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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 14.05.1969 - 2 BvR 613/67 - Rechtliches Gehör und konkrete Gefährdung
BVerfG v. 14.05.1969: Rechtliches Gehör und konkrete Gefährdung
Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 14.05.1969 - 2 BvR 613/67) hat entschieden:
- Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten.
- Eine Verurteilung nach § 1 StVO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer einen anderen konkret gefährdet, geschädigt oder mehr als den Umständen nach unvermeidbar behindert oder belästigt hat.
Siehe auch Rechtliches Gehör und Abstrakte und konkrete Gefährdung
Gründe:
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde vom Amtsgericht Bremen am 7. Juni 1967 wegen Benutzens eines Kraftfahrzeuges in nicht vorschriftsmäßigem Zustand zu einer Geldstrafe von 15 DM, ersatzweise zu einem Tag Haft, und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt.
In den Gründen des Urteils ist folgendes festgestellt worden:
Am 1. November 1966 befuhr der Angeklagte morgens gegen 7.40 Uhr mit seinem Kraftfahrzeug Ford 17 M die Waller Heerstraße. Zu dieser Zeit herrschte reger Fahrzeugverkehr. Weil der Angeklagte in der Nacht vorher seinen Wagen ausnahmsweise nicht in der Garage abgestellt hatte, war die Heckscheibe mit einer undurchsichtigen Eisschicht bedeckt. Der Angeklagte hatte allerdings vor Antritt der Fahrt in der Mitte der Scheibe einen senkrechten Streifen von 35 cm Breite über die ganze Höhe der Scheibe vom Eis gereinigt, um die Straße nach rückwärts beobachten zu können.
Diesen Sachverhalt wertete das Amtsgericht als einen Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Satz 2 StVO i.V.m. § 35 b Abs. 2 Satz 1 StVZO. Vorschriftsmäßig im Sinne dieser Vorschriften sei ein Fahrzeug nur dann, wenn die nach der Bauart des Fahrzeuges erzielbare Übersicht nach hinten mit Hilfe des Innenspiegels annähernd erreicht sei. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht u.a., "dass konkrete Folgen des Verhaltens des Angeklagten, etwa eine Behinderung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, nicht eingetreten" waren.
Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision zum Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen ein. § 35 b Abs. 2 Satz 1 StVZO verlange kein optimales, sondern nur ein ausreichendes Sichtfeld. Dieses sei in dem eisfreien Mittelstreifen vorhanden gewesen. Es seien noch Fahrzeuge zum Straßenverkehr zugelassen, deren Rückfenster eine geringere Sicht ermögliche als der von ihm freigelegte Teil seiner Heckscheibe.
Der Generalstaatsanwalt bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen beantragte, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
Am 4. Oktober 1967 beschloss der Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen einstimmig:
Die Revision wird auf Kosten des Angeklagten als offensichtlich unbegründet verworfen (§§ 349 Abs. 2, 473 StPO), mit der Maßgabe, dass an die Stelle der Verurteilung aus § 7 Abs. 1 Satz 2 StVO, § 35 b Abs. 2 StVZO diejenige aus § 1 StVO tritt.
2. Mit der am 17. Oktober 1967 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 4. Oktober 1967 und rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Er sei auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes nicht hingewiesen worden und habe deshalb keine Gelegenheit gehabt, zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, gegen § 1 StVO verstoßen zu haben. Wäre ihm diese Gelegenheit gegeben worden, so würde er dargelegt haben, dass er niemanden gefährdet, behindert, geschädigt oder belästigt habe, und dass das amtsgerichtliche Urteil Feststellungen über eine konkrete Gefährdung anderer auch nicht enthalte.
3. Der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen hält in Übereinstimmung mit einer Stellungnahme des Generalstaatsanwalts bei dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen die Verfassungsbeschwerde für begründet.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Beschluss verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen sich die Beteiligten vorher äußern konnten (BVerfGE 22, 267 (273); 25, 40 (43); st. Rspr.). Das ist bei der vom Oberlandesgericht vorgenommenen Schuldspruchberichtigung nicht beachtet worden. Eine Verurteilung nach § 1 StVO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer einen anderen konkret gefährdet, geschädigt oder mehr als den Umständen nach unvermeidbar behindert oder belästigt hat. Das Amtsgericht hat in dem Urteil vom 7. Juni 1967 ausdrücklich festgestellt, "dass konkrete Folgen des Verhaltens des Angeklagten, etwa eine Behinderung oder Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, nicht eingetreten sind". Wenn das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer gleichwohl aus § 1 StVO verurteilt hat, so ist es von einem anderen als dem im angefochtenen Urteil festgestellten Sachverhalt ausgegangen. Hierzu hätte es den Beschwerdeführer hören müssen. Die Unterlassung verletzt Art. 103 Abs. 1 GG.
Die Entscheidung beruht auf diesem Verstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Hinweis des Beschwerdeführers auf die Feststellungen des Amtsrichters zu seiner Freisprechung geführt haben würde.
Die angefochtene Entscheidung war deshalb aufzuheben und die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen zurückzuverweisen.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.