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BGH Urteil vom 28.01.1992 - VI ZR 129/91 - Zur Zurechenbarkeit von Exzesshandlungen eines Nachtäters

BGH v. 28.01.1992: Zur Zurechenbarkeit von Exzesshandlungen eines Nachtäters


Der BGH (Urteil vom 28.01.1992 - VI ZR 129/91) hat entschieden:
Zur deliktischen Einstandspflicht des Erstschädigers für Schäden, die ein Zweitschädiger unter Ausnutzung der vom Erstschädiger geschaffenen Gefährdungslage (hier: Hilf- und Willenlosigkeit des Opfers durch Giftbeibringung und Freiheitsberaubung) durch eine weitere Schädigungshandlung (hier: schwere Misshandlungen des Opfers) herbeiführt.


Siehe auch Kausalzusammenhang und Haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang


Tatbestand:

Der klagende Freistaat gewährt Frau F. als Opfer einer Gewalttat Versorgungsleistungen nach § 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). Er nimmt die Beklagten aus übergegangenem Recht (§ 5 OEG) als Täter auf Ersatz seiner Aufwendungen für die Versorgungsleistungen, die er Frau F. erbracht und noch zu erbringen hat, in Anspruch. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Unter dem Vorwand, sie interessiere sich für den Ankauf von Geschirr, bestellte die Drittbeklagte am 29. Oktober 1985 Frau F., die als Handelsvertreterin für Geschirr tätig war, in ihre Wohnung. Dort veranlasste sie Frau F., einen mit einem Schlafmittel präparierten Kaffee zu trinken. Als die Wirkung des Schlafmittels einsetzte, verständigte die Drittbeklagte den Erstbeklagten, mit dem sie verabredet hatte, Frau F. zu betäuben, um ihr die Scheckkarte abzunehmen und von ihrem Konto so viel Geld wie möglich abzuheben; Frau F. sollte dann zehn Tage lang in einem durch Medikamente betäubten Zustand von dem Erstbeklagten gefangengehalten werden. Der Erstbeklagte nahm die hilf- und willenlose Frau F. mit in seine Wohnung. Dort verlor Frau F. zeitweise das Bewusstsein. In diesem Zustand führte der Erstbeklagte mit ihr den Geschlechtsverkehr aus, außerdem schlug, knebelte und fesselte er sie, bedrohte sie mit dem Tode und sperrte sie schließlich mit Unterstützung der Zweitbeklagten gefesselt in einem engen Kellerverlies ein. Am 30. Oktober 1985 gelang Frau F. durch glückliche Umstände mit letzter Kraft die Flucht.

Wegen dieser Vorgänge ist die Drittbeklagte wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden.

Frau F. hat durch die erlittenen Misshandlungen schwerste gesundheitliche Schäden davongetragen. Ihre psychische Verfassung ist so gestört, dass sie nach sachverständiger Auffassung ihrem Beruf als Handelsvertreterin nicht mehr nachgehen kann. Sie leidet unter einem psychischen Trauma mit anhaltender depressiver Verstimmung und abnormer Angstbereitschaft. Mit Bescheid vom 13. Mai 1988 setzte das Versorgungsamt die tatbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit der Frau F. auf 40 % ab 1. Oktober 1985 und auf 50 % ab 1. Januar 1988 fest. Der Kläger erbrachte aus Anlass der Schädigungshandlung für Frau F. bis zum 31. Dezember 1988 Versorgungsleistungen in Höhe von 33.606 DM. Diesen Betrag nebst Zinsen hat er von den Beklagten erstattet verlangt; außerdem hat er die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz seiner zukünftigen Aufwendungen aus Anlass dieser Schädigungshandlung begehrt.

Das Landgericht hat gegen den Erstbeklagten ein den Klageanträgen entsprechendes Versäumnisurteil erlassen, das rechtskräftig geworden ist. Ferner hat das Landgericht durch ein Schluss- und ein Ergänzungsurteil den Klageanträgen gegenüber der Zweit- und Drittbeklagten stattgegeben. Hiergegen haben diese beiden Beklagten Berufung eingelegt. Im Berufungsrechtszug hat der Kläger im Wege der Anschlussberufung die Klage gegen alle drei Beklagten erweitert und beantragt, die Beklagten über die durch die Entscheidungen des Landgerichts ausgesprochenen Verurteilungen hinaus zur Zahlung weiterer 30.747,10 DM nebst Zinsen zu verurteilen. In Höhe dieses Betrages hat der Kläger Kosten vergütet, die für die Heilbehandlung der Frau F. inzwischen angefallen sind.

Das Oberlandesgericht hat die Anschlussberufung des Klägers, soweit sie sich gegen den Erstbeklagten gerichtet hat, als unzulässig verworfen, die Klage gegen die Drittbeklagte abgewiesen und die gegen diese Beklagte gerichtete Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen sowie unter Zurückweisung der Berufung der Zweitbeklagten diese Beklagte auf die Anschlussberufung verurteilt, über die landgerichtliche Verurteilung hinaus an den Kläger weitere 30.747,10 DM zu zahlen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt, soweit seine Klage gegen die Drittbeklagte abgewiesen und seine gegen diese Beklagte gerichtete Anschlussberufung zurückgewiesen worden ist.


Entscheidungsgründe:

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts stehen Frau F. wegen der Schäden, derentwegen ihr der Kläger Versorgungsleistungen erbringt, gegen die Drittbeklagte keine Schadensersatzansprüche zu, die gemäß § 5 OEG auf den Kläger hätten übergehen können. Der Tatbeitrag der Drittbeklagten beschränke sich darauf, dass sie Frau F. in ihre Wohnung gelockt, sie durch die Verabreichung des präparierten Kaffees bewusstlos gemacht und anschließend den Erstbeklagten verständigt habe. Es lasse sich nicht feststellen, dass Frau F. schon durch diese Vorgänge die gesundheitlichen Schäden erlitten habe, derentwegen der Kläger Versorgungsleistungen nach dem OEG zu erbringen habe. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, dass diese Schäden auf den schweren Misshandlungen beruhten, denen Frau F. erst in der Wohnung des Erstbeklagten ausgesetzt gewesen sei. Hierbei handele es sich um Exzesstaten, für deren Folgen die Drittbeklagte nicht einstehen müsse. Allerdings habe die Drittbeklagte für Frau F. in der Gefangenschaft des ihr als brutal bekannten Erstbeklagten Schlimmes befürchten müssen. Es sei für sie aber nicht vorhersehbar gewesen, in welcher Weise und mit welcher kaum vorstellbaren Brutalität der Erstbeklagte gegen Frau F. vorgehen würde.


II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis nicht stand.

1. Allerdings ist das Berufungsgericht mit Recht der Auffassung, dass die Drittbeklagte sich das brutale Vorgehen des Erstbeklagten, das nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die psychische Beeinträchtigung der Frau F. erst ausgelöst hat, nicht als Teilnehmerin im Sinne von § 830 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB zurechnen lassen muss. Das Berufungsgericht hat den unstreitigen Geschehensablauf tatrichterlich dahin gewürdigt, dass diese Schäden und insbesondere das schwere psychische Trauma erst durch die Misshandlungen verursacht worden sind, denen Frau F. durch den Erstbeklagten in dessen Wohnung ausgesetzt gewesen ist. Diese Misshandlungen sind aber ohne Wissen und Wollen der Drittbeklagten geschehen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat sich der gemeinsame Tatplan des Erstbeklagten und der Drittbeklagten darauf beschränkt, Frau F. in die Wohnung der Drittbeklagten zu locken, sie dort zu betäuben, ihr die Scheckkarte zu rauben, Geld von ihrem Konto abzuheben und sie etwa zehn Tage lang in einem durch Medikamente betäubten Zustand gefangenzuhalten. Danach stellen sich die Misshandlungen, die der Erstbeklagte an Frau F. in seiner Wohnung vorgenommen hat, als Exzesshandlungen dar. Für die Folgen solcher Handlungen muss die Drittbeklagte nicht als Teilnehmerin aufkommen (vgl. Senat BGHZ 63, 124, 128; 89, 383, 396).

Ohne Erfolg macht die Revision geltend, dass sich eine Einstandspflicht der Drittbeklagten für diese Schäden aus § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB ergebe. Die Anwendung dieser Vorschrift scheidet angesichts der zweifelsfreien Haftung des Erstbeklagten schon im Ansatz aus (BGHZ 67, 14, 19 f.).

Entgegen der Auffassung der Revision ist dem Berufungsgericht bei der Feststellung, dass erst die späteren Exzesstaten des Erstbeklagten zu diesen Schäden geführt haben, ein Verfahrensfehler nicht unterlaufen. Es war dem Berufungsgericht nicht verwehrt, in freier tatrichterlicher Würdigung des Sachverhalts (§ 286 Abs. 1 ZPO) ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen zu der Überzeugung zu gelangen, dass nicht schon die Verabreichung des präparierten Kaffees diese schweren Schäden bei Frau F. verursacht hat. Im übrigen hat der Kläger selbst vorgetragen, dass erst die schweren Misshandlungen, zu denen es nach dem Verlassen der Wohnung der Drittbeklagten gekommen ist, die schweren Schäden bei Frau F. hervorgerufen haben, von denen hier die Rede ist.

2. Den weiteren Erwägungen des Berufungsgerichts vermag der Senat nicht beizutreten.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts scheidet eine Einstandspflicht der Drittbeklagten für die Folgen der hier zur Erörterung stehenden schweren Schäden des Opfers deshalb aus, weil für die Drittbeklagte nicht voraussehbar gewesen sei, in welcher Weise und mit welcher kaum vorstellbaren Brutalität der Erstbeklagte gegen das Opfer vorgehen würde. Dabei geht das Berufungsgericht ersichtlich davon aus, dass die schweren Misshandlungen von Frau F. durch den Erstbeklagten der Drittbeklagten haftungsrechtlich nur dann zugerechnet werden können, wenn ihr auch insoweit ein Verschulden, also zumindest Fahrlässigkeit, vorzuwerfen wäre. Selbst wenn dieser Ausgangspunkt richtig wäre, so hätte das Berufungsgericht zu hohe Anforderungen an die Voraussehbarkeit der Ereignisse als Voraussetzung für die Bejahung einer Fahrlässigkeit gestellt. Nicht muss, wer fahrlässig handelt, eine genaue Vorstellung von allen Einzelheiten des Schadensverlaufs haben; es genügt die Erkennbarkeit einer Gefahr in Richtung auf eine schädigende Verletzung überhaupt (vgl. Nachweise bei RGRK-BGB, 12. Aufl., § 823 Rdn. 415). Dafür reichte es im Streitfall aus, dass die Drittbeklagte, die unstreitig den Erstbeklagten als brutal kannte, die hilf- und willenlose Frau F. einer für Tage bemessenen Gefangenschaft des Erstbeklagten überließ.

Dies kann indes auf sich beruhen, weil die hier zur Erörterung stehenden Schäden Folgen der der Drittbeklagten als vorsätzlich anzulastenden Verletzungen der Frau F., nämlich der Gesundheitsbeschädigung durch das Gift, das sie, Frau F. beigebracht hat, und die von ihr planmäßig mitveranlasste Freiheitsberaubung sind, für die die Drittbeklagte einzustehen hat, auch wenn das brutale Vorgehen des Erstbeklagten von ihrem Vorsatz oder einer Fahrlässigkeit nicht mitumfasst gewesen wäre. Durch die Giftbeibringung und die Freiheitsberaubung war Frau F. in eine gefährliche Lage geraten; sie war willenlos und verfügbar geworden. Es lag nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, sondern im Gegenteil nahe, dass sich der der Drittbeklagten als brutal bekannte Erstbeklagte, den die Drittbeklagte auf den Plan gerufen hatte, des hilf- und willenlosen Opfers bemächtigen und es misshandeln werde. Dies bedeutet, dass die Schäden, die Frau F. hierbei erlitten hat und um die es hier geht, eine adäquate Folge der von der Drittbeklagten herbeigeführten Erstschädigung sind. Diese Schäden fallen auch in den Schutzbereich der Rechtsnormen, die die Drittbeklagte verletzt hat. Die strafrechtlichen Verbote der Freiheitsberaubung und Giftbeibringung verfolgen auch den Zweck, den einzelnen davor zu bewahren, als hilf- und willenloses Opfer den Misshandlungen durch Dritte ausgesetzt zu sein. An der damit begründeten Einstandspflicht der Drittbeklagten ändert sich nichts dadurch, dass diese Schäden unmittelbar aus einer Vorsatztat des Erstbeklagten herrühren (BGHZ 37, 311 ff., 58, 162, 165 f.). Entscheidend für die Zurechnung dieser Schäden ist, dass sich hierin das fortwirkende Schadensrisiko der Erstschädigung durch die Drittbeklagte verwirklicht hat (vgl. Senatsurteile vom 3. Oktober 1978 - VI ZR 253/77 - VersR 1978, 1161, 1162 und vom 20. September 1988 - VI ZR 37/88 - VersR 1988, 1273, 1274 m.w.N.).

3. Der Haftung der Drittbeklagten aus § 823 Abs. 1 und 2 BGB steht ihre in den Vorinstanzen erhobene Verjährungseinrede nicht entgegen. Die Drittbeklagte hat diese Einrede zuletzt damit begründet, dass es für den Beginn des dreijährigen Laufes der Verjährung nach § 852 BGB auf den Kenntnisstand des Geschädigten ankomme; Frau F. habe aber schon am Tage der Tat (29. Oktober 1985) von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis gehabt. Dem kann nicht gefolgt werden. Angesichts der gesundheitlichen Schädigung, die Frau F. erlitten hat, bestand von Anfang an die Möglichkeit von Versorgungsleistungen nach dem OEG. Damit vollzog sich der Anspruchsübergang auf den Kläger bereits im Augenblick der Schädigungshandlung. Daraus folgt, dass es für die den Lauf der Verjährung nach § 852 Abs. 1 BGB auslösende Kenntnis von Schaden und Schädiger nicht auf den Kenntnisstand der Frau F., sondern auf das Wissen des Klägers ankommt. Dieses Wissen wird dem Kläger durch seine zuständigen Bediensteten vermittelt (vgl. Senatsurteil vom 22. April 1986 - VI ZR 133/85 - VersR 1986, 917, 918). Schon im ersten Rechtszug war unstreitig, dass die zuständigen Bediensteten des Klägers frühestens mit dem Eingang des Antrags der Frau F. auf Gewährung von Beschädigten-Versorgung am 3. Januar 1986 von den anspruchsauslösenden Vorkommnissen Kenntnis erlangt haben. Dies bedeutet, dass die am 30. Dezember 1988 bei Gericht eingegangene und am 5. Januar 1989 zugestellte Klage die Verjährung noch rechtzeitig unterbrochen hat (§§ 209 Abs. 1 BGB, 270 Abs. 3 ZPO).


III.

Die Klageansprüche sowie die mit der Anschlussberufung geltend gemachten weiteren Ansprüche des Klägers sind damit begründet. Die Drittbeklagte hat diese Ansprüche der Höhe nach nicht bestritten. Es waren deshalb die landgerichtlichen Urteile wiederherzustellen und die Drittbeklagte auf die Anschlussberufung des Klägers zur Zahlung weiterer 30.747,10 DM nebst Zinsen zu verurteilen.