Das Verkehrslexikon

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Amtsgericht Montabaur Urteil vom 30.04.2013 - 5 C 63/13 - Zu den Auswirkungen eines Verkehrsverstoßes auf die Haftungsquote

AG Montabaur v. 30.04.2013: Zu den Auswirkungen eines Verkehrsverstoßes auf die Haftungsquote




Das Amtsgericht Montabaur (Urteil vom 30.04.2013 - 5 C 63/13) hat entschieden:

   Die Berufung auf einen Anscheinsbeweis erfordert, dass die Voraussetzungen des jeweiligen zu dem Anscheinsbeweis führenden Tatbestands erfüllt sind; hierfür trägt derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft, die volle Beweislast.

Die besonderen Pflichten des § 10 StVO richten sich nur an den nicht verkehrsbedingt anhaltenden Fahrzeugführer.

Das Umfahren eines nicht lediglich verkehrsbedingt stehenden Fahrzeugs ist kein Überholen i.S.v. § 5 StVO; allerdings trifft grundsätzlich denjenigen, der an einem nicht verkehrsbedingt haltenden Fahrzeug vorbeifahren will und hierzu ausscheren muss, eine gesteigerte Sorgfaltspflicht nach § 6 StVO.

Das Vorbeifahren an einem verkehrsbedingt wartenden Fahrzeug stellt ein Überholen i.S.v. § 5 StVO dar. Wenn der Überholende bereits vorher nach links ausgeschert ist, beginnt das Überholen in diesem Fall mit der deutlichen Verkürzung des Abstands zu dem überholten Wagen.

Zwar reicht die Missachtung von Verkehrsvorschriften grundsätzlich nicht aus, andere Verkehrsteilnehmer von der Befolgung der an sie gerichteten Sorgfaltspflichten zu befreien, denn jeder Verkehrsteilnehmer muss im gewissen Maß damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer sich verkehrswidrig verhalten. Anders stellt sich die Rechtslage indes dar, wenn das Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers nicht nur unzulässig, sondern in besonderes grobem Maße verkehrswidrig wäre und aus diesem Grunde für den Geschädigten so fern liegt, dass er sich auch unter Berücksichtigung der ihn treffenden Sorgfaltspflicht auf eine derartige Möglichkeit nicht einstellen braucht. Dann wirkt sich eine eigene Sorgfaltspflichtverletzung ausnahmsweise jedenfalls haftungsrechtlich nicht aus (im Anschluss an BGH NJW-RR 1987, 1048 sowie LG Erfurt ZfS 2007, 78 und LG Hildesheim ZfS 1992, 258).

Keine Nutzungsausfallentschädigung nach Verkehrsunfall, wenn der Geschädigte krankheitsbedingt sein Fahrzeug nicht nutzen kann und den das Fahrzeug mitnutzenden Familienmitgliedern eigene Fahrzeuge zur Verfügung stehen.

Der Erlass eines Teilurteils setzt voraus, dass nicht die Gefahr wiedersprechender Entscheidungen zwischen dem Teilurteil und dem nachfolgenden Schlussurteil besteht; ggfls. ist zugleich ein Grundurteil über den Restklageanspruch zu erlassen.


Siehe auch
Vorbeifahren (an haltenden Fahrzeugen)
und
Stichwörter zum Thema Überholen

Tatbestand:


Die Parteien streiten um restlichen Schadenersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 19.10.2012 gegen 9.10 Uhr auf der Hauptstraße ... kurz nach dem Ortseingang in ... aus Richtung ... in Fahrtrichtung ... ereignete.

Der Kläger passierte innerorts mit dem damals in seinem Eigentum stehenden Pkw VW Golf, ..., eine Verkehrsinsel, hinter welcher auf der Richtungsfahrbahn des Klägers gut sichtbar ein Posttransporter parkte. Die Beklagte zu 1) folgte dem Kläger mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw VW Golf, ..., und passierte die mit zum Rechtsumfahren auffordernden Verkehrszeichen 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("vorgeschriebene Vorbeifahrt") versehene Verkehrsinsel auf der linken Seite auf der Gegenfahrbahn. Nach der Verkehrsinsel kam es zur Kollision als der Kläger den parkenden Posttransporter links ebenfalls unter Benutzung der Gegenfahrbahn umfahren wollte. Die Anstoßstellen befanden sich beim Klägerfahrzeug im Bereich vom Ende der Fahrertür über die linke hintere Tür bis zum Beginn des Radkastens des linken Hinterrads und beim Beklagtenfahrzeug am rechten vorderen Kotflügel.

Der Kläger nutzte den Unfallwagen regelmäßig, um auf die Arbeit zu gelangen. Gelegentlich wurde das Fahrzeug von der Ehefrau bzw. der Tochter des Klägers genutzt, die aber beide eigene Fahrzeuge hatten, die Tochter ebenfalls einen VW Golf und die Ehefrau einen VW Polo.

Die Beklagte zu 2) hat ... auf Basis hälftiger Haftungsverteilung bei einem der Höhe nach anerkannten Gesamtschaden von 3.001,08 € zzgl. Anwaltskosten ... reguliert. ... Den nicht regulierten Teil nebst Anwaltskosten macht der Kläger mit vorliegender Klage geltend.

Der Kläger trägt vor:

Bei Annäherung an das Postfahrzeug habe er seine Geschwindigkeit lediglich verringert und aufgepasst, dass aus diesem Fahrzeug niemand aussteige. Sodann habe er, um das stehende Postauto zu umfahren, zunächst den rückwärtigen Verkehr beachtet und links geblinkt. Schließlich habe er, ohne zuvor anzuhalten, sein Fahrzeug nach links gezogen und als er so die Straßenmitte überquert gehabt habe, habe es hinter ihm eine heftige Kollision gegeben, weil die Beklagte zu 1) in sein Fahrzeug rücksichtslos und grob verkehrswidrig mit absolut unangepasster äußerst hoher Geschwindigkeit hineingefahren sei. Das Postfahrzeug habe in einiger Entfernung, nämlich im Abstand von einigen Fahrzeuglängen entfernt von der Verkehrsinsel in Höhe der rechts befindlichen weißen Garage zwischen den dort rechts vorhandenen beiden Grundstückseinfahren geparkt gehabt. Aufgrund der Sicht- und Verkehrsverhältnisse habe die Beklagte zu 1) das Fahrverhalten des Klägers eindeutig verstehen und auch mit einem Ausscheren des Klägers rechnen müssen, während ein Linksumfahren der Verkehrsinsel nicht erforderlich gewesen sei. Zumindest habe für die Beklagte zu 1) eine unklare Verkehrslage bestanden. Demgegenüber habe der Kläger mit solche einem, sämtliche Verkehrsvorschriften missachtenden verkehrswidrigem Verhalten der Beklagte zu 1) ... nicht rechnen müssen. Der Unfall sei für ihn unabwendbar gewesen, jedenfalls aber würden die vom Klägerfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr bzw. ein geringes Mitverschulden des Klägers zurücktreten.

Durch den Verkehrsunfall habe er, der Kläger, ein ... erlitten ..., wobei er unfallbedingt vom 19. bis 24.10.2012 zu 100% arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei und in dieser Zeit auch nicht habe Auto fahren können ... .

Der Kläger beantragt mit am 20.03.2013 zugestellter Klage,

   die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 2.333,56 € nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit 06.11.2013 zu zahlen sowie außergerichtliche anwaltliche Mahnkosten zu erstatten in Freistellung des Klägers durch Zahlung an dessen Prozessbevollmächtigte unmittelbar, in Höhe eines Betrages von 173,27 € nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.

Die Beklagten beantragen,

   die Klage abzuweisen.

Die Beklagten tragen vor:

Die Beklagte zu 1) habe sich mit angemessener Geschwindigkeit der Verkehrsinsel genähert als der Kläger nach der Verkehrsinsel bis zum Stillstand hinter dem Posttransporter abgebremst habe. Da ihr die Lücke zwischen dem Heck des Postautos und der Verkehrsinsel als für ein Passieren nicht ausreichend erschien, habe sie sich entschlossen, an der Verkehrsinsel links vorbeizufahren. Dabei habe sie während der linksseitigen Vorbeifahrt an der Verkehrsinsel das Klägerfahrzeug beobachtet, welches unverändert gestanden habe. Als sich die Beklagte zu 1) bereits auf gleicher Höhe mit dem immer noch stehenden Klägerfahrzeug befunden habe, sei der Kläger plötzlich und gleichzeitig nach links steuernd losgefahren und gegen den rechten vorderen Kotflügel des Beklagtenfahrzeugs gestoßen.

Das Mitverschulden der Beklagte zu 1) an dem Unfall belaufe sich allenfalls auf 50%, denn die Beklagte zu 1) habe sich nicht bewusst über die Verkehrsregeln hinweggesetzt, sondern habe die konkrete Verkehrssituation fehlerhaft eingeschätzt, indem sie den Eindruck gewonnen gehabt habe, dass der Kläger beabsichtige hinter dem Postfahrzeug anzuhalten. Wäre der Kläger nach der Verkehrsinsel weiter gefahren, wäre sie ihm rechts um die Verkehrsinsel herumfahrend gefolgt. Ihr Verschulden wiege nicht höher als dasjenige des Klägers, welcher aus dem ruhenden Verkehr aus dem Stand heraus angefahren und ausgeschert sei, ohne sich vom rückwärtigen Verkehr zu überzeugen.

Nutzungsausfallentschädigung stehe mangels Nachweises des tatsächlichen Nutzungswillens und Nutzungsentgangs nicht zu.





Entscheidungsgründe:


I.

Infolge der im Gerichtstermin am 23.04.2013 erstmals offenbarten unreparierten Veräußerung des Unfallwagens des Klägers am 24.03.2013, welche Auswirkungen auf die Berechnung des zu ersetzenden materiellen Schadens haben kann, ist der vorliegende Rechtsstreit noch nicht vollumfänglich entscheidungsreif.

Nachdem die Parteien aber zunächst auch um die Haftungsquote dem Grunde nach streiten, erscheint hier der Erlass eines Grundurteils nach § 304 ZPO sachgerecht, zumal das Ausmaß eines weiteren Aufklärungsbedarfs des materiellen Schadens in der Höhe infolge der bereits erfolgten Teilregulierung hier auch vom Umfang der Haftung dem Grunde nach abhängen kann.

Zugleich kann aber bereits jetzt über das begehrte Schmerzensgeld und den verlangten Nutzungsausfallschaden abschließend durch Teilurteil entscheiden werden. Denn diese, bislang von den Beklagten vollumfänglich noch nicht regulierten Ansprüche stehen dem Kläger unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu, § 301 Abs. 1 ZPO. Da diese Ansprüche aus Gründen, die die übrigen geltende gemachten Schadenspositionen nicht betreffen, aberkannt werden, besteht auch keine Gefahr von einander widersprechenden Entscheidungen, welche den Erlass eines Teilurteils ausschließen würde.





II.

Schmerzensgeld und Nutzungsausfallschaden kann der Kläger nicht verlangen.

1. Die Beklagten wenden zutreffend ein, dass der Kläger nicht ausreichend dargetan hat, inwieweit das Unfallereignis geeignet gewesen sein soll, die behaupteten HWS-​Verletzungen und Beschwerden hervorzurufen.

2. Eine Nutzungsausfallentschädigung kann wiederum nur zuerkannt werden, wenn ein entsprechender Nutzungswille und eine entsprechende Nutzungsmöglichkeit vorhanden waren. ... Indes hat der Kläger im Termin am 23.04.2013 mitgeteilt, dass er nach dem Unfall eine Woche nicht Auto fahren konnte. Somit hat er mangels Nutzungsmöglichkeit keinen Nutzungsausfall erlitten, denn während dieser Zeit hätte das Fahrzeug instand gesetzt werden können und er hätte es ohnehin nicht nutzen können.

Hieran ändert auch die gelegentliche Nutzung des Unfallfahrzeugs durch die Ehefrau und die Tochter des Klägers nicht, denn beide haben zum einen eigene Fahrzeuge und zum anderen ist nicht dargetan, weshalb ein konkreter Nutzungsbedarf gerade an vier Tagen in der Woche nach dem Unfall bestand.





III.

Im Übrigen haften die Beklagten dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls am 19.10.2013 nach dem unstreitigen Sachverhalt und dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie der Anhörung der unfallbeteiligten Fahrzeugführer dem Grunde nach in vollem Umfang gemäß §§ 7, 17 StVG, 249 ff., 421 BGB, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG.

1. Unstreitig hat die Beklagte zu 1) unter vorsätzlicher Missachtung des Zeichens 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("Vorgeschriebene Vorbeifahrt") die Verkehrsinsel links umfahren. Hierbei handelt es sich um ein Vorschriftszeichen, welches die zu wählende Seite der Vorbeifahrt zwingend vorschreibt. Soweit die Beklagten meinen, hierin sei kein bewusstes Hinwegsetzen über die Verkehrsregeln zu sehen, kann dies nur die Schlussfolgerung rechtfertigen, den Beklagten sei das Zeichen 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("Vorgeschriebene Vorbeifahrt") und dessen Inhalt nicht bekannt.

2. Der Beklagten zu 1) stand hier weder ein Rechtfertigungs- und/oder Entschuldigungsgrund zur Seite noch befand sie sich in einem anzuerkennenden Erlaubnistatbestandsirrtum oder in einem vermeidbaren Verbotsirrtum.




Es kann dahinstehen, ob die Beklagte zu 1) berechtigt gewesen wäre, die Verkehrsinsel links zu umfahren, wenn entweder das Postfahrzeug oder der Kläger so dicht hinter der Verkehrsinsel geparkt hätten, dass der Beklagten zu 1) oder/und dem Kläger ein Fortsetzen der Fahrt nach dem Passieren der Verkehrsinsel auf der rechten Straßenseite nicht möglich gewesen wäre.

Denn selbst in diesem Fall hätte die Beklagte zu 1) allenfalls im Schritttempo unter ständiger Bremsbereitschaft und Beobachtung der Verkehrslage, also insbesondere möglichen Gegenverkehrs sowie des Postfahrzeugs und vor allem des Klägers die Verkehrsinsel auf der verbotenen Seite links passieren dürfen. Zwar behauptet die Beklagte zu 1), dass sie während der linksseitigen Vorbeifahrt an der Verkehrsinsel das Klägerfahrzeug beobachtet habe. Hätte sie dies indes tatsächlich getan, dann hätte sie alsbald nach Annäherung erkennen müssen, dass entgegen ihrer behaupteten Einschätzung der Platz hinter dem Postfahrzeug ausreichend war, um die Verkehrsinsel vorschriftsmäßig rechts zu passieren und dann anschließend links an dem Postfahrzeug vorbeizufahren. In dieser Erkenntnis hätte der Beklagten zu 1) sodann nicht nur die Vorschriftswidrigkeit ihres Fahrmanövers, sondern auch dessen Nichterforderlichkeit bewusst werden müssen, sowie der Umstand, dass der Kläger mit solch einem grob vorschriftswidrigem Verkehrsverhalten der Beklagten zu 1) wohl nicht rechnet. Dies hätte die Beklagte zu 1) sodann zum sofortigen Anhalten aus der angezeigten Schritttempofahrt und zu einer Verständigun

g mit dem Kläger gezwungen. Stattdessen fuhr die Beklagte zu 1) selbst nach ihren eigenen Angaben mit bis zu 30 km/h um die Verkehrsinsel herum, mithin mit rund mehr als dem Vierfachen von Schritttempo. Hierbei war es ihr augenscheinlich schon aufgrund des erforderlichen Bremswegs nicht möglich, ihr Fahrzeug jederzeit sofort quasi an Ort und Stelle zum Stehen zu bringen. Wie bereits ausgeführt, wäre dies aufgrund der vorhandenen Verkehrslage notwendig gewesen, wenn man hier überhaupt eine Rechtfertigung zum Umfahren der Verkehrsinsel entgegen der zwingenden Vorgabe des Zeichens 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("Vorgeschriebene Vorfahrt") in Erwägung ziehen möchte.

Damit ist das Handeln der Beklagten zu 1) zugleich nicht als anzuerkennender Erlaubnistatbestandsirrtum zu sehen. Denn selbst wenn die Einlassung der Beklagten zu 1), sie habe die konkrete Verkehrssituation fehlerhaft eingeschätzt, zutreffend wäre, hätte sie auf die falsch eingeschätzte Verkehrssituation immer noch nicht angemessen reagiert.


Da die Beklagte zu 1) aufgrund der vorgefundenen Verkehrslage, nämlich des dort einerseits schon länger parkenden Postfahrzeugs und anderseits des zuvor vor ihr herfahrenden Klägers auch damit rechnen musste, dass der Kläger dort nicht ebenfalls parken oder jedenfalls bis zur Weiterfahrt des Postautos warten will, wobei die Beklagte zu 1) - wie oben ausgeführt - spätestens in Höhe der Verkehrsinsel auch bei erforderlicher Aufmerksamkeit hätte erkennen können, dass der Platz zwischen Posttransporter und Verkehrsinsel dem Kläger ein Vorbeifahren ermöglichte, musste der Beklagten zu 1) auch klar sein, dass sie, wenn überhaupt, nur in der vorstehend beschriebenen besonders vorsichtigen Art und Weise links an der Verkehrsinsel hätte vorbeifahren dürfen. Damit ist in ihrer Person auch ein anzuerkennender entschuldbarer Verbotsirrtum ausgeschlossen.

3. Die Beklagte zu 1) kann nicht damit gehört werden, dass der Kläger dort hinter dem Postfahrzeug angehalten hatte und so folglich zum ruhenden Verkehr zu zählen war. Denn dies hat sie nicht zu beweisen vermocht. Somit spricht hier auch kein Anscheinsbeweis für einen Verstoß des Klägers gegen § 10 StVO. Zwar kommt ein solcher Anscheinsbeweis in Betracht, wenn ein Fahrzeugführer den qualifizierten Pflichten des § 10 StVO zuwider handelt. Jedoch erfordert ein Anscheinsbeweis, dass die Voraussetzungen des jeweiligen zu dem Anscheinsbeweis führenden Tatbestands erfüllt sind. Hierfür trägt derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft, die volle Beweislast.

Unstreitig ist der Kläger vor dem Zusammenstoß nach links angefahren. Die besonderen Pflichten des § 10 StVO richten sich allerdings nur an den nicht verkehrsbedingt anhaltenden Fahrzeugführer und umfasst das besondere Gefahrenpotential eines von einer Ruheposition wieder in den Fahrverkehr zurückkehrenden Fahrzeugs. Das ledigliche Wiederanfahren nach verkehrsbedingtem Anhalten fällt demgegenüber nicht unter § 10 StVO (vgl. Hentschel/König Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. 2009 § 10 StVO Rdn. 7 sowie KG NZV 2004, 633, OLG Zweibrücken VerkMitt 1977, 53; BayObLG DAR 1984, 31 und 1985, 88; AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12).

Die Beklagten haben nicht zu beweisen vermocht, dass der Kläger überhaupt angehalten hat und selbst falls er stand, dass dies nicht lediglich verkehrsbedingt geschah. Die Angaben des Klägers und der Beklagten zu 1) widersprechen sich diesbezüglich. Zwar hat der Zeuge D. bekundet, dass der Kläger hinter dem Postauto zum Stehen gekommen sei; der Zeuge sprach allerdings nur davon, dass der Kläger langsamer geworden ist, "bis er fast zum Stehen gekommen ist bzw. bis er zum Stehen gekommen ist." Darüber hinaus hat der Zeuge angegeben, dass er das Klägerfahrzeug "nicht so genau beobachtet" hat. Damit erscheint bereits zweifelhaft, ob die Aussage des Zeugen D. überhaupt ein Stehen des Klägerfahrzeugs bestätigen kann. Jedenfalls aber hätte es sich bei diesem Stehen nicht um ein längeres Anhalten gehandelt. Nachdem zudem weder nach den Angaben der Beklagten zu 1) noch nach der Aussage des Zeugen D. ersichtlich ist, dass der Kläger hierbei rechts rangefahren war, kann, wenn überhaupt, nur von einem kurzzeitigen verkehrsbedingten Anhalten ausgegangen werden. Dies wiederum lässt sich widerspruchsfrei sowohl mit den Angaben des Klägers, wonach er zunächst geschaut hat, ob jemand aus dem Postfahrzeug aussteigt, als auch der zeitlichen Schilderung der Beklagten zu 1) und des Zeugen D. in Übereinstimmung bringen.

4. Kann der Kläger somit nicht dem ruhenden Verkehr zugeordnet werden, ist der Beklagten zu 1) nicht lediglich ein vorsätzlicher Verstoß gegen Zeichen 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("Vorgeschriebene Vorfahrt") vorzuwerfen, sondern zusätzlich ein zumindest fahrlässiges unzulässiges Überholen bei erkennbar unklarer Verkehrslage, § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO.

Ein Überholen liegt dabei auch bei einem Vorbeifahren an einem anderen verkehrsbedingt, z.B. infolge Gegenverkehrs, wartenden Fahrzeug vor (vgl. Hentschel/König aaO. § 5 StVO Rdn. 16 m.w.Nw. und AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12) und beginnt, wenn der Überholende – wie hier die Beklagte zu 1) aufgrund des Umfahrens der Verkehrsinsel auf der falschen Seite – bereits vorher nach links ausgeschert ist, mit der deutlichen Verkürzung des Abstands zu dem überholten – hier also zu dem des Klägers – Wagen (vgl. Hentschel/König aaO. § 5 StVO Rdn. 22 m.w.Nw. und AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12). Damit begann das nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO verkehrswidrige Überholen der Beklagten zu 1) unmittelbar im Anschluss bzw. während des letzten Teils des verbotswidrigen Umfahrens der Verkehrsinsel zeitlich noch vor dem Ausscheren des Klägers nach links. Lediglich in dem Vorbeifahren an nicht verkehrsbedingt stehenden Fahrzeugen liegt kein Überholen mehr (vgl. Hentschel/König aaO. § 5 StVO Rdn. 18 m.w.Nw. und AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12).


5. Nachdem das Postfahrzeug unstreitig nicht lediglich verkehrsbedingt gestanden hatte, trafen andererseits den Kläger hier nicht die Pflichten eines Überholers nach § 5 StVO (vgl. Hentschel/König aaO. § 5 StVO Rdn. 18 m.w.Nw. und AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12).

Allerdings trifft grundsätzlich auch denjenigen eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, der an einem nicht verkehrsbedingt haltenden Fahrzeug vorbeifahren will und hierzu ausscheren muss, § 6 StVO. Der Kläger musste sich demnach grundsätzlich vor dem Ausscheren vergewissern, dass dadurch schon nahe aufgerückte, sich von hinten nähernde andere Fahrzeuge nicht gefährdet werden. Wenngleich den nachfolgenden Autos - hier also der Beklagten zu 1) - kein grundsätzlicher Vorrang zusteht, darf grundsätzlich nur nach Rückschau und Blinken zum Ausscheren angesetzt werden, sofern der nachfolgende Verkehr noch ausreichend weit entfernt ist; es darf also regelmäßig nicht darauf vertraut werden, dass nachfolgende Verkehrsteilnehmer den Ausscherenden zuerst passieren lassen, auch wenn dies deren Pflicht wäre (vgl. Hentschel/König aaO. § 6 StVO Rdn. 6 m.w.Nw. und AmtsG Montabaur Urteil vom 09.02.2012 - 5 C 2/12).

a) Gegen diesen Pflichtenkatalog hat der Kläger hier nicht durch unterlassenes Blinken verstoßen. Denn das Gericht ist nach dem gesamten Inhalt der Verhandlung und der Anhörung der unfallbeteiligten Fahrzeugführer sowie der Vernehmung des Zeugen (§ 286 ZPO) der Überzeugung, dass der Kläger, wie von diesem vorgetragen, rechtzeitig geblinkt hat.

Zwar hat die Beklagte zu 1) heute angegeben, einen Blinker des Klägers nicht gesehen zu haben. Nachdem diese indes zum einen die Verkehrslage insgesamt falsch eingeschätzt haben will und zum anderen - wie oben aufgezeigt - sodann dem Verkehrsgeschehen nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit begegnet war, genügt diese Angabe der Beklagten zu 1) nicht, um am Wahrheitsgehalt der Darstellung des Klägers zu zweifeln.




Der Zeuge D. wiederum hat zwar auch keinen Blinker am Klägerfahrzeug bestätigt. Wie jedoch bereits ausgeführt, hat der Zeuge indes auch angegeben, dass Klägerfahrzeug "nicht so genau beobachtet" zu haben. Somit sind seine Angaben nicht geeignet, begründete Zweifel am ordnungsgemäßen Blinken des Klägers zu streuen.

b) Allerdings hat der Kläger vor dem Ausscheren den rückwärtigen Verkehr auf der Gegenfahrbahn nicht ausreichend beobachtet. Denn sonst hätte er die Beklagte zu 1) gesehen.

Während der Verkehrsunfall für den Kläger damit zwar nicht unabwendbar war, führt dieses Unterlassen vorliegend ausnahmsweise dennoch nicht zu einer Mithaftung des Klägers.

Unabhängig davon, wo das Postfahrzeug hier genau abgestellt war, ereignete sich der Verkehrsunfall in einer solchen unmittelbaren Nähe zu dem Ende der Verkehrsinsel, dass für den dem Kläger nachfolgenden Verkehr bei einem verkehrsgerechten Umfahren der Verkehrsinsel auf der rechten Seite ein Überholen des Klägers dort nicht möglich war. Daher konnte der Kläger hier darauf vertrauen, dass ihn ein nachfolgender Kraftfahrer nicht überholt, wenn dies nur unter verkehrswidrigem Umfahren der Verkehrsinsel möglich ist (vgl. BGH NJW-​RR 1987, 1048 zum vergleichbare Fall des Überholens, welches nur unter Inanspruchnahme einer Sperrfläche möglich ist).

Zwar ordnet Zeichen 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO ("Vorgeschriebene Vorbeifahrt") wie bei Sperrflächen nach Zeichen 298 zu § 41 StVO kein Überholverbot an (vgl. BGH aaO.). Denn ein Verstoß wird nur nach § 49 Abs. 3 Nr. 5 StVO und nicht als Verstoß gegen ein Überholverbot geahndet. Daraus, dass die mit Zeichen 222 zu § 41 Abs. 2 Nr. 3 StVO "vorgeschriebene Vorbeifahrt" selbst dort nicht einem Überholverbot im Sinne von § 5 Abs. 3 StVO gleichzusetzen ist, wo wegen der Beschaffenheit der Straße ein Überholen an dieser Stelle nicht ohne eine Missachtung der "vorgeschriebenen Vorbeifahrt" möglich ist, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass eine derartig "vorgeschriebene Vorbeifahrt" keine Auswirkungen auf die Verkehrserwartung eines vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers hat. Im Gegenteil schützt eine solche "vorgeschriebene Vorbeifahrt", wo sie sich - wie hier - wegen der Enge der Fahrbahn faktisch wie ein Überholverbot auswirkt, auch das Vertrauen des Vorausfahrenden, an dieser Stelle nicht mit einem Überholtwerden rechnen zu müssen. Er darf sich - ähnlich wie bei einer natürlichen Straßenverengung oder einer Sperrflächenmarkierung - darauf verlassen, dass ein nachfolgender Verkehrsteilnehmer sich verkehrsordnungsgemäß verhält, also nicht zum Überholen ansetzt, wenn dies - ähnlich des Überfahren der Fahrstreifenbegrenzung oder der Sperrfläche - nur durch das Umfahren einer Verkehrsinsel auf der falschen Seite möglich ist. Damit muss nicht gerechnet werden, so dass der Voranfahrende sein Verkehrsverhalten auch nicht darauf einstellen muss (vgl. BGH aaO.).



Zwar reicht die Missachtung von Verkehrsvorschriften grundsätzlich nicht aus, andere Verkehrsteilnehmer von der Befolgung der an sie gerichteten Sorgfaltspflichten zu befreien, denn jeder Verkehrsteilnehmer muss im gewissen Maß damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer sich verkehrswidrig verhalten. Anders stellt sich die Rechtslage indes dar, wenn das Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers nicht nur unzulässig, sondern in besonderes grobem Maße verkehrswidrig wäre und aus diesem Grunde für den Geschädigten so fern liegt, dass er sich auch unter Berücksichtigung der ihn treffenden Sorgfaltspflicht auf eine derartige Möglichkeit nicht einstellen braucht (vgl. LG Erfurt ZfS 2007, 78 und LG Hildesheim ZfS 1992, 258). Das war vorliegend aus den geschilderten Gründen der Fall.

Das schutzwürdige Vertrauen des Klägers wäre erst in dem Augenblick beendet, zu dem er das Fahrmanöver der Beklagten zu 1) erkannt hat (vgl. BGH aaO.). Dies war vorliegend indes erst frühestens mit dem Zusammenstoß der Fall.

Folglich konnte der Kläger sich hier darauf verlassen, dass er dort nicht überholt wird, so dass seinerseits eine Gefährdung des rückwärtigen Verkehrs ausgeschlossen war, weshalb er seiner grundsätzlich nach § 6 StVO bestehenden Rückschaupflicht nicht genügen musste bzw. jedenfalls sich ein Verstoß gegen diese haftungsrechtlich nicht auswirkt (vgl. BGH aaO. und LG Erfurt ZfS aaO. sowie LG Hildesheim aaO.).

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