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OLG Naumburg Urteil vom 12.04.2013 - 10 U 45/12 - Verkehrssicherungspflicht und Seitenstreifen
OLG Naumburg v. 12.04.2013: Verkehrssicherungspflicht und Seitenstreifen auf Landstraßen
Das OLG Naumburg (Urteil vom 12.04.2013 - 10 U 45/12) hat entschieden:
Die Verkehrssicherungspflicht für eine Landesstraße beinhaltet nicht, den Seitenstreifen so zu befestigen, dass die Verkehrsteilnehmer ihn bei Überhol- und Ausweichmanövern mit unverminderter Geschwindigkeit befahren und so von ihm aus wieder sicher auf die Fahrbahn auffahren können.
Siehe auch Verkehrssicherungspflicht und Straßenverhältnisse und Verkehrssicherung
Gründe:
I.
Wegen des Sachverhalts wird auf das Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg vom 13. September 2012, Az: 10 O 471/12, Bezug genommen und ergänzend ausgeführt: Die Klägerin nimmt das beklagte Land wegen einer behaupteten Verkehrssicherungspflichtverletzung in Anspruch. Sie verlangt Ersatz des ihr nach Abzug der Leistungen ihres Kaskoversicherers verbliebenen - streitigen - materiellen Schadens aus einem Verkehrsunfall vom 29. März 2011, bei dem ihr von dem Zeugen H. gelenkter Sattelzug beim Durchfahren einer S-Kurve in Fahrtrichtung nach links von der Landesstraße L ... abgekommen und umgekippt ist.
Die Klägerin hat behauptet, der Fahrer des Sattelzuges habe auf der nur 6,20 m breiten Straße wegen eines entgegenkommenden LKW an den äußerst rechten Fahrbahnrand ausweichen müssen. Die Fahrbahnbegrenzungslinie habe er nicht überfahren. Die Fahrbahn links der Seitenmarkierung sei eingebrochen und der Sattelzug hierdurch in den nichtasphaltierten, geschotterten Bereich des Seitenstreifens und außer Kontrolle geraten. Die Asphaltdecke habe ab dem Beginn der Kurve nicht bis zum Fahrbahnrand gereicht.
Die 10. Zivilkammer des Landgerichts Magdeburg hat den Fahrer des klägerischen Sattelzugs sowie die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten als Zeugen gehört und die Klage mit Urteil vom 13. September 2012 abgewiesen. Eine schadensursächliche Verletzung der Verkehrssicherungspflicht des beklagten Landes käme nur in Betracht, wenn der LKW der Klägerin auf der Fahrbahn - und nicht auf dem Seitenstreifen - eingebrochen und der Unfall hierdurch verursacht worden wäre. Dies habe die Beweisaufnahme nicht ergeben. Den Fotos sei zu entnehmen, dass die Fahrbahn am rechten Rand im Bereich des Seitenstreifens beschädigt sei. Der beschädigte Teil befinde sich nur zu einem geringen Teil links des Seitenstreifens. Der Seitenstreifen gehöre gem. § 2 Abs.1 S. 1 StVO nicht mehr zur Fahrbahn. Sein Zustand müsse nicht dem der Fahrbahn entsprechen. Zudem habe die Vernehmung der Zeugen nicht ergeben, dass der LKW sich die gesamte Zeit links der Begrenzungslinie befunden habe. Der Zeuge H. habe dies zwar bekundet. Die Kammer folge ihm aber nicht. Der Zeuge habe nicht von Gegenverkehr berichtet. Gleichwohl gehe die Kammer davon aus, dass es diesen gegeben haben müsse, anderenfalls sei unklar, woher die Klägerin und die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten an eine solche Information gelangt seien. Wenn dem ohne Außenspiegel 2,50 m breiten LKW der Klägerin auf einer 6,20 m breiten Fahrbahn ein LKW entgegenkomme, der nahe bis zur Fahrbahnmitte reiche, sei nur ein Geschehensablauf denkbar, bei dem der LKW der Klägerin nach rechts auf das Bankett ausweiche, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Dies könne dem beklagten Land nicht zur Last gelegt werden. Sollte es keinen Gegenverkehr gegeben habe, spreche gegen die Einlassung des Zeugen H. die Angabe des Zeugen Hg., wonach die Beschädigungen am rechten Rand schon vor dem Unfall vorhanden gewesen seien. Ein verständiger Kraftfahrer hätte diese erkennen und ausweichen müssen.
Mit der Berufung wendet sich die Klägerin gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts. Die Vernehmung des Zeugen T. habe ergeben, dass sich an der Unfallstelle bereits im Jahr 2010 ein ähnlicher Unfall ereignet habe. Aus der Aussage des Zeugen Hg. folge, dass die Straße bereits vor dem streitgegenständlichen Unfall beschädigt gewesen und dies der Straßenverkehrsbehörde mitgeteilt worden sei. Auch sei bewiesen, dass der LKW noch auf der Straße eingebrochen sei. Der Zeuge H. habe dies bekundet. Seine Aussage decke sich mit den zur Akte gereichten Fotos. Er habe nachvollziehbar geschildert, dass er durch den Fahrbahnschaden ins Schlingern geraten sei. Er habe bekundet, dass er den weißen Strich der Fahrbahnbegrenzung aus der Fahrerkabine gut habe erkennen können. Zu Unrecht meine das Landgericht, diese Angaben unberücksichtigt lassen zu können, da er den Gegenverkehr nicht erwähnt habe. Das Landgericht wäre zur Nachfrage verpflichtet gewesen, wenn es diesem Punkt Bedeutung habe zumessen wollen. Es sei möglich, dass der Zeuge sich bei seiner Aussage nur auf das Kerngeschehen konzentriert und den Gegenverkehr nicht erwähnt habe. Die Annahme des Landgerichts, wonach bei einem entgegenkommenden LKW ein Ausweichen nur über die Begrenzungslinie hinaus möglich gewesen wäre, sei unzutreffend. Der LKW sei mit Spiegel 2,65 m breit, so dass selbst dann, wenn der entgegenkommende LKW die gedachte Mittellinie um einen halben Meter überfahren hätte, noch ausreichend Platz gewesen wäre. Die nach dem Unfall erfolgte Instandsetzung des fraglichen Streckenabschnitts spreche für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.620 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.09.2011 und vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 338,50 € zu zahlen.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Das beklagte Land verteidigt die angefochtene Entscheidung im Wesentlichen unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags. Es hält die Angaben des Zeugen H., den Seitenstreifen nicht befahren zu haben, für unergiebig. Der Zeuge habe nur erklärt, im Gefühl zu haben, ob er mit den rechten Rädern auf dem Seitenstreifen fahre oder nicht. Die auf dem Foto K1 ersichtlichen Reifenspuren habe er gleichwohl dem streitgegenständlichen Unfall zugeordnet.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen G. H. und C. F. . Wegen des Inhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2013 Bezug genommen.
II.
Die gemäß §§ 511, 517, 520 ZPO zulässige Berufung hat im Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Erfolg.
1. Die Klägerin hat gegen das beklagte Land unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch auf Schadenersatz. Das beklagte Land haftet der Klägerin insbesondere nicht aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG wegen einer schuldhaften Amtspflichtverletzung.
1.1. Das beklagte Land ist zwar gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 42 Abs. 1 Satz 1 StrG LSA Träger der Straßenbaulast für die Landesstraße L ... . Die mit der Unterhaltung und der Erhaltung der Verkehrssicherheit der Straßen zusammenhängenden Pflichten obliegen den Organen und Bediensteten der damit befassten Körperschaften und Behörden in Sachsen-Anhalt gemäß § 10 Abs. 1 StrG LSA als Amtspflicht in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit. Die Träger der Straßenbaulast haben gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 StrG LSA nach ihrer Leistungsfähigkeit auch die Straßen in einem dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis genügenden Zustand zu bauen und zu unterhalten und hierbei sonstige öffentlichen Belange zu berücksichtigen. Die bautechnische Sicherheit verlangt gemäß § 10 Abs. 2 StrG LSA die Herstellung und Unterhaltung der Straßen in einem den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung genügenden Zustand unter Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Baukunst und der Technik. Die Verkehrssicherungspflicht des beklagten Landes erstreckt sich auf die Abwendung von Gefahren der Straße für die Verkehrsteilnehmer. Stets sind das Maß des Gefahrenpotentials und die wirtschaftliche Zumutbarkeit einer Gefahrenabwehr zu berücksichtigen. Hiernach beurteilt sich, welche konkreten Maßnahmen das beklagte Land unter Berücksichtigung der konkreten Gefahrenlage und der örtlichen Gegebenheiten zu veranlassen hat, um Gefahren von den Verkehrsteilnehmern fernzuhalten.
1.2. Die Verkehrssicherungspflicht beinhaltet hiernach nicht, den Seitenstreifen einer Landesstraße so zu befestigen, dass die Verkehrsteilnehmer ihn im Rahmen von Überhol- und Ausweichmanövern mit unverminderter Geschwindigkeit befahren und anschließend mit verhältnismäßig hoher Geschwindigkeit wieder sicher auf die Fahrbahn auffahren können (vgl. BGH, Beschluss vom 27.01.2005, Aktenzeichen: III ZR 176/04 m.w.N.; zitiert nach juris). Das beklagte Land war nicht verpflichtet, den Seitenstreifen der L ... an der Unfallstelle für den Sattelzug der Klägerin sicher befahrbar zu gestalten. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO haben Fahrzeuge die Fahrbahn zu benutzen. Der Seitenstreifen ist nach § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO grundsätzlich nicht Bestandteil der Fahrbahn. Er war an der Unfallstelle nicht durch Zeichen 223.1, Anlage 2 StVO als Fahrstreifen freigegeben, sondern erkennbar von der Fahrbahn durch eine Fahrbahnbegrenzungslinie (lfd. Nr. 68, Zeichen 295 Anlage 2 StVO) getrennt. Der Zeuge H. durfte diese Fahrbahnbegrenzungslinie gemäß Erläuterung 1. a) zu lfd. Nr. 68, Zeichen 295, Anlage 2 StVO grundsätzlich auch nicht teilweise überfahren.
1.3. Dass das beklagte Land aber die Fahrbahn der Landesstraße L ... pflichtwidrig nicht in einem verkehrsgerechten Zustand gehalten hat, hat die hierfür beweisbelastete Klägerin nicht zu beweisen vermocht. Sie hat nicht bewiesen, dass, wie von ihr behauptet, die Fahrbahndecke der L ... ohne ein vorheriges Befahren des Seitenstreifens weggebrochen ist.
Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht nicht zur Überzeugung des Senates fest, dass der Sattelzug der Klägerin wegen des Zustands der Fahrbahn der L ... verunfallt ist. Um von der Richtigkeit einer Behauptung überzeugt zu sein, muss vernünftigen Zweifeln Schweigen geboten sein. Dieses Maß an Gewissheit von einem unfallursächlichen Fahrbahnschaden ist für den Senat nicht erreicht. Der Zeuge H. hat zwar zum Zustand der Fahrbahn zunächst ausgesagt, der Asphalt sei links und rechts des Markierungsstriches - gemeint ist die Fahrbahnbegrenzungslinie - nicht richtig befestigt und nur mit Splitt aufgefüllt gewesen. Die Behauptung der Klägerin, die Fahrbahn sei im Kurvenbereich nur aufgeschottert gewesen, ist aber gleichwohl nicht belegt. Der Zeuge H. hat im Verlauf seiner Aussage eingeräumt, der Splitt sei nur „rechts der weißen Linie“ gewesen. Ein Fahrbahnschaden ergibt sich hieraus nicht. Hierzu hat der Zeuge F. zudem nachvollziehbar bestätigt, dass der Seitenstreifen an der Unfallstelle nicht voll unterfüttert gewesen sein kann. Er beschrieb glaubhaft, dass die Straße alt und der Schotterseitenstreifen häufig durch Wasser ausgespült worden war, weshalb das beklagte Land zur Befestigung an der Unfallstelle auch für den Seitenstreifen - erkennbar nur stellenweise - Asphalt verwendet habe.
Dass aber bei der Aufbringung des die Fahrbahn überlappenden Teils dieses Asphalts Kanten entstanden wären, die das tonnenschwere Fahrzeug der Klägerin ins Schlingern gebracht hätten, hat die Klägerin mit der Aussage des Zeugen H. ebenfalls nicht zur Überzeugung des Senats bestätigt. Ihre Behauptung, durch die „Anbringung des Fahrbahnrandes“ im Kurvenbereich habe das beklagte Land die Verkehrssicherungspflicht verletzt, ist nach der Aussage des Zeugen H. nicht erwiesen. Der Zeuge H. ging zwar davon aus, mit dem Vorderreifen an die Kante, „die sich noch links vor der weißen Linie befindet“, gefahren und hierdurch ins Schlingern und erst in der Folge mit dem Auflieger auf den Seitenstreifen geraten zu sein. Von der Richtigkeit dieser Aussage ist der Senat indes nicht überzeugt. Der Zeuge H. nimmt selbst nur an, das Befahren der auf der Bildanlage, Bl. 68 d. A., Bild 3 und 4, sichtbaren flachen Kante sei unfallursächlich gewesen. Sicher ist der Zeuge insoweit nicht. Er hat nach seinen Angaben „von dem Unfallgeschehen nicht viel mitbekommen“ und sich nur vorgestellt, „dass es so gewesen sein muss“. Das genügt nicht, um den Senat von diesem Hergang und davon zu überzeugen, dass der Zeuge H. links der Fahrbahnbegrenzungslinie eingebrochen und wegen des Straßenzustands auf den Seitenstreifen geraten ist. Die Aussage war nicht frei von Widersprüchen. So hat der Zeuge, wie oben ausgeführt, zunächst ausgesagt, der Asphalt sei sowohl links und rechts des Markierungsstriches nicht befestigt und nur mit Splitt aufgefüllt gewesen, um später zu erklären, der Splitt sei nur rechts der weißen Linie gewesen. Die Aussage wies auch Erinnerungslücken auf. Der Zeuge H. hat auf die Frage des Senats, wie weit die Fahrbahn links der Begrenzungslinie aufgebrochen gewesen sei, angegeben, sich hieran nicht erinnern zu können. Ebenso wenig konnte der Zeuge sich daran erinnern, ob er tatsächlich einem entgegenkommenden LKW ausgewichen war, wie die Klägerin behauptet hatte. An Fahrbahnbesonderheiten vermochte der Zeuge sich ebenfalls nicht zu erinnern. Die Aussage des Zeugen H. war zu der hier entscheidenden Frage des konkreten Zustands der Fahrbahn links der (aus seiner Fahrtrichtung) rechten Fahrbahnbegrenzungslinie letztlich detailarm, widersprüchlich und von Erinnerungslücken getragen.
Es ist auch nicht etwa unwahrscheinlich oder fernliegend, dass der Zeuge H. mit dem von ihm geführten Fahrzeug in der lang gezogenen Linkskurve, die nach seinen Angaben an der Unfallstelle ansteigend verläuft und die er mit 55 km/h befuhr, ohne Fahrbahnschäden in den rechten Seitenstreifen und ins Schlingern geraten und hierdurch verunfallt ist. Der Unfall selbst spricht nicht für unfallursächliche Straßenschäden. Auch die nach dem Unfall erfolgte Instandsetzung des fraglichen Streckenabschnitts der Landesstraße L ... spricht, anders als die Klägerin meint, für sich noch nicht für eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, Art. 26 Nr. 8 EGZPO. Die Streitwertentscheidung ergeht nach §§ 3 ZPO, 47 Abs. 1, 48 Abs. 1 GKG. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung i.S. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO.