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OLG Koblenz Urteil vom 24.10.2012 - 5 U 583/12 - Auffahrunfall eines Radfahrers auf einen anderen Radfahrer

OLG Koblenz v. 24.10.2012: Auffahrunfall eines Radfahrers auf einen anderen Radfahrer


Das OLG Koblenz (Urteil vom 24.10.2012 - 5 U 583/12) hat entschieden:
  1. Konnte ein Radfahrer mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 14 Km/h problemlos vor einem Fußgänger anhalten, der bereits fast die gesamte Fahrbahn überquert hatte, ist der gleichwohl auffahrende zweite Radfahrer für den Unfall weit überwiegend selbst verantwortlich, wenn er ebenfalls rechtzeitig bremsen oder problemlos an dem rechts stehenden Fahrrad links vorbeifahren konnte.

  2. Einer Wiederholung der Beweisaufnahme bedarf es nicht, wenn der in erster Instanz Obsiegende sich in zweiter Instanz die Aussage eines Zeugen umfassend zu eigen macht, nach dessen Unfallschilderung die Klage sich als insgesamt unbegründet erweist.

Siehe auch Radfahrer-Unfälle - Verkehrsunfall mit Fahrradbeteiligung und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer


Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt als Alleinerbin ihres am 19. November 2010 verstorbenen Vaters die minderjährige Beklagte wegen eines Verkehrsunfalls vom 21. Juli 2010 auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

Am Unfalltag trug die 1995 geborene Beklagte mit einer Freundin in der Ortslage M. Zeitungen aus. Sie betrat die Fahrbahn zumindest einen Schritt weit, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, als von rechts der Zeuge M. und der Erblasser hintereinander fahrend mit ihren Fahrrädern herannahten. Der vorausfahrende Zeuge M. bremste sein Rad stark ab, der nachfolgende Erblasser stieß gegen das Rad des Zeugen, wodurch er auf die Fahrbahn stürzte und schwerste Verletzungen, insbesondere am Kopf, erlitt.

Nach Maßgabe eines 50%-​igen Mitverschuldens hat die Klägerin ein auf mindestens 10.000 € beziffertes ererbtes Schmerzensgeld und die hälftigen Beisetzungskosten verlangt. Dazu hat sie in erster Instanz vorgetragen, die Beklagte habe in Richtung der beiden Radfahrer geschaut und diese wahrgenommen. Gleichwohl sei sie auf die Fahrbahn gelaufen. Dieses verkehrswidrige Verhalten habe den Zeugen M. zu der starken Bremsung gezwungen.

Die Beklagte hat erwidert, sie habe die Fahrbahn lediglich einen Schritt weit betreten und sei sofort wieder zurückgewichen, als sie die beiden mit mindestens 30 km/h herannahenden Radfahrer wahrgenommen habe. Der Vorausfahrende habe gleichwohl durch eine Vollbremsung völlig überreagiert. Der von der Heftigkeit des Bremsmanövers überraschte Erblasser sei wegen zu geringen Sicherheitsabstandes und eigener Unaufmerksamkeit aufgefahren.

Das Landgericht, auf dessen Entscheidung zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes ebenso Bezug genommen wird wie auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, hat Zeugen befragt, insbesondere die minderjährige Beklagte, ihre Freundin und den vorausfahrenden Radfahrer M.. Hiernach hat der Einzelrichter die Klage auf anteilige Erstattung der Beerdigungskosten abgewiesen und das Schmerzensgeldverlangen dem Grunde nach zu 40 % für gerechtfertigt erklärt. Die Beklagte habe ihre Pflichten aus § 25 Abs. 3 StVO nicht beachtet, was unfallursächlich geworden sei. Ihre Unfallschilderung sei ebenso unglaubhaft wie diejenige ihrer Freundin. Der Zeuge M. habe sein Rad bis zum Stillstand abbremsen müssen.

Mit der Berufung erstrebt die Beklagte die umfassende Abweisung der Klage. Die aus § 25 Abs. 3 StVO resultierenden Pflichten eines Fußgängers habe das Landgericht überspannt. Nach dem eigenen Prozessvortrag der Klägerin liege ein Verstoß nicht vor. Die Aussage M. habe das Landgericht mit nicht tragfähigen Erwägungen als glaubhaft angesehen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil, insbesondere macht sie sich die Unfallschilderung des Zeugen M. insgesamt zu Eigen.

Die Akten des Ermittlungsverfahrens 8022 Js 19159/10 Staatsanwaltschaft Trier waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Auch darauf wird verwiesen.


II.

Die zulässige Berufung hat Erfolg; sie führt zur umfassenden Abweisung der Klage.

Der Klägerin steht kein beim Erblasser entstandenes, auf die Anspruchstellerin als Erbin übergegangenes Schmerzensgeld zu, weil ein Fehlverhalten der Beklagten derart geringes Gewicht hat, dass es gegenüber dem weit überwiegenden Verschulden des Verletzten völlig zurücktritt (§ 254 BGB).

Die Berufung wendet sich mit beachtlichen Erwägungen gegen die Beweiswürdigung des Einzelrichters, wonach die Unfallschilderung der beiden minderjährigen Mädchen unglaubhaft bzw. beschönigend sein soll. Vergleicht man deren Aussagen im vorliegenden Rechtsstreit mit der Darstellung in den Ermittlungsakten, weisen die vom Landgericht kritisierten Bekundungen der Beiden durchaus größere Kontinuität und Plausibilität auf als die Zeugenaussage M.. Es ist nicht auszuschließen, dass der Einzelrichter bei seiner abweichenden Würdigung nicht oder nicht hinreichend im Blick behalten hat, dass die Beklagte dem Zeugen aus gutem Grund den Streit verkündet hat, was möglicherweise eine kritischere Würdigung seiner Aussage erfordert hätte.

Gleichwohl ist der Senat nicht gehalten, die Beweisaufnahme erster Instanz zu wiederholen, weil die Klage sich auf der Grundlage der Zeugenaussage M., die die Klägerin sich mit der Berufungserwiderung insgesamt zu Eigen gemacht hat, als unbegründet erweist. Der Senat würdigt dabei nicht die Glaubhaftigkeit der Aussage M. anders als das Landgericht, sondern nur deren rechtliche Bedeutung. Insoweit ist zu sehen und zu berücksichtigen:

Nach der Darstellung des Zeugen M. bremste er sein Rad hart rechts am Bordstein bis zum Stillstand ab. Er nahm den rechten Fuß vom Pedal und trat damit auf die Fahrbahn. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden (angeblich völlig unaufmerksam über die Fahrbahn gelaufenen) Mädchen „noch ca. 1 Meter schräg links“ von ihm. Erst jetzt prallte der Erblasser mit seinem Rad gegen das stehende Fahrrad des Zeugen M. und kam dadurch zu Fall.

Folgt man dieser Darstellung, wozu der Senat angesichts des im Zivilprozess geltenden Beibringungsgrundsatzes befugt ist, hätte der Erblasser auf der immerhin 4,50 Meter breiten Fahrbahn problemlos links an den beiden Fußgängerinnen und dem stehenden Zeugen M. vorbeifahren können. Mit einer derartigen Reaktion wäre bei jedem Fahrradfahrer zu rechnen gewesen, der das Verkehrsgeschehen in seinem Blickfeld mit der gebotenen Sorgfalt beobachtete. Das beschriebene Fahrmanöver hätte auch - ohne jedwede Bremsreaktion - den Unfall sicher vermieden.

Dass der Erblasser stattdessen gegen das ganz rechts am Bordstein stehende Rad des Zeugen M. prallte, kann demnach nur auf unzureichende Aufmerksamkeit (Verstoß gegen § 1 Abs. 1 erste Alternative StVO), fehlenden Sicherheitsabstand (Verstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO), eine verspätete bzw. unangemessene Reaktion des Geschädigten oder eine Kombination aus alledem zurückzuführen sein. Ebenso wie der Zeuge M. durch rechtzeitiges Bremsen einen Zusammenstoß mit den beiden Mädchen vermeiden konnte, hätte der dahinter fahrende Geschädigte (§ 2 Abs. 4 Satz 1 erster Halbsatz StVO) bei Beachtung der verkehrserforderlichen Sorgfalt den Aufprall gegen das stehende Rad des Zeugen M. durch Bremsen oder dadurch vermeiden können, dass er links vorbeifuhr, zumal die Geschwindigkeit bei Einleitung der Abwehrbremsung nach Darstellung des Zeugen M. mit ca. 14 km/h denkbar gering war. Außerdem hat der Zeuge M. bekundet, dass er 20 Meter von den Mädchen entfernt geklingelt und „Öh“ gerufen habe. Diese Warnungen durften dem hinter M. fahrenden Vater der Klägerin bei der gebotenen Aufmerksamkeit nicht entgehen (§ 1 Abs. 1 erste Alternative StVO). Warum es ihm gleichwohl nicht gelang, sein mit der mäßigen Geschwindigkeit von 14 km/h rollendes Rad innerhalb des Bremsweges von fast 20 Metern derart abzubremsen, dass er nicht gegen das Rad des Zeugen M. stieß und dadurch zu Fall kam, ist nicht nachvollziehbar. Bei diesem Unfallhergang ist der Verursachungsbeitrag der Beklagten derart unbedeutend, dass er gegenüber dem Verschulden des Verletzten völlig zurücktritt. Die Beklagte haftet daher nicht für den außerordentlich bedauerlichen Unfall mit seinen schwerwiegenden Folgen.

Bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB ist in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. BGH VersR 1968, 1093, 1094 m.w.N.; BGH VersR 1998, 474, 475). Es kommt also für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (vgl. BGH VersR 1988, 1238, 1239 m.w.N.). Die unter diesem Gesichtspunkt vorzunehmende Abwägung kann in besonderen Fallgestaltungen auch zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss. Unter dem Aspekt der Mitverursachung ist eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen Beteiligten dann möglich, wenn die wertende Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles ergibt, dass sein Verursachungsbeitrag derart überwiegt, dass das Fehlverhalten der Gegenseite nicht nennenswert in`s Gewicht fällt. So liegt es hier, wenn man - wie von der Berufungserwiderung ausdrücklich gefordert - der Unfallschilderung des Zeugen M. folgt. Ebenso wie er jede Eigengefährdung vermeiden konnte, indem er sein Rad aus der mäßigen Geschwindigkeit von 14 km/h zum Stillstand abbremste, hätte der Erblasser bei gebotener Aufmerksamkeit den Aufprall gegen das stehende Rad des Zeugen M. vermeiden können.

Die Klage war mit den Nebenentscheidungen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO abzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Streitwert: 4.000 €