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OLG München Urteil vom 26.04.2013 - 10 U 4938/12 - Zur Haftungsverteilung bei zu hoher Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten

OLG München v. 26.04.2013: Zur Haftungsverteilung bei zu hoher Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten


Das OLG München (Urteil vom 26.04.2013 - 10 U 4938/12) hat entschieden:
  1. Steht bei einem Vorfahrtunfall das Fahrzeug des Wartepflichtigen, während der Vorfahrtberechtigte mit einer zu hohen Ausgangsgeschwindigkeit auf die Kreuzung zufährt, so kann eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Vorfahrtberechtigten angemessen sein.

  2. Der Schätzung von Geschwindigkeiten durch Zeugen ist zwar mit Vorsicht zu begegnen. Dennoch erlaubt die glaubhafte Schilderung von Zeugen über ein rasantes Fahren, wahrgenommene hohe Geschwindigkeiten und die Feststellung eines hohen Motorgeräusches den Schluss, von einer höheren Geschwindigkeit auszugehen als der vom Sachverständigen festgestellten Mindestgeschwindigkeit.

  3. Bei einem Halswirbel-Schleudertrauma mit eintägiger Behandlung und fehlender Erwerbsunfähigkeit ist ein Schmerzensgeld von 300,00 € angemessen.

Siehe auch Zu hohe Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten und Stichwörter zum Thema Vorfahr


Gründe:

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg.

I. Das Landgericht ist zu Unrecht von einer Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Klägerin ausgegangen. Bei Heranziehung der vom Landgericht ermittelten Tatsachen haften die Beklagten zu 2/3 des der Klägerin entstandenen berechtigten Schadens einschließlich Zinsen und vorgerichtlicher Anwaltskosten.

1. Zutreffend hat die Berufungsklägerin darauf hingewiesen, dass auf Grund der vom Erstgericht durchgeführten Beweisaufnahme (Anhörung, Zeugeneinvernahme, Sachverständigengutachten) feststeht, dass das klägerische Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt stand, der Beklagte zu 1) mit einer zu hohen Ausgangsgeschwindigkeit fuhr und dieser bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit den Unfall räumlich und zeitlich hätte vermeiden sowie problemlos auf das langsame Einfahren und Stehenbleiben der Klägerin reagieren können.

Angesichts dieser Ausgangslage ist die vom Landgericht vorgenommene Haftungsverteilung zu Lasten der Klägerin nicht tragfähig (§ 17 I StVG). Der Verstoß des Beklagten zu 1) gegen §§ 1 II, 11 III StVO erscheint im Hinblick auf die Unfallvermeidbarkeit und die doch deutlich überhöhte Geschwindigkeit als so schwerwiegend, dass die Beklagten überwiegend haften. Die von der Berufungsklägerin angenommene Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten der Beklagten ist bei Beachtung der jeweiligen Verschuldensanteile der unfallbeteiligten Fahrer sachgerecht.

Dabei ist vor allem zu beachten, dass von einer gewissen Sichtbehinderung der Klägerin durch geparkte Fahrzeuge auszugehen ist, wie in der Skizze des Sachverständigen auf Bl. 75 d.A. festgehalten ist. Dem widerspricht auch nicht die Aussage der Zeugin B. (vgl. S. 3 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 17.03.2010, Bl. 33 d.A.), da die Zeugin nur angegeben hat, dass sie keine Sichtbehinderung durch die geparkten Autos hat feststellen können. Dies beweist, dass geparkte Fahrzeuge vorhanden waren (wie die Klägerin auf S. 3 der Klage vorgetragen hat), nicht aber, dass die Klägerin freie Sicht auf den Beklagten zu 2) gehabt habe. Selbst wenn man wie das Landgericht davon ausgeht, dass die Klägerin nicht so weit in die Straße hineinfahren hätte müssen, um das vom Beklagten zu 1) gesteuerte Fahrzeug sehen zu können, ist ihr insoweit trotz ihres festzustellenden Vorfahrtsverstoßes zugute zu halten, dass sie nur langsam gefahren war und beim Erkennen des Beklagtenfahrzeugs sofort angehalten hat.

Die vom Beklagten zu 1) gefahrene Geschwindigkeit war deutlich zu hoch. Der Sachverständige konnte in seinem Gutachten zwar nur eine Bandbreite von 64 bis 79 km/h angeben. Auf Grund der bereits vom Landgericht als glaubwürdig eingeschätzten Zeugen B. (vgl. S. 7 des Ersturteils, 3. Absatz) ist davon auszugehen, dass die vom Beklagten zu 1) gefahrene Geschwindigkeit über 70 km/h gelegen haben muss. Beide Zeugen haben von einer hohen Geschwindigkeit gesprochen. Der Beklagte zu 1) sei bereits mit hoher Geschwindigkeit eingebogen und habe dann noch weiter beschleunigt. Gleichzeitig berichteten beide Zeugen, dass ihnen das vom Beklagten zu 1) gesteuerte Fahrzeug, ein Mercedes SL 500, durch ein hohes Motorengeräusch aufgefallen ist. Der Senat verkennt nicht, dass die Schätzung von Geschwindigkeiten durch Zeugen mit Vorsicht zu begegnen ist. Dennoch erlaubt die glaubhafte Schilderung von Zeugen über ein rasantes Fahren, wahrgenommene hohe Geschwindigkeiten und die Feststellung eines hohen Motorgeräusches den Schluss, von einer höheren Geschwindigkeit auszugehen als der vom Sachverständigen festgestellten Mindestgeschwindigkeit. Hinsichtlich der Motorengeräusche hat die Zeugin B. bereits bei ihrer Vernehmung auf den Einwurf der Beklagten, das Fahrzeug sei mit einem Sportauspuff versehen gewesen (AMG-​Auspuff) klargestellt, dass sie nicht ein lautes Auspuff-​, sondern ein hohes Motorendrehzahlgeräusch wahrgenommen hat. Angesichts der Tatsache, dass nach eigener Sachkenntnis des Senats, der zuständig ist für Verkehrsunfälle aller Art, das vom Beklagten gefahrene Fahrzeug einen großvolumigen Achtzylindermotor besitzt, ist der Rückschluss auf eine höhere Geschwindigkeit bei höheren Drehzahlen hier zulässig. Es ist deshalb von einer Geschwindigkeitsüberschreitung von deutlich über 30% (bei zulässiger Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h) auszugehen, so dass hierdurch eine Haftungsverteilung mit überwiegender Haftung der Beklagten veranlasst ist. Soweit die Beklagten in der Berufungserwiderung auf die Randnummer 15 bei Grüneberg verweisen (vgl. Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 12. Aufl. 2012), ist dies deshalb schon unzulässig. Wie ein Blick in die hier einschlägige Randnummer 16 zeigt, ist eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Vorfahrtsberechtigten im Bereich einer Vielzahl obergerichtlicher Entscheidungen.

2. Das Ersturteil ist bei der Ermittlung der Höhe des klägerischen Anspruchs nicht ganz von Rechtsfehlern frei.

Bezüglich der Festsetzung eines angemessenen Schmerzensgeldes ist die landgerichtliche Begründung nicht tragfähig. Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht den notwendigen Hinweis an die Klägerin (§ 139 I ZPO) unterlassen, dass das in der Klage vom 24.09.2009 angekündigte Attest Anlage K 5 nicht vorgelegt wurde. Weiter fehlt eine Begründung, weswegen die angebotenen Zeugen (vgl. Beweisangebot Bl. 6 d.A.) nicht vernommen wurden. Die Begründung der Nichterholung eines (biomechanischen und) medizinischen Sachverständigengutachtens mit der Art der Verletzung ist abzulehnen. Da das Erstgericht dennoch von einer unfallbedingten Verletzung der Klägerin ausgegangen und die Klägerin Berufungsführerin ist, muss die Frage einer unfallbedingten Verletzung nicht mehr geklärt werden. Soweit die Beklagten insoweit die Erholung eines Gutachtens beantragten, ist dem nicht Folge zu leisten, da sie keine Anschlussberufung erhoben haben. Trotz dieser Rechtsfehler erscheint das festgesetzte Schmerzensgeld von 300,00 € auch bei Berücksichtigung der höheren Quote im Ergebnis als noch angemessen. Denn entgegen des Vortrags in der Klage ergibt sich aus dem mit der Berufungsbegründung vorgelegten ärztlichen Attest vom 01.09.2009 (Anlage K 5) lediglich, dass die Klägerin nur einen Tag am 28.07.2009 bei den Ärzten Dres. Bi. in Behandlung war, die Behandlung an diesem Tag abgeschlossen wurde und eine Erwerbsunfähigkeit der Klägerin auf Grund der geklagten Beschwerden nicht vorlag. Die Klägerin hat in der Berufungsbegründung nicht erläutert, weshalb diese Zeugen deshalb bestätigen können sollen, dass die Klägerin auch noch bis 2 Wochen nach dem Unfall an unfallbedingten Schmerzen im Hinblick auf eine HWS Distorsion gelitten habe (so noch der Vortrag in der Klage).

Zu Recht hat die Berufungsklägerin darauf hingewiesen, dass ihr nach den vorgelegten Unterlagen ein Nutzungsausfallschaden für 14 Tage zusteht. Dies ergibt sich zwanglos aus einer Wiederbeschaffungsdauer von 10 Werktagen und einer zuzubilligender Überlegungsfrist. Die Klägerin hat jedoch nur Anspruch auf eine Unkostenpauschale von 25,- €. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist ein Betrag von 25,- € angemessen. Für eine Anhebung der vor der Währungsumstellung zuletzt angenommenen 50,- DM (Senat NZV 2001, 220) besteht kein Anlass. Es besteht auch kein Anlass zu einer mit § 287 ZPO unvereinbaren Pseudogenauigkeit in Form einer Umrechnung auf 25,56 € oder 26,- €, wie sie etwa Thalmair in DAR 2007, 594 vertritt (vgl. Senat, Urt. v. 16.07.2004 - 10 U 1953/04; v. 18.03.2005 - 10 U 5448/04; v. 27.01.2006 - 10 U 4904/05 = NZV 2006, 261 [262]; v. 28.07.2006 - 10 U 2237/06 = DAR 2006, 692; v. 24.11.2006 - 10 U 4845/06; v. 13.11.2009 - 10 U 3258/09; ebenso OLG Celle NJW-​RR 2004, 1673; LG Passau, Urt. v. 27.07.2006 - 3 O 1202/05). Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten können wie bereits angefallene Sachverständigenkosten oder geschätzte Reparaturkosten im Schadensersatzprozess neben der Hauptsache geltend gemacht werden (BGH VersR 2007, 265; Senat AnwBl. 2006, 768 f.; Urt. v. 29.06.2007 - 10 U 5755/06). Nach § 249 I, II 1 BGB sind diejenigen adäquat verursachten Rechtsverfolgungskosten in Form vorprozessualer Anwaltskosten zu ersetzen, die aus Sicht des Schadensersatzgläubigers zur Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (Senat a.a.O. ). Als erforderlich sind die nach dem Urteil begründeten Forderungen anzusehen (BGH MDR 2008, 351 [352]; Senat a.a.O. ). Auch bei sog. einfachen Regulierungssachen handelt es sich um eine durchschnittliche Angelegenheit, bei der die Berechnung einer 1,3 Geschäftsgebühr nach Nr. 2400 VV RVG angemessen ist (BGH AnwBl. 2007, 154 ff.; Senat a.a.O. ).

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 I 1 Fall 1 ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

V.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.