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BGH Beschluss vom 08.05.2012 - VI ZB 1/11 und VI ZB 2/11 - Zu den Pflichten des Prozessbevollmächtigen bei Zweifeln über das Erreichen der Beschwerdesumme

BGH v. 08.05.2012: Zu den Pflichten des Prozessbevollmächtigen bei Zweifeln über das Erreichen der Beschwerdesumme


Der BGH (Beschluss vom 08.05.2012 - VI ZB 1/11 und VI ZB 2/11) hat entschieden:
Bestehen Zweifel, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € übersteigt, hat der Rechtsanwalt den für seinen Mandanten sichersten Weg zu beschreiten, selbst wenn dies zu der Notwendigkeit führt, zwei Rechtsbehelfe (hier: Berufung und Anhörungsrüge) parallel anhängig zu machen.


Siehe auch Anwaltshaftung / Anwaltsverschulden und Streitwert


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die beklagte Haftpflichtversicherung wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls in Anspruch. Am 24. September 2010 ist ihm das Urteil des Amtsgerichts zugestellt worden, durch das seine Klage teilweise abgewiesen worden ist. Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 8. Oktober 2010, beim Amtsgericht eingegangen am selben Tag, hat er unter anderem Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO erhoben, um eine Fortführung des Verfahrens und Entscheidung auch über den abgewiesenen Teil der Klageforderung in seinem Sinne zu erreichen. Dabei hat er die Auffassung vertreten, dass das Rechtsmittel der Berufung nicht gegeben sei, weil die Berufungssumme von 600 € unterschritten sei. Das Amtsgericht hat die Rüge durch Beschluss vom 27. Oktober 2010 unter Hinweis darauf zurückgewiesen, dass die Beschwerdesumme 767,98 € betrage. Mit Schriftsatz vom 12. November 2010, beim Landgericht eingegangen am selben Tag, hat der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag mit dem angefochtenen Beschluss vom 6. Dezember 2010 zurückgewiesen und die Berufung nach Anhörung des Klägers mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. Dezember 2010 als unzulässig verworfen. Mit den Rechtsbeschwerden begehrt der Kläger Aufhebung dieser Entscheidungen und Gewährung der beantragten Wiedereinsetzung.


II.

Die Rechtsbeschwerden sind gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Die Rechtsbeschwerden sind aber nicht zulässig, weil es an einem Zulassungsgrund gemäß § 574 Abs. 2 ZPO fehlt. Insbesondere ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO) nicht erforderlich. Das Berufungsgericht hat das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerden nicht verletzt.

1. Die Rechtsbeschwerden können nicht auf einen Verstoß gegen das Begründungserfordernis (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO) gestützt werden. Zu Unrecht beanstanden die Rechtsbeschwerden, dass die angefochtenen Beschlüsse nicht ausreichend mit Gründen versehen seien. Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben und den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 12. April 2011 - VI ZB 31/10, VersR 2011, 1199 Rn. 8 mwN). Eine Sachdarstellung ist jedoch ausnahmsweise entbehrlich, wenn sich der maßgebliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel mit noch hinreichender Deutlichkeit aus den Beschlussgründen ergeben (vgl. Senatsbeschlüsse vom 25. April 2007 - VI ZB 66/06, VersR 2008, 273 Rn. 3; vom 8. Mai 2007 - VI ZB 74/06, VersR 2008, 139 Rn. 4 und vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, VersR 2008, 1374 Rn. 4). Im vorliegenden Fall enthält der angefochtene Beschluss vom 6. Dezember 2010 eine Darstellung des Prozessverlaufs mit den für die Fristberechnung maßgeblichen Daten; die Beschlussgründe lassen das Rechtsschutzziel des Klägers und die für die Berechnung des Wertes des Beschwerdegegenstandes entscheidende Schadensposition erkennen, so dass für das Rechtsbeschwerdegericht in ausreichendem Maße ersichtlich ist, von welchem Sachverhalt das Berufungsgericht hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung ausgegangen ist. Der angefochtene Beschluss vom 20. Dezember 2010 enthält zwar keine eigene Sachverhaltsschilderung. In der Zusammenschau mit dem vorangegangenen Beschluss vom 6. Dezember 2010, in dem auf die bevorstehende Verwerfung der Berufung hingewiesen und diesbezüglich rechtliches Gehör gewährt worden ist, wird aber hinreichend deutlich, dass es sich um denselben Sachverhalt handelt; eine Wiederholung der entsprechenden Ausführungen war deshalb nicht veranlasst.

2. Die angefochtenen Beschlüsse leiden auch sonst nicht an zulässigkeitsbegründenden Rechtsfehlern.

Das Berufungsgericht hat dem Kläger die begehrte Wiedereinsetzung im Ergebnis mit Recht versagt und dementsprechend die Berufung mit Recht verworfen. Es ist dabei zutreffend davon ausgegangen, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes im Streitfall 600 € überstieg, deshalb die Berufung nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO das zulässige Rechtsmittel war und der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Einhaltung der Berufungsfrist des § 517 ZPO nicht ohne Verschulden im Sinne des § 233 ZPO versäumt hat.

a) Die sogenannte Erwachsenheitssumme (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) war erreicht. Die vom Kläger weiterverfolgte restliche Hauptforderung betrug entsprechend der Höhe des in erster Instanz abgewiesenen Teils seiner Klage 575,91 €. Darüber hinaus ist dem - ebenfalls abgewiesenen - Freistellungsantrag hinsichtlich der Rechtsanwaltsgebühren, die durch die Einholung einer Deckungszusage gegenüber der Rechtsschutzversicherung entstanden, ein selbständiger Wert beizumessen.

Das hängt nicht davon ab, ob dieser Freistellungsanspruch als selbständige Forderung (vgl. AG Lebach, Urteil vom 4. August 2010 - 3 B C 144/10, juris Rn. 41 - insoweit in SP 2011, 29 und 123 nicht abgedruckt) oder als - grundsätzlich nicht streitwerterhöhende - Nebenforderung im Sinne des § 4 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO (vgl. LG Nürnberg-Fürth, NZV 2012, 140, 142; LG Berlin, Urteil vom 18. Juli 2011 - 43 S 41/11, juris Rn. 97; AG Karlsruhe, AGS 2009, 355, 356; Lensing, AnwBl 2010, 688, 689; Tomson, VersR 2010, 1428, 1429) anzusehen ist. Denn eine Nebenforderung wird zur Hauptforderung, sobald und soweit die Hauptforderung nicht mehr Prozessgegenstand ist, weil die Nebenforderung sich in der sie bedingenden Forderung "emanzipiert" hat und es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 4. Dezember 2007 - VI ZB 73/06 VersR 2008, 557 Rn. 8 und vom 17. Februar 2009 - VI ZB 60/07 VersR 2009, 806 Rn. 6). So liegt es auch im Streitfall. Das Amtsgericht hat dem Kläger 1.353,38 € zugesprochen. Dieser Teil der Hauptforderung ist nicht mehr Prozessgegenstand. Das hat dazu geführt, dass der hierauf bezogene Teil des vorgenannten Freistellungsanspruchs - wenn er denn als Nebenforderung anzusehen gewesen wäre - zur Hauptforderung wurde. Wie die Rechtsbeschwerden selbst geltend machen, erhöhte sich der Wert des Beschwerdegegenstandes dadurch, dass zu dem abgewiesenen Teil des Zahlungsanspruchs (575,91 €) noch der Wert des verselbständigten Teils des Freistellungsanspruchs hinzuzurechnen war, auf mehr als 600 €. Für den Kläger war mithin die Berufung eröffnet.

b) Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte Anlass, gegen das amtsgerichtliche Urteil - jedenfalls auch - Berufung einzulegen.

Die Zulässigkeit der Berufung konnte hier nur deshalb in Frage stehen, weil die Erwachsenheitssumme (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) nicht hätte erreicht sein können. Aus der in dem Urteil des Amtsgerichts erfolgten Festsetzung des Streitwertes ergab sich aber für den Prozessbevollmächtigten des Klägers, dass der Kläger in Höhe von mehr als 600 € beschwert war. Denn das Amtsgericht hatte neben dem Wert für den Zahlungsanspruch (und dem für den Feststellungsantrag) einen eigenen Wert für den Anspruch auf Freistellung von den durch die Deckungsanfrage verursachten Anwaltsgebühren festgesetzt (148,75 €). Bereits aus diesem Grund musste der Prozessbevollmächtigte des Klägers in Betracht ziehen, dass nicht die Anhörungsrüge sondern die Berufung das zulässige Rechtsmittel sein könnte und dass er, wenn er allein die Anhörungsrüge erheben würde, Gefahr laufen würde, die Berufungsfrist zu versäumen.

Zwar hat das Berufungsgericht - was hier auch geschehen ist - den Wert des Beschwerdegegenstandes nach eigenem freiem Ermessen ohne Bindung an einen für die erste Instanz festgesetzten Streitwert zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 1987 - IVb ZB 124/87, NJW-RR 1988, 836, 837; vom 25. September 1991 - XII ZB 61/91, FamRZ 1992, 169 f.; Urteile vom 20. Oktober 1997 - II ZR 334/96, NJW-RR 1998, 573; vom 24. April 1998 - V ZR 225/97, NJW 1998, 2368; Beschluss vom 9. Juli 2004 - V ZB 6/04, NJW-RR 2005, 219). Deshalb darf sich der Rechtsanwalt bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Rechtsmittels nicht allein an der Streitwertfestsetzung durch das erstinstanzliche Gericht orientieren. Ergibt sich daraus aber, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines anderen Rechtsbehelfs als des von dem Prozessbevollmächtigten ins Auge gefassten - im Streitfall die Berufung statt der Anhörungsrüge - erfüllt sein könnten, hat er jedenfalls auch diesen anderen Rechtsbehelf zu ergreifen. Denn der Rechtsanwalt hat im Interesse seines Mandanten den sichersten Weg zu gehen (vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 1992 - V ZB 37/92, WM 1993, 77 = juris Rn. 4 und Beschluss vom 3. November 2010 - XII ZB 197/10, NJW 2011, 386 Rn. 19, jeweils mwN). Besteht Unsicherheit, welcher Rechtsbehelf zulässig ist, hat der Rechtsanwalt jeden ernsthaft in Betracht zu ziehenden Rechtsbehelf zu ergreifen (vgl. BVerfG NJW 2003, 575 und NJW 2008, 2167; BGH, Beschluss vom 3. November 2010 aaO Rn. 20; Musielak/Grandel, ZPO 9. Aufl. 2012 § 233 Rn. 44). Der Prozessbevollmächtigte des Klägers handelte mithin fahrlässig (§§ 233, 85 Abs. 2 ZPO), indem er nicht - wie nach der Streitwertfestsetzung durch das Amtsgericht naheliegend - Berufung einlegte; die Berufung hätte er zumindest parallel zu der von ihm erhobenen Anhörungsrüge einlegen müssen.

c) Im Übrigen hätte - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerden - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers die Rechtslage bezüglich der (teilweisen) Verselbständigung eines ursprünglich als Nebenforderung geltend gemachten Anspruchs auch bereits im hier maßgeblichen Zeitraum September/Oktober 2010 bekannt sein müssen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind Zinsen aus einem nicht oder nicht mehr im Streit stehenden Hauptanspruch nicht Nebenforderungen im Sinne des § 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO ohne Rücksicht darauf, ob ein anderer Teil des Hauptanspruchs noch anhängig ist (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2007 - VI ZB 73/06, VersR 2008, 557 Rn. 7; BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1957 - VII ZR 135/57, BGHZ 26, 174, 176 ff.; Urteil vom 24. März 1994 - VII ZR 146/93, NJW 1994, 1869, 1870). Der Senat hat - wie schon dargelegt - bereits vor Erhebung der Klage in diesem Rechtsstreit entschieden, dass die Nebenforderung zur Hauptforderung wird, sobald und soweit die Hauptforderung nicht mehr Prozessgegenstand ist, weil die Nebenforderung sich von der sie bedingenden Forderung "emanzipiert" hat und es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (Senatsbeschlüsse vom 4. Dezember 2007 - VI ZB 73/06, aaO Rn. 8; vom 17. Februar 2009 - VI ZB 60/07, aaO Rn. 6). Da die genannten höchstrichterlichen Entscheidungen sämtlich bis 2009 veröffentlicht und überdies in den im Jahre 2010 aktuellen Auflagen der gängigen Kommentare zur Zivilprozessordnung zitiert waren (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 68. Aufl., § 4 Rn. 11; MünchKommZPO/Wöstmann, 3. Aufl., § 4 Rn. 30; Musielak/Heinrich, ZPO, 7. Aufl., § 4 Rn. 17; Gehle in Prütting/Gehrlein, ZPO, 2. Aufl., § 4 Rn. 16; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 31. Aufl., § 4 Rn. 9; Zöller/Herget, ZPO, 28. Aufl., § 4 Rn. 13), gereicht es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zum Verschulden, diesen Punkt bei der Prüfung der Zulässigkeit der Berufung nicht hinreichend beachtet und die Rechtslage im Hinblick auf die Höhe der Beschwer deshalb falsch eingeschätzt zu haben.

Da die anwaltlich verschuldete Versäumung der Berufungsfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließt, hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers zu Recht verworfen.