Das Verkehrslexikon

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OLG München Beschluss vom 08.06.2012 - 4 St RR 97/12 - Zur unbeachtlichen Rechtsmittelbeschränkung bei Fahrerlaubnisentzug

OLG München v. 08.06.2012: Zur unbeachtlichen Rechtsmittelbeschränkung bei Fahrerlaubnisentzug


Das OLG München (Beschluss vom 08.06.2012 - 4 St RR 97/12) hat entschieden:
Beschränkt sich das erstinstanzliche Urteil auf Feststellungen zum reinen Schuldvorwurf nach §§ 316 StGB, 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG, ohne auf die auch für die Rechtsfolgenbemessung wesentlichen Begleitumstände der Tat (Anlass und Motiv, Fahrtstrecke, Verkehrsumstände zur Tatzeit) einzugehen, ist eine nach § 318 StPO erklärte Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolgen unwirksam und das die Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung zugrunde legende Berufungsurteil unterliegt aufgrund der erhobenen Sachrüge schon aus diesem Grunde der Aufhebung (im Anschluss an die ständige Senatsrechtsprechung StraFo 2008, 210).


Siehe auch Rechtsmittelbeschränkung auf den Maßregelausspruch - isolierte Anfechtung einer Führerscheinsperre und Die Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Strafgericht


Gründe:

I.

Das Amtsgericht Viechtach hat den Angeklagten mit Urteil vom 20. April 2011 der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis schuldig gesprochen. Zum Schuldspruch hat das Gericht des ersten Rechtszugs folgenden Sachverhalt festgestellt:
„Der Angeklagte fuhr am 18. November 2010 gegen 19.40 Uhr mit dem Pkw Audi A 4, amtliches Kennzeichen ..., auf der H. Straße in ..., obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig war.

Eine bei dem Angeklagten am 18.11.2010 um 20.08 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,15 ‰.

Seine Fahruntüchtigkeit hätte der Angeklagte bei kritischer Selbstprüfung erkennen können und müssen. Außerdem hatte der Angeklagte, wie er wusste, nicht die erforderliche Fahrerlaubnis. Der Führerschein war seit 5.8.2010 nach § 94 StPO sichergestellt gewesen.

Durch die Tat hat sich der Angeklagte als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen.“
Unter Einbeziehung der (viermonatigen) Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Viechtach vom 1. Dezember 2010 (Az.: Ds 7 Js 4980/10) und Verhängung einer sechsmonatigen Einzelstrafe hat das Amtsgericht Viechtach eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verhängt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Zudem hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, den Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von zwei Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.

Die Staatsanwaltschaft Deggendorf hat dieses Urteil mit der Berufung angefochten und das Rechtsmittel auf das Strafmaß beschränkt. Am 29. Februar 2012 hat die Strafkammer des Landgerichts Deggendorf das Urteil des Amtsgerichts dahin abgeändert, dass der Angeklagte unter Einbeziehung der Strafe aus dem vorgenannten Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden ist. Dem Angeklagten ist die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein eingezogen worden. Die Berufungskammer hat die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von achtzehn Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Im Übrigen hat das Berufungsgericht die Berufung als unbegründet verworfen.

Gegen dieses in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat der Angeklagte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 6. März 2012 – eingegangen am selben Tag - Revision eingelegt, die er nach Urteilszustellung am 12. März 2012 begründet und auf die ausgeführte Sachrüge gestützt hat, mit der er eine Verletzung des § 56 StGB rügt. Die Revisionsbegründung ist am 12. April 2012 bei Gericht eingegangen.


II.

Die nach § 333 StPO statthafte, im Übrigen nach §§ 337, 341 Abs. 1, 344, 345 StPO zulässige Revision erweist sich aufgrund der erhobenen Sachrüge als begründet.

Auf die Sachrüge hin prüft das Revisionsgericht nicht nur, ob das materielle Recht rechtsfehlerfrei auf den Urteilssachverhalt angewendet worden ist, sondern darüber hinaus von Amts wegen auch, ob Prozessvoraussetzungen gegeben sind oder Prozesshindernisse entgegenstehen. Zu dieser Prüfung zählt auch die Frage, ob eine vor dem Berufungsgericht erklärte Rechtsmittelbeschränkung nach § 318 StPO wirksam ist (OLG München Beschluss vom 10.8.2011, 4 StRR 127/11). Denn die Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung ist eine Frage der Teilrechtskraft. Gerade bei Beschränkungen der Berufungen auf das Strafmaß umfasst diese Prüfung auch, ob der vom Amtsgericht festgestellt Sachverhalt auch in Hinsicht auf die Rechtsfolgen tragfähig ist oder insoweit Lücken aufweist (Senatsbeschluss vom 19. August 2010 – Aktenzeichen: 4 StRR 118/10, S. 3 f.).

Das Landgericht ist vorliegend davon ausgegangen, dass die Staatsanwaltschaft das erstinstanzliche Urteil wirksam nur in Hinsicht auf das Strafmaß angefochten habe; im Übrigen, was die Feststellungen zur Schuld anbelangt, sei das Urteil des ersten Rechtszugs in Rechtskraft erwachsen. Das ist von Rechts wegen zu beanstanden.

Insbesondere zu den Verkehrsdelikten nach §§ 316 StGB, 21 StVG hat der Senat in ständiger Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, erkannt, dass der Tatrichter sich nicht auf Feststellungen beschränken darf, die nur die reine tatbestandsmäßige Schuldform betreffen. Vielmehr ist der Tatrichter wegen der Bedeutung für die Rechtsfolgen gehalten, Feststellungen auch zur Motivation der Tat, den konkreten Verkehrsverhältnissen bei Tatbegehung, insbesondere zu möglichen Gefährdungen anderer Straßenverkehrsteilnehmer, und zum Anlass der Tat zu treffen. Beschränkt sich das Erstgericht auf die Feststellungen allein zur Schuldform und unterlässt es die weiteren Feststellungen, ist eine Beschränkung des Rechtsmittels nach § 318 StPO unwirksam und der Berufungsrichter gehalten, den Sachverhalt unter Beachtung der revisionsrechtlichen Vorgaben vollumfänglich festzustellen. (OLG München Beschluss vom 4. April 2012 – Aktenzeichen: 4 StRR 046/12, S. 4 f.; Beschluss vom 18. Februar 2008 – Aktenzeichen: 4 StRR 207/07 = OLG München StraFO 2008, 210; Beschluss vom 10. August 2011 – Aktenzeichen: 4 StRR 127/11; Beschluss vom 19. August 2010 - Aktenzeichen: 4 StRR 118/10, S. 4).

Die vom Amtsgericht Viechtach getroffenen und unter I. dieses Beschlusses ausgewiesenen Feststellungen betreffen nur die reine Schuldform. Das Urteil des ersten Rechtszugs teilt nichts zur gefahrenen Fahrstrecke, zum Anlass der Fahrt und zu den zur Tatzeit herrschenden Verkehrsumständen, damit zur Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, mit. Mithin war das Urteil lückenhaft und einer Beschränkung der Berufung nach § 318 StPO nicht zugänglich. Das hat die Berufungskammer verkannt.

Der Fall, dass das Revisionsgericht ausnahmsweise von der Aufhebung des Urteils absehen kann, wenn das Landgericht trotz des Irrtums über die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung die vollständigen Feststellungen selbst nachgeholt hat (Hanack in LR-StPO 25. Aufl. § 337 Rdn. 55), liegt nicht vor. Denn das Berufungsurteil teilt dem Revisionsgericht nichts mit, was über die Feststellungen des Amtsgerichts hinausgeht.

Auf diesem Rechtsfehler beruht das angegriffene Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO) und ist daher gemäß § 353 Abs. 1 StPO i. V. m. § 349 Abs. 4 StPO samt den ihm zugrunde liegenden Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) aufzuheben. Das Verfahren war gemäß § 353 Abs. 2 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts Deggendorf zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zurückzuverweisen.


III.

Für den weiteren Verfahrensgang ist zu bemerken:

Die jeweilige Höhe der festgestellten Blutalkoholwerte in diesem wie auch im Verfahren des Amtsgerichts Viechtach mit dem Aktenzeichen Ds 7 Js 4980/10, aber auch die Verurteilung durch das Amtsgericht Deggendorf vom 22. September 2006 (Aktenzeichen: Cs 7 Js 4767/06) drängen zur Frage nach einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB. Wenn – wie hier – die Strafkammer durch einen medizinischen Sachverständigen beraten dennoch zum Ergebnis kommt, dass eine Unterbringung des Angeklagten nach § 64 StGB nicht veranlasst sei, kann das Revisionsgericht dies revisionsrechtlich nur dann hinnehmen, wenn das angegriffene Urteil konkret mitteilt, warum der Sachverständige dieser Auffassung ist und warum sich die Strafkammer seiner medizinischen Stellungnahme anschließt. Hieran fehlt es jedenfalls dann, wenn schlicht nur auf das Gutachten Bezug genommen wird, welches dem Revisionsgericht nicht mitgeteilt wird.