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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 19.07.2012 - 1 U 32/12 - Zum Schadensersatz für nach dem Unfalltod der Tochter psychisch erkrankte Mutter

OLG Frankfurt am Main v. 19.07.2012: Zum Schadensersatz für nach dem Unfalltod der Tochter psychisch erkrankte Mutter


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 19.07.2012 - 1 U 32/12) hat entschieden:
  1. Eine infolge Unfalltods ihrer Tochter psychisch schwer erkrankte Mutter hat gegen den verkehrswidrig handelnden Unfallverursacher einen Anspruch auf Schmerzensgeld und Ersatz ihres unfallbedingten Verdienstausfalls.

  2. Zur Bemessung des Angehörigenschmerzensgeldes in derartigen Fällen.

Siehe auch Tod naher Angehöriger und Stichwörter zum Thema Personenschaden


Gründe:

A.

Die Tochter der Klägerin wurde infolge eines groben Verkehrsverstoßes des Versicherungsnehmers der Beklagten am … 2007 tödlich verletzt. Die uneingeschränkte Verpflichtung der Beklagten zum Schadensersatz ist im vorliegenden Verfahren außer Streit. Die Klägerin behauptet, sie sei aufgrund dieses Unfallereignisses schwer psychisch erkrankt, und nimmt die Beklagte auf Zahlung eines 5.000 € übersteigenden weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von mindestens 30.000 € und auf den Ersatz von Verdienstausfall in Anspruch, der ihr durch die – ebenfalls unfallbedingte – Inanspruchnahme von Altersteilzeit entstanden sei und laufend entstehe.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes nimmt der Senat auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils Bezug.

Das Landgericht hat nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens der Klage stattgegeben, insbesondere der Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 € zuerkannt.

Die Beklagte rügt mit ihrer Berufung eine unangemessene Höhe des Schmerzensgeldes und eine unzureichende Begründung des Landgerichts für eine Verursachung der klägerischen Erwerbsnachteile durch den Unfall. Die Klägerin müsse sich als Mitverschulden anspruchsmindernd anrechnen lassen, dass sie sich nicht in eine mehrmonatige stationäre Therapie begeben habe.

Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil.


B.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und teilweise – hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldes und, daran anknüpfend, der vorgerichtlichen Anwaltskosten – begründet.

I.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Schmerzensgeld, dessen Höhe der Senat nach billigem Ermessen auf insgesamt 15.000 € festsetzt, sodass unter Berücksichtigung der von der Beklagten geleisteten Zahlung von 5.000 € noch weitere 10.000 € offen stehen.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 56, 163, 164 ff.; VersR 1976, 539 f.; zuletzt bestätigt NJW 2012, 1730, 1731), der der Senat folgt (NJOZ 2009, 4715, 4717 f.), können mittelbar Geschädigte wie etwa die nächsten Angehörigen von Unfallopfern von dem Unfallverursacher bzw. dessen Haftpflichtversicherer nur ausnahmsweise materiellen und immateriellen Schadensersatz beanspruchen, nämlich dann, wenn sie eigene gesundheitliche Beeinträchtigungen mit – auch nach allgemeiner Verkehrsauffassung anzuerkennendem – Krankheitswert erlitten haben, die über die hinausgehen, denen nahe Angehörige bei Todesnachrichten erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.

2. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Die Klägerin ist infolge des ihre Tochter betreffenden tödlichen Unfallgeschehens schwerwiegend psychisch erkrankt; sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren depressiven Episode und anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen. Dies hat das Landgericht aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens überzeugend und den Senat nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bindend festgestellt; die Beklagte hat diese Feststellung mit der Berufung auch nicht angegriffen.

3. Das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld von insgesamt 35.000 € erscheint dem Senat allerdings übersetzt. Der Verlust eines nahen Angehörigen wie beispielsweise eines Kindes und die darauf beruhenden psychischen wie physischen Schäden können durch eine Geldzahlung schon vom gedanklichen Ansatz her nicht ausgeglichen werden. Der Sinn einer derartigen Zahlung kann im Wesentlichen darin bestehen, dem mittelbar geschädigten Angehörigen eine angenehme Ablenkung zu verschaffen und den Übergang in eine neue Lebensphase zu erleichtern; hierfür ist derzeit eine Zahlung in der Größenordnung von 15.000 € erforderlich (vgl. Huber NZV 2012, 5, 7, 9). Im Streitfall fehlt es an Umständen, die eine Abweichung von diesem Betrag nach oben (nachfolgend a-d) oder nach unten (nachfolgend e) begründen könnten:

a) Der Versicherungsnehmer der Beklagten mag besonders rücksichtslos gefahren sein, nämlich mit überhöhter Geschwindigkeit und ein Überholverbot missachtend. Für die Beeinträchtigung der Klägerin spielt das eine untergeordnete Rolle, denn sie hat den Unfall nicht selbst miterleben müssen, sondern hiervon nur durch Dritte erfahren.

b) Das Regulierungsverhalten der Beklagten ist nicht zu beanstanden. Insbesondere durfte sie eine schwerwiegende psychische Erkrankung der Klägerin, die den o. a. strengen Entschädigungskriterien der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung genügte, bis zur Einholung eines objektiven Sachverständigengutachtens bestreiten, zumal sie schon ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 € gezahlt hatte. Weiter muss insoweit zu ihren Gunsten berücksichtigt werden, dass sie das Sachverständigengutachten nach dessen Ergänzung letztlich akzeptiert und den vorliegenden Prozess in sachlicher, zurückhaltender Weise geführt, während die Klägerin selbst teilweise in unnötig scharfem Ton schriftsätzlich vorgetragen und außergerichtlich korrespondiert hat.

c) Die Erwerbsnachteile der Klägerin sind durch den ihr zustehenden Anspruch auf materiellen Schadensersatz abgedeckt und deshalb nicht geeignet, eine Erhöhung des Schmerzensgeldes zu begründen.

d) Die soziale Isolierung der Klägerin ist gegenüber der depressiven Episode, die das Landgericht festgestellt hat, keine gesondert zu berücksichtigende Einbuße, sondern ein für diese psychische Erkrankung typisches Symptom, mithin als Element der Krankheit, die überhaupt einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld begründet, bereits berücksichtigt.

e) Der Mitverschuldensvorwurf der Beklagten greift nicht durch. Die Klägerin hat sich bald nach dem Unfall ihrer Tochter wegen ihrer psychischen Erkrankung in Behandlung begeben. Den Vorschlag, sich einer mehrmonatigen stationären Behandlung zu unterziehen, hat ersichtlich erstmals der im vorliegenden Verfahren tätig gewesene Sachverständige unterbreitet. Dass die Klägerin diesen Vorschlag angesichts eines ihr nur noch verbleibenden Schuljahres in der aktiven Phase der Altersteilzeit nicht gleich umgesetzt hat, begründet keinen rechtserheblichen Verstoß gegen ihre Schadensminderungspflicht, abgesehen davon, dass der Erfolg einer derartigen Behandlung nicht sicher prognostiziert werden kann, was sich zulasten der insoweit beweisbelasteten Beklagten auswirken muss.

4. Das Schmerzensgeld ist nach § 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen.


II.

Die Beklagte schuldet der Klägerin auch den Ersatz des materiellen Schadens, der dieser infolge der unfallbedingten psychischen Erkrankung entstanden ist. Dabei handelt es sich um Verdienstausfall und vorgerichtliche Anwaltskosten.

1. Den durch die Inanspruchnahme von Altersteilzeit bedingten Verdienstausfall macht die Klägerin als Folgeschaden aus ihrer – psychisch verursachten – Körperverletzung geltend. Diese Frage der haftungsausfüllenden Kausalität ist nach § 287 ZPO zu beurteilen; es genügt eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Körperverletzung für den Verdienstausfall mitursächlich geworden ist.

Diese Voraussetzung ist gegeben. Ausweislich des Sachverständigengutachtens ist die Klägerin in schwerwiegender Weise psychisch erkrankt und bedarf einer mehrmonatigen stationären Behandlung; es ist verständlich und naheliegend, dass sie sich in der aktiven Phase ihrer Erwerbstätigkeit hierzu nicht entschließen konnte. Hinzu kommen das Attest ihrer behandelnden Psychotherapeutin vom 17. 1. 2011 (Bl. 65 f. d. A.), wonach es deren Idee war, die psychische Überlastung der Klägerin im schulischen Dienst durch eine Altersteilzeitregelung abzufangen, und das Attest des die Klägerin behandelnden Neurologen vom 20.3.2012 (Bl. 212 d. A.), wonach sie nur an einer leichten, ihre Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigenden Polyneuropathie leidet.

Die Höhe des Erwerbsschadens war in erster Instanz überwiegend und im Berufungsverfahren insgesamt unstreitig, sodass das landgerichtliche Urteil hinsichtlich der Aussprüche zu 2. und 4. zu bestätigen war. Gegen die Feststellungsklage bestehen im Hinblick darauf keine Bedenken, dass von der beklagten Versicherung freiwillige Zahlungen zu erwarten sind, dass es mithin keines Zahlungstitels bedarf.

2. Die niedrigere Bemessung des Schmerzensgeldes führt zu einer Reduzierung der erstattungsfähigen vorgerichtlichen Anwaltskosten gemäß folgender Berechnung:

Streitwert 43.475,40 € (wie S. 8 des landgerichtlichen Urteils, aber nur 15.000 € statt 35.000 € Schmerzensgeld)

13/10 Gebühr 1.266,20 €
Auslagen 20,00 €
Zwischensumme netto 1.286,20 €
19 % USt. 244,38 €
Zwischensumme brutto 1.530,58 €
- gezahlt 489,45 €
= Rest zu erstatten 1.041,13 €


Soweit der am Schluss der Sitzung verkündete Urteilstenor einen Betrag von 1.037,13 € nannte, handelte es sich um einen offenkundigen, hiermit berichtigten Rechenfehler (§ 319 ZPO). Der Kostenbetrag ist nach § 291 BGB zu verzinsen.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.