Das Verkehrslexikon

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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 04.05.2012 - 13 S 201/11 - Zum Ein- und Ausfahren bei Bundesstraßen mit Einfädelungsspur

LG Saarbrücken v. 04.05.2012: Zum Ein- und Ausfahren bei Bundesstraßen mit Ein- umnd Ausfädelungsspur


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 04.05.2012 - 13 S 201/11) hat entschieden:
  1. Will ein Fahrzeugführer von einem Ausfädelungsstreifen einer Bundesstraße auf die durchgehende Fahrbahn einfahren, hat er die höchstmögliche Sorgfalt zu beachten.

  2. Kommt es im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zu einer Kollision zwischen dem Einfahrenden und einem Fahrzeug auf der durchgehenden Fahrbahn, spricht für ein unfallursächliches Verschulden des Einfahrenden der Beweis des ersten Anscheins.

Siehe auch Einfahren und Ausfahren in und aus Bundesstraßen und Auffahrunfall und Anscheinsbeweis


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am ... auf der B 269 (neu) Richtung ... im Bereich der Ausfahrt, "..." ereignet hat.

Der Zeuge ... befuhr mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw die B 269 (neu) in Fahrtrichtung ... . In der Folge kollidierte er mit dem Fahrzeug des Klägers, das von der Zeugin ... in derselben Fahrtrichtung geführt wurde. Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig.

Der Kläger hat Schadensersatz in Höhe von 4.580,00 € auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % sowie vorgerichtliche Anwaltskosten geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, eine Haftungsteilung sei geboten, weil ein ungeklärtes Unfallgeschehen vorliege.

Die beklagte Versicherung hat vorgetragen, die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs habe den Unfall verursacht, indem sie vom Verzögerungsstreifen einen Wendevorgang eingeleitet habe. Für den Zeugen ... sei der Unfall unabwendbar gewesen.

Nach Durchführung einer Beweisaufnahme hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen. Aufgrund der Ausführungen des technischen Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs vom Verzögerungsstreifen aus entweder einen Wendevorgang eingeleitet oder einen Fahrspurwechsel durchgeführt habe. Jedenfalls sei die Fahrerin von der Ausfahrtspur in die Fahrspur des Beklagtenfahrzeugs eingefahren und habe dadurch den Unfall verursacht. Zwar falle dem Zeugen ... ein Geschwindigkeitsverstoß zur Last, da er mit 78 km/h statt der erlaubten 70 km/h gefahren sei. Dieser Verstoß sei aber so unwesentlich, dass sich daraus eine Haftung der Beklagten nicht begründen lasse. Auch die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs trete hinter den groben Verursachungsanteil der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs zurück.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter.

Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.


II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung i. S. d. § 546 ZPO noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere als die vom Amtsgericht getroffene Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

Zu Recht ist die Erstrichterin im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile davon ausgegangen, dass den Kläger die Alleinhaftung für die unfallbedingten Schäden trifft, weil die Zeugin ... als Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs den Unfall verschuldet hat.

1. Das Erstgericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die Zeugin ... vorkollisionär vom Ausfädelungsstreifen der B 269 (neu) auf den Fahrstreifen des Zeugen ... eingefahren ist. Dagegen wendet sich die Berufung ohne Erfolg.

a) In tatsächlicher Hinsicht ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren, rechtlichen und tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (vgl. BGHZ 164, 330, 332 mwN.).

b) Konkrete Anhaltspunkte, die solche Zweifel begründen und eine erneute Feststellung gebieten könnten, liegen nicht vor. In ihrer Beweiswürdigung hat sich die Erstrichterin vielmehr entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und dem Beweisergebnis umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungsgesetze zu verstoßen. Dabei hat sie Ihre Feststellung zum Fahrverhalten der Zeugin ... in zulässiger Weise auf das Gutachten des technischen Sachverständigen gestützt. Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dass der Fahrvorgang des klägerischen Pkw "seinen Beginn von dem Ausfahrtstreifen nach ... genommen hat" (GA Seite 27, Bl. 77 d. A.) und die Kollision auf dem Richtungsfahrstreifen erfolgt ist (GA Seite 25, Bl. 75 d. A.). Ergänzend hat er eine Simulation des Kollisionsablaufs vorgenommen, die diese Annahmen untermauert (GA S. 29 ff, Bl. 79 ff d. A.). Diese Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Sie sind widerspruchsfrei, schlüssig, vollständig und getragen von der Sachkunde des Sachverständigen, so dass sie einer berufungsgerichtlichen Überprüfung in jeder Hinsicht standhalten (vgl. zum Prüfungsmaßstab in Verkehrsunfallsachen BGH, Urteil vom 18.05.2005 – VI ZR 270/04, VersR 2006, 242).

2. Auf der Grundlage dieser tatsächlichen Feststellungen hat die Erstrichterin zutreffend einen Verstoß der Zeugin ... gegen die ihr obliegende Sorgfalt angenommen.

a) Allerdings trifft die Zeugin ... kein Verstoß gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens gemäß § 7 Abs. 5 StVO. Der Ausfädelungsstreifen ist zwar Teil der Straße, gehört aber gemäß § 7 a Abs. 3 StVO nicht zur durchgehenden Fahrbahn (vgl. OLG Hamm, NZV 2012, 73; LG Berlin, VersR 2001, 205; Kammer, Urteil vom 21.10.2011 – 13 S 116/11; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, 22. Aufl., § 18 StVO Rn. 1, 9, 11; Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 27 Rn. 452; Felke, DAR 1989, 179, 180). Er stellt mithin keinen Richtungsfahrstreifen i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 2 StVO dar, was sich auch darin zeigt, dass dem durchgehenden Verkehr die Vorfahrt eingeräumt ist (§ 18 Abs. 3 StVO) und das Rechtsfahrgebot des § 2 StVO den durchgehenden Verkehr nicht verpflichtet, den Ausfädelungsstreifen zu benutzen (vgl. OLG Hamm, VRS 56, 124).

b) Entgegen der Auffassung der Berufung kommt vorliegend aber ein Verstoß der Zeugin ... gegen die Pflichten nach § 10 Satz 1 StVO in Betracht. Nach dieser Vorschrift muss derjenige, der aus einem Grundstück, aus einem Fußgängerbereich, aus einem verkehrsberuhigten Bereich auf die Straße oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die Anwendbarkeit der Regelung auf den Fall hängt – worauf die Berufung zu Recht hinweist – entscheidend davon ab, ob es sich beim Ausfädelungsstreifen nach § 7 a Abs. 3 StVO um einen anderen Straßenteil i. S. d. § 10 Satz 1 StVO handelt. Das wird in der Literatur teilweise bejaht (vgl. Hentschel aaO § 10 StVO Rn. 6; Burmann aaO § 18 StVO Rn. 11). Auch die Kammer neigt zu dieser Auffassung (vgl. Urteil vom 21.10.2011 aaO). In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass sich die Zuordnung einer Verkehrsfläche – wie hier der Ausfädelungsstreifen – im Rahmen des § 10 StVO maßgeblich nach der Verkehrsbedeutung bestimmt (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.1987 – VI ZR 296/86, VersR 1988, 79; Kammer, Urteil vom 08.04.2011 – 13 S 17/11, NZV 2011, 541). Hiervon ausgehend sprechen für die rechtliche Einordnung des Ausfädelungsstreifens als anderer Straßenteil i. S. d. § 10 Satz 1 StVO nicht nur die öffentlichrechtliche Bestimmung des Ausfädelungsstreifens als Nebenfahrbahn (vgl. Kodal-Herber, Straßenrecht, 7. Aufl., Kap. 7 Rn. 17; Marschall/Grupp, FStrG, § 1 Rn. 43), sondern auch der Schutzzweck des § 10 Satz 1 StVO. § 10 Satz 1 StVO bezweckt den Schutz des durchgehenden fließenden Verkehrs gegenüber Benutzern von Verkehrsflächen, die nicht dem durchgehenden fließenden Verkehr dienen (vgl. Burmann aaO § 10 StVO Rn. 2, 4; Hentschel aaO § 10 StVO Rn. 6, 8 m. w. N.). Deshalb hat der fließende Verkehr, dem die ungehinderte Durchfahrt zu ermöglichen ist, grundsätzlich Vorrang vor dem Einfahrenden oder Anfahrenden und darf auf die Beachtung dieses Vorranges vertrauen, und die Verantwortung für die Sicherheit des Einbiegens oder Anfahrens trifft in erster Linie den Einfahrenden oder Anfahrenden (vgl. BGHSt 28, 218). Dieser Schutzzweck ist beim (Wieder-) Einfahren vom Ausfädelungsstreifen auf die durchgehende Fahrbahn berührt. Denn der Ausfädelungsstreifen gehört nicht zur durchgehenden Fahrbahn und der fließende Verkehr auf den durchgehenden Fahrstreifen darf auf seinen Vorrang gemäß § 18 Abs. 3 StVO vertrauen. Es liegt deshalb nahe, auch den vom Ausfädelungsstreifen auf die durchgehende Fahrbahn Einfahrenden durch die Regelung des § 10 Satz 1 StVO zu erfassen mit der Folge, dass ihm die Verantwortung für die Sicherheit des Einfahrens obliegt.

c) Die Streitfrage bedarf hier aber keiner abschließenden Entscheidung. Denn derjenige, der von einem Ausfädelungsstreifen auf die durchgehende Fahrbahn einfährt, hat jedenfalls aus dem Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§ 1 Abs. 2 StVO) ein Höchstmaß an Sorgfalt zu beachten. Ausgehend davon, dass der Ausfädelungsstreifen auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen im Interesse einer möglichst gefahrlosen Verkehrsführung ausschließlich dem Verzögern und Abbiegen dient, dürfen die Kraftfahrer auf der durchgehenden Fahrbahn in gesteigertem Maße auf ihren Vorrang gemäß § 18 Abs. 3 StVO vertrauen und brauchen mit einem (Wieder-) Einfahren auf die durchgehende Fahrbahn nicht zu rechnen. Wollen die Benutzer des Ausfädelungsstreifens erneut auf die Fahrspur einfahren, gilt für sie deshalb das Gebot, jede Gefährdung des auf den Fahrspuren befindlichen, in der Regel schnelleren Verkehrs auszuschließen, uneingeschränkt und unabhängig davon, ob Stau oder Stop-and-go-Verkehr herrscht (Kammer, Urteil vom 21.10.2011 aaO).

aa) Die Zeugin ... hat die ihr danach obliegende höchstmögliche Sorgfalt nicht beachtet. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins. Wird gegen eine Schutzvorschrift verstoßen, die auf bestimmten Erfahrungen über die Gefährlichkeit einer Handlungsweise beruht – hier die Pflicht zur höchstmöglichen Sorgfalt beim Einfahren auf die durchgehende Fahrbahn vom Ausfädelungsstreifen –, so kann bei einem Schadenseintritt prima facie darauf geschlossen werden, dass sich die von ihr bekämpfte Gefahr verwirklicht hat, sofern sich der Schadensfall – wie hier – in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit dem vorschriftswidrigen Verhalten ereignet hat (Kammer, ständige Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 10.02.2012 – 13 S 181/11; Geigel/Knerr, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., Kap. 37 Rn. 47; vgl. auch BGH, Urteil vom 22.04.1986 – VI ZR 77/85, VersR 1986, 916; Prütting/Gehrlein/Laumen, ZPO, 4. Aufl., § 286 Rn. 32 m. w. N.).

bb) Dem Kläger ist es nicht gelungen, diesen Anscheinsbeweis im vorliegenden Fall zu erschüttern. Zwar genügt es, dass die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Ablaufs bewiesen ist. Jedoch müssen die Tatsachen, aus denen eine solche Möglichkeit abgeleitet werden soll, bewiesen sein (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 13.02.2007 – VI ZR 58/06, NZV 2007, 294 m. w. N.). Daran fehlt es hier schon mit Blick auf die Unaufklärbarkeit des Annäherungsverhaltens der Fahrzeuge und damit des weiteren Unfallgeschehens.

3. Auf Seiten des Zeugen ... als Fahrer des Beklagtenfahrzeuges ist zwar – wie das Amtsgericht zutreffend und in der Berufung nicht angegriffen festgestellt hat – neben der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs ein Geschwindigkeitsverstoß zu berücksichtigen, da der Zeuge mit 78 km/h statt der erlaubten 70 km/h gefahren ist. Auf die Frage der Unfallursächlichkeit dieses Verstoßes kommt es allerdings nicht an. Auch bei unterstellter Ursächlichkeit würde ein Verstoß gegen § 3 StVO, Zeichen 274 im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG schon wegen der Geringfügigkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung jedenfalls hinter dem schwerwiegenden Sorgfaltspflichtverstoß der Zeugin ... zurücktreten. Einer weiteren Beweiserhebung bedurfte es danach entgegen der Auffassung der Berufung nicht.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).