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BGH Beschluss vom 05.06.2012 - VI ZB 76/11 - Zur Pflicht des Rechtsanwalts zur eigenverantwortlichen Prüfung der richtigen Notierung des Endes einer Frist

BGH v. 05.06.2012: Zur Pflicht des Rechtsanwalts zur eigenverantwortlichen Prüfung der richtigen Notierung des Endes einer Frist und zum stillschweigenden Wiedereinsetzungsantrag


Der BGH (Beschluss vom 05.06.2012 - VI ZB 76/11) hat entschieden:
  1. Der Rechtsanwalt muss sich davon überzeugen, dass ihm am Tag des notierten Fristablaufs noch Zeit für die Anfertigung der Rechtsmittelbegründung oder für einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist verbleibt, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird.

  2. Ein stillschweigender Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann dann nicht angenommen werden, wenn die fristgebundene Prozesshandlung in der irrigen Annahme erbracht wird, die Frist sei noch nicht abgelaufen.

Siehe auch Fristenkontrolle und Wiedereinsetzung


Gründe:

I.

Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall. Das Urteil des Amtsgerichts, mit dem die Klage abgewiesen worden ist, ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 15. April 2011 zugestellt worden. Er hat am 16. Mai 2011, einem Montag, Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 16. Juni 2011 hat er beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um zwei Wochen zu verlängern. Dem Antrag hat das Berufungsgericht stattgegeben. Mit Verfügung vom 5. Juli 2011 hat das Berufungsgericht die Berufungsbegründungsfrist antragsgemäß ein weiteres Mal bis zum 14. Juli 2011 verlängert. Mit Schriftsatz vom 14. Juli 2011, eingegangen beim Berufungsgericht am selben Tag, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Berufung begründet. Das Berufungsgericht hat mit Verfügung vom 27. September 2011 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hingewiesen, dass die Berufungsbegründungsfrist am 15. Juni 2011 abgelaufen ist und deshalb am 16. Juni 2011 nicht mehr verlängert werden konnte. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2011 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen.

Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde, mit der die Klägerin die Aufhebung des Beschlusses und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist begehrt.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist jedoch nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen, nicht erfüllt sind.

1. Der angefochtene Beschluss begegnet allerdings Bedenken, weil er keine Darstellung des Sachverhalts enthält, aufgrund deren eine rechtliche Überprüfung ohne weiteres möglich wäre. Es handelt sich um einen Beschluss, der von Gesetzes wegen mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden kann (§ 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben und den Streitgegenstand sowie die Anträge der Parteien in beiden Instanzen erkennen lassen; andernfalls sind sie nicht mit den erforderlichen gesetzmäßigen Gründen versehen (Senatsbeschlüsse vom 20. Juni 2006 - VI ZB 75/05, VersR 2006, 1423, 1424 und vom 22. Januar 2008 - VI ZB 46/07, VersR 2008, 1374 Rn. 4; BGH, Beschlüsse vom 20. Juni 2002 - IX ZB 56/01, VersR 2003, 926; vom 12. Juli 2004 - II ZB 3/03, NJW-RR 2005, 78 und vom 7. April 2005 - IX ZB 63/03, BGH-Report 2005, 1000). Das Fehlen einer Sachdarstellung kann hier nur deshalb ausnahmsweise hingenommen werden, weil sich die prozessualen Vorgänge, auf die es alleine ankommt, gerade noch mit hinreichender Deutlichkeit aus den Beschlussgründen ermitteln lassen.

2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO) keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin weder in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Zwar darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 5. November 2002 - VI ZB 40/02, NJW 2003, 437; vom 12. April 2011 - VI ZB 6/10, NJW 2011, 2051 Rn. 5 und vom 17. Januar 2012 - VI ZB 11/11, NJW-RR 2012, 427 Rn. 6). Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.

3. Das Berufungsgericht rechnet der Klägerin mit Recht als schuldhafte Fristversäumnis an, dass ihr Prozessbevollmächtigter seine Pflicht zur eigenverantwortlichen Prüfung der richtigen Notierung des Endes der Berufungsbegründungsfrist schuldhaft verletzt hat, als ihm die Akten zur Bearbeitung im Hinblick auf den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden sind.

Nach den zur anwaltlichen Fristenkontrolle entwickelten Grundsätzen hat der Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare zu tun und zu veranlassen, damit die Fristen zur Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels gewahrt werden (BGH, Beschluss vom 28. September 1989 - VII ZR 115/89, NJW 1990, 1239, 1240 = BGHR ZPO § 233 Fristenkontrolle 12 und vom 10. März 2011 - VII ZB 37/10, NJW 2011, 1597 Rn. 12). Nur von der routinemäßigen Fristberechnung und Fristenkontrolle kann er sich durch Übertragung dieser Tätigkeit auf zuverlässige und sorgfältig überwachte Bürokräfte entlasten. Hiervon ist die Prüfung des Fristablaufs im Zusammenhang mit der Bearbeitung der Sache zu unterscheiden. Diesen hat der Rechtsanwalt eigenverantwortlich nachzuprüfen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (vgl. Senat, Beschlüsse vom 29. September 1998 - VI ZB 16/98, juris Rn. 5; vom 9. März 1999 - VI ZB 3/99, VersR 1999, 866, 867 und vom 10. Juni 2008 - VI ZB 2/08, VersR 2009, 283 Rn. 7; BGH, Beschlüsse vom 13. November 1975 - III ZB 18/75, NJW 1976, 627, 628; vom 6. Juli 1994 - VIII ZB 12/94, NJW 1994, 2831, 2832; vom 24. Oktober 2001 - VIII ZB 19/01, VersR 2002, 1391 f. und vom 19. April 2005 - X ZB 31/03, juris Rn. 4). Die Prüfungspflicht entsteht mit Vorlage der Akten unabhängig davon, ob sich der Rechtsanwalt zur sofortigen Bearbeitung der Sache entschließt oder die Verlängerung der Frist beantragt. Bei der Vorlage muss sich der Rechtsanwalt davon überzeugen, ob ihm am Tag des notierten Fristablaufs noch Zeit für die Anfertigung der Rechtsmittelbegründung oder für einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist verbleibt (Senat, Beschlüsse vom 25. April 2007 - VI ZB 66/06, VersR 2008, 273 Rn. 7 und vom 29. September 1998 - VI ZB 16/98 aaO).

Im Streitfall ist entscheidend, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin jedenfalls die notierte Frist auf ihre Richtigkeit nicht überprüft hat, als ihm die Akte im Hinblick auf den bevorstehenden Ablauf der notierten Frist vorgelegt worden ist. Dabei kann offen bleiben, ob nach der Büroorganisation - wie es einer sorgfältigen Fristenkontrolle entspricht - eine Vorfrist notiert worden ist. Jedenfalls hat der Anwalt infolge der unterlassenen Prüfung der Frist nicht bemerkt, dass zwar die Frist zur Einlegung der Berufung erst am Montag, dem 16. Mai 2011, die Frist zur Berufungsbegründung gemäß § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO jedoch am Mittwoch, dem 15. Juni 2011, abgelaufen ist. Er hat in der Folge auch nicht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb der Monatsfrist gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO bis Montag, den 18. Juli 2011, gestellt. Die Fristversäumnis beruht allein auf dem Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, auch wenn das Berufungsgericht mit der Gewährung der beantragten Verlängerung den Anschein erweckt hat, der Rechtsstreit werde demnächst materiell-rechtlich entschieden. Selbst wenn anzunehmen wäre, dass ein Wiedereinsetzungsantrag auch stillschweigend gestellt werden kann, lassen sich im vorliegenden Fall weder die Gesuche des Prozessbevollmächtigten der Klägerin um Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist noch die Einreichung der Berufungsbegründung als stillschweigende Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Begründungsfrist verstehen. Ein stillschweigender Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann dann nicht angenommen werden, wenn die fristgebundene Prozesshandlung in der irrigen Annahme erbracht wird, die Frist sei noch nicht abgelaufen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. September 1952 - III ZB 13/52, BGHZ 7, 194, 197 f.). So liegt der Fall hier. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ging irrigerweise davon aus, dass die bei Stellung des Antrags auf Fristverlängerung am 16. Juni 2011 bereits abgelaufene Berufungsbegründungsfrist noch laufe. Er begehrte deshalb gerade nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Da dem Antrag auf Wiedereinsetzung infolge der schuldhaften Fristversäumnis des Prozessbevollmächtigten, die der Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, nicht stattzugeben war, hat das Berufungsgericht die Berufung der Klägerin wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu Recht als unzulässig verworfen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.