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BGH Urteil vom 14.02.1967 - VI ZR 139/65 - Anscheinsbeweis für Abkommen von gerader Fahrbahn bei Glatteis
BGH v. 14.02.1967: Zum Anscheinsbeweis für Abkommen von gerader Fahrbahn bei Glatteis und zur Verwertung strafprozessualer Zeugenaussagen im Zivilprozess
Der BGH (Urteil vom 14.02.1967 - VI ZR 139/65) hat entschieden:
- Das Abkommen eines KFZ von gerader Fahrbahn und Abrutschen in den Straßengraben spricht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises für ein Verschulden des Fahrers; das gilt auch bei - voraussehbarer - Glatteisbildung.
- Die Betriebsgefahr eines Lastzugs kommt auch dann noch als Unfallursache in Betracht, wenn das Fahrzeug sich im Unfallzeitpunkt nicht mehr im Betrieb befunden, eine von ihm geschaffene gefährliche Lage aber fortgewirkt hat.
- Die Bitte um Wiederholung einer im Strafprozess erfolgten Beweisaufnahme bedeutet im Haftpflichtprozess die erstmalige Antretung eines Zeugenbeweises iS des ZPO § 373 und ist nicht als Antrag auf wiederholte Vernehmung nach ZPO § 398 anzusehen.
Siehe auch Abkommen von der Fahrbahn - Schleuderunfall und Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung und Zeugen - Zeugenbeweis
Tatbestand:
Am 14. Februar 1955 gegen 22,10 Uhr verunglückte der am ... 1903 geborene Kohlenhändler Karl K bei einem Verkehrsunfall auf der Landstraße zwischen Greven und Schmedehausen in Höhe des Kilometersteins 3,8 tödlich. Zu dem Unfall kam es folgendermaßen: K fuhr mit seinem aus einem Unimog mit Anhänger bestehenden Lastzug, der mit ca. 5 to Kohlen beladen war, gegen 19 Uhr in Richtung Schmedehausen. Zwischen den Kilometersteinen 3,7 und 3,8 befindet sich, in Fahrtrichtung Ks gesehen, rechts der Straße ein Wäldchen, daran anschließend ein Wäldchen an der anderen Straßenseite. Die 6 m breite, etwas gewölbte Fahrbahn war an dieser Stelle vereist. K kam mit seinem Lastzug ins Rutschen und geriet nach links über den sich an die Fahrbahn anschließenden 4 m breiten und festgefrorenen Sommerweg in den Straßengraben. K benachrichtigte den ihm bekannten Fuhrunternehmer Be, der alsbald mit seinem Lastwagen und zwei Leuten an der Unfallstelle erschien, um den Lastzug zu bergen. Sie luden zunächst die Kohlen von dem Anhänger auf den Lastwagen um, zogen den Anhänger aus dem Graben und stellten ihn etwa 25 m zurück in Richtung Greven ab, und zwar auf dem Sommerweg hart am Grabenrand mit leichter Schrägstellung. An der am weitesten in den Straßenraum ragenden Ecke des Anhängers hängte man eine brennende rote Sturmlaterne auf. Anschließend entlud man den Unimog und ging daran, ihn aus dem Graben zu ziehen. Während dieser Arbeiten – es war inzwischen fast 22 Uhr geworden – kam der Kraftfahrer B mit seinem Lastzug aus Richtung Greven, hielt vor der Unfallstelle und stellte sodann, um bei der Bergung zu helfen, seinen Lastzug, aus Richtung Greven gesehen, hinter den Lastwagen des Be links auf dem Sommerweg mit eingeschaltetem Abblendlicht ab. Nunmehr nahm der Schwager des Be, Q, die bis dahin in Richtung Schmedehausen aufgestellte rote Sturmlaterne in die Hand und stelle sich mit dieser in Höhe des schräg am linken Straßenrand in Richtung Schmedehausen stehenden Lastwagens Be auf der noch freien rechten Fahrbahnhälfte zur Warnung anderer Verkehrsteilnehmer auf. Gegen 22,10 Uhr kam der Beklagte mit seinem mit rund 20 to Kohlen leicht überladenen Lastzug aus Richtung Greven. Er sah, wie er behauptet, infolge leichten Schneetreibens erst aus etwa 25 m Entfernung das Bergungsmanöver, bremste seinen mit etwa 38 km/h gefahrenen Lastzug stark ab und geriet dabei ins Schleudern. Der Lastzug rutschte nach links und stieß seitlich gegen den Lastwagen Be. K, der an der rechten Seite dieses Lastwagens stand, geriet zwischen die zusammenstoßenden Fahrzeuge; er erlitt eine Schädelfraktur und war sofort tot.
Die Klägerinnen zahlen der Witwe K Witwenrente; dem Sohn Wilfried haben sie bis zum 31. Dezember 1961 Waisenrente gezahlt. Mit der Klage machen sie die auf sie nach § 1542 RVO übergegangenen Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen geltend. Sie haben als Gesamtgläubiger die Zahlung von 18.000 DM nebst Zinsen sowie die Feststellung begehrt, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihnen als Gesamtgläubigern die an die Witwe K nach dem 31. Dezember 1961 zu zahlenden Beträge bis zur Höhe des Unterhaltsschadens der Witwe K zu ersetzen. Die Klägerinnen haben vorgetragen, der Beklagte habe durch unaufmerksame, verkehrswidrige Fahrweise den Unfall allein verschuldet. Der Unterhaltsschaden der Witwe K infolge Rückganges der Einnahmen aus dem Kohlegeschäft belaufe sich bis zum 31. Dezember 1961 auf mindestens 12.000 DM, der des Sohnes auf 6.000 DM.
Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat bestritten, den Unfall allein verschuldet zu haben. Den Karl K treffe ein überwiegendes mitwirkendes Verschulden. Durch sein schuldhaftes Abkommen von der Fahrbahn habe er die grundlegende Unfallursache gesetzt. Bei der Bergung seines Lastzuges habe er die Unfallstelle nicht ordnungsmäßig abgesichert.
Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben.
Das Oberlandesgericht hat den Zahlungsanspruch dem Grunde nach bis zur Höhe von 1/3 des den Hinterbliebenen entzogenen Unterhalts für gerechtfertigt erklärt und festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, den Klägerinnen als Gesamtgläubigern ab 31. Dezember 1961 ihre unfallbedingten Aufwendungen an die Witwe K bis zur Höhe von 1/3 des ihr entzogenen Unterhalts zu ersetzen, und zwar bis zum 15. Oktober 1977.
Mit der Revision verfolgen die Klägerinnen die Zuerkennung ihrer Klageansprüche in vollem Umfang weiter. Der Beklagte bittet im Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe:
Das Berufungsgericht geht zutreffend von einem unfallursächlichen Verschulden des Beklagten aus.
Dem getöteten K legt es ohne Rechtsirrtum ein mitwirkendes Verschulden zur Last. K hat, wie es zutreffend darlegt, die erste, grundlegende Unfallursache dadurch gesetzt, dass er auf der gerade verlaufenden Straße von der Fahrbahn abkam und in den linken Straßengraben abrutschte. Das Abkommen von der Fahrbahn muss ihm nach den Regeln des Anscheinsbeweises als Verschulden angerechnet werden. Die – leichte – Wölbung der Fahrbahn und die Straßenglätte vermögen entgegen der Meinung der Revision den Schuldvorwurf nicht auszuräumen; denn K musste bei den herrschenden Witterungsverhältnissen mit Glatteisbildung rechnen. Die Unfallstelle bot hierzu besonderen Anlass, weil ein Waldbestand entlang der Straße die Glatteisbildung erfahrungsgemäß begünstigt. Die Fahrbahnwölbung konnte K erkennen und seine Fahrweise entsprechend einrichten.
Zu Unrecht zieht die Revision die adäquate Ursächlichkeit des Abrutschens in den Straßengraben für den etwa drei Stunden später erfolgten tödlichen Unfall Ks in Zweifel. Wie das Berufungsgericht rechtsirrtumsfrei darlegt, dauerte mit der von K eingeleiteten Bergung seines Lastzuges und der Ladung die durch das Abrutschen verursachte Gefahr fort. Die Bergung war besonders gefährlich, weil infolge der Dunkelheit damit zu rechnen war, dass vorbeifahrende Kraftfahrer nicht rechtzeitig erkannten, was an der Unfallstelle vor sich ging, und weil die Bergung gerade an der Stelle durchgeführt werden musste, an der die Fahrbahn besonders glatt war, so dass schon K wegen der Glätte in den Graben abgerutscht war. Unter diesen Umständen lag es durchaus nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass es im Laufe des drei Stunden währenden Bergungsvorgangs zu einem weiteren Unfall durch Abrutschen eines vorbeifahrenden Fahrzeugs kam, bei dem ein an der Bergung Beteiligter tödlich verletzt wurde.
Ein weiteres für den Unfall ursächlich gewordenes Verschulden Ks erblickt das Berufungsgericht mit Recht in der unzureichenden Absicherung des Bergungsvorgangs. Die beiden Warnlampen mussten so aufgestellt werden, dass andere Verkehrsteilnehmer mit Rücksicht auf die gerade im Bereich der Unfallstelle herrschende Eisglätte so rechtzeitig gewarnt wurden, dass sie ihr Fahrzeug sicher anhalten oder wenigstens ihre Geschwindigkeit so weit herabsetzen konnten, dass ein gefahrloses Passieren der Unfallstelle möglich war. Diesen Anforderungen genügten die getroffenen Sicherungsmaßnahmen nicht. Beide Laternen befanden sich viel zu nahe an der Gefahrenstelle. Die an dem abgestellten Anhänger angebrachte Laterne musste zudem, wie das Berufungsgericht zutreffend darlegt, zu dem Missverständnis Anlass geben, dass sie lediglich der Sicherung dieses Fahrzeugs diente; ein Hinweis auf ein noch zu erwartendes Hindernis konnte ihr kaum entnommen werden. Mit der anderen Laterne hatte sich Q gerade in dem noch freien Teil der Fahrbahn aufgestellt und damit den zum Passieren der Bergungsstelle zur Verfügung stehenden Raum noch eingeengt. Seine Stellung musste zudem bei anderen Verkehrsteilnehmern den Eindruck erwecken, dass sie jetzt auf jeden Fall anhalten mussten; das durfte aber so dicht an der Bergungsstelle bei der besonderen Fahrbahnglätte nicht veranlasst werden.
Für die bei der Bergung vorzunehmenden Sicherungsmaßnahmen war, wie das Berufungsgericht zutreffend annimmt, auch K verantwortlich. Er hatte zwar den Fuhrunternehmer Be zur Unfallstelle gebeten, um mit dessen Hilfe seinen Lastzug wieder auf die Straße zu bekommen. Er blieb aber – anders als im Falle der Beauftragung eines gewerbsmäßigen und fachkundigen Abschleppunternehmers – bei dem gesamten Bergungsvorhaben mittätig. Daraus folgert das Berufungsgericht mit Recht seine (Mit)-Verantwortlichkeit für die Vornahme der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen um die er im übrigen schon im Interesse der eigenen Sicherheit besorgt sein musste. An seiner eigenen Verantwortlichkeit ändert der von der Revision hervorgehobene Umstand nichts, dass auch Be für die Sicherung verantwortlich war und sich nach seiner Aussage vor der Polizei auch verantwortlich fühlte.
Bei der Schadensabwägung wirft das Berufungsgericht zu Lasten der Klägerinnen ein, dass K schuldhaft in den Graben geraten sei, danach das infolge von Dunkelheit und Straßenglätte gefährliche Bergungsmanöver eingeleitet und dieses völlig unzureichend abgesichert habe; die immer noch von dem Lastzug des K ausgehende Betriebsgefahr sei durch das riskante und unzureichend abgesicherte Bergungsmanöver beträchtlich erhöht worden.
Die Revision beanstandet die Auffassung des Berufungsgerichts, von dem Lastzug Ks sei immer noch eine Betriebsgefahr ausgegangen als rechtsfehlerhaft, weil sich das abzuschleppende Fahrzeug außerhalb des Straßengeländes befunden habe und daher nicht mehr in Betrieb gewesen sei. Die Rüge ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat zutreffend das Ausmaß der von beiden Seiten durch unerlaubte Handlung gesetzten Unfallverursachung als entscheidend für die Schadensverteilung erachtet. Das auf einem Verschulden Ks, aber auch auf der Betriebsgefahr seines Lastzuges beruhende Abrutschen in den Straßengraben stellte in Verbindung mit dem unzureichend gesicherten Bergungsmanöver eine fortwirkende Gefährdung dar, die schließlich zum Unfall führte. Das Berufungsgericht erachtet daher mit Recht die Betriebsgefahr des Lastzuges als mitursächlich für den Unfall. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Lastzug im Zeitpunkt des Unfalls noch als im Betrieb befindlich i. S. des § 7 StVG anzusehen war.
Das Verschulden des Beklagten erblickt das Berufungsgericht lediglich darin, dass er mit einer für seine Sichtverhältnisse geringfügig überhöhten Geschwindigkeit gefahren sei. Es hält es aufgrund der Aussage des Kraftfahrers B für bewiesen, dass es beim Herankommen des Beklagten an die Unfallstelle leicht geschneit habe. B habe, so erwägt das Berufungsgericht, als einziger der an der Bergung Beteiligten eindeutige Bekundungen in dieser Richtung machen können; alle anderen hätten sich offensichtlich mehr um die Bergung als um die wechselnde Wetterlage gekümmert. Die Sicht des Beklagten habe im Abblendlicht, mit dem er wegen des Schneefalles habe fahren müssen, etwa 25 bis 30 m betragen. Der davor liegende Raum sei erfahrungsgemäß durch die fallenden Schneeflocken, die optisch eine undurchsichtige Wand gebildet hätten, uneinsehbar geworden. Bei diesen Sichtverhältnissen habe der Beklagte mit Rücksicht auf die Straßenglätte allenfalls 30 km/h fahren dürfen, seine Geschwindigkeit habe aber 38 km/h betragen. Das Berufungsgericht hält die durch das Verschulden des Getöteten K gesetzte Unfallverursachung für erheblich überwiegend und belastet die Klägerin mit 2/3 des Unfallschadens.
Die Revision rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht den Antrag der Klägerinnen übergangen habe, zu ihrer Behauptung, an der Unfallstelle habe gute Sicht geherrscht und die Luft sei klar gewesen, die Beweisaufnahme aus dem Strafverfahren zu wiederholen. Die Bitte um Wiederholung der Beweisaufnahme ist, wie die Revision unter Hinweis auf die Entscheidung BGHZ 7, 116 zutreffend ausführt, als erstmalige Antretung eines Zeugenbeweises i. S. des § 373 ZPO, nicht dagegen als Antrag auf wiederholte Vernehmung nach § 398 ZPO anzusehen. Das Berufungsgericht durfte daher die Zeugenaussagen im Strafverfahren nicht verwerten, ohne die Zeugen selbst zu hören. Es erscheint zudem zweifelhaft, ob die Aussage des Zeugen B, zur Zeit des zweiten Unfalls habe es etwas geschneit, die Feststellung des Berufungsgerichts trägt, die Sicht des Beklagten sei durch die fallenden Schneeflocken auf 25 bis 30 m begrenzt gewesen. Der Zeuge hat weiter bekundet, er habe bei seiner Ankunft an der Unfallstelle, die etwa 10 Minuten vor dem zweiten Unfall lag, bereits auf eine Entfernung von 300 m wahrgenommen, dass dort ein Unfall geschehen sei. Die gleiche Wahrnehmung hat sein Fahrgast, der Zeuge Ber gemacht. Die Protokolle über die Vernehmung der weiteren Unfallzeugen ergeben nichts dafür, dass sie über die Sichtverhältnisse überhaupt befragt worden sind. Das Schöffengericht, das die Zeugen unmittelbar gehört hat, hat das Beweisergebnis dahin gewürdigt, dass an der Unfallstelle zur Unfallzeit klare Sicht geherrscht hat.
Waren aber die Sichtverhältnisse zur Unfallzeit, wie es die Klägerinnen unter Beweis gestellt haben, wesentlich besser als das Berufungsgericht feststellt, so kann dadurch die Beurteilung des Verschuldens des Beklagten und seiner Auswirkung auf das Unfallgeschehen entscheidend beeinflusst werden. Das angefochtene Urteil kann daher nicht bestehen bleiben. Es war, weil noch weitere tatsächliche Erörterungen erforderlich sind, aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Diesem war auch die Entscheidung über die Kosten der Revision zu übertragen.