 € angemessen wäre.
f) Die Zinsentscheidung folgt aus §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 281 Abs. 3 Satz 2 ZPO.
IV.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
V.
Revisionszulassungsgründe i. S. d. § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Der Senat hat eine durch den hier vorliegenden Sachverhalt geprägte Einzelfallentscheidung getroffen, ohne dabei von der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH abzuweichen oder sich im Widerspruch zu der Rechtsprechung anderer Obergerichte zu setzen.
VI.
Die Festsetzung des Berufungsstreitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 GKG, 3 ZPO.
Beschluss
Der Streitwert wird für den Berufungsrechtszug auf 1.500,00 Euro festgesetzt.