Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 07.07.2010 - (1) 1 Ss 233/10 (17/10) - Schweigen des bevollmächtigten Verteidigers im Hauptverhandlungstermin
KG Berlin v. 07.07.2010: Kein Verwerfungsurteil im Strafbefehlsverfahren bei Schweigen des bevollmächtigten Verteidigers im Hauptverhandlungstermin
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 07.07.2010 - (1) 1 Ss 233/10 (17/10)) hat entschieden:
Im Strafbefehlsverfahren reicht zur Vertretung des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin die Anwesenheit des bevollmächtigten Verteidigers aus. Aus dessen bloßem Schweigen und dem Absehen von einer Antragstellung darf nicht geschlossen werden, er sei vertretungsunwillig. Hierfür bedarf es vielmehr eindeutiger Indizien.
Siehe auch Strafbefehl und Strafbefehlsverfahren und Säumnis des Verteidigers in der Hauptverhandlung
Gründe:
Das Amtsgericht Tiergarten hat gegen den Angeklagten am 19. Oktober 2009 einen Strafbefehl wegen Insolvenzverschleppung und Bankrotts erlassen. Auf seinen rechtzeitig hiergegen eingelegten Einspruch sind ein Hauptverhandlungstermin für den 19. Februar 2010 anberaumt und der Angeklagte sowie sein Verteidiger Rechtsanwalt R. hierzu geladen worden. Zu dem genannten Termin ist lediglich der Verteidiger erschienen; der Angeklagte ist der Sitzung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Das Amtsgericht hat daraufhin den Einspruch gegen den Strafbefehl gemäß § 412 Satz 1 StPO kostenpflichtig verworfen. Die hiergegen eingelegte zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat (vorläufigen) Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Tiergarten.
Der Erlass eines Verwerfungsurteils gemäß § 412 Satz 1 StPO setzt voraus, dass der Angeklagte weder erschienen noch durch einen Verteidiger vertreten und das Ausbleiben auch nicht genügend entschuldigt ist. Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass der Angeklagte „auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden“ sei. Nach Lage der Akten war der Angeklagte indes den Anforderungen der genannten Norm entsprechend vertreten. Eine schriftliche Vollmacht, die ausdrücklich unter anderem seine Berechtigung zur Vertretung des Angeklagten auch in dessen Abwesenheit umfasst, hatte der Verteidiger bereits mit Schriftsatz vom 3. November 2009 zu den Akten gereicht.
Die in ihrem Antrag auf Verwerfung der Revision vorgetragene Rechtsauffassung der Generalstaatsanwaltschaft, darüber hinaus müsse der Verteidiger seinen Willen, den Angeklagten zu vertreten, auch durch eine entsprechende Erklärung dokumentieren, die das Gericht erst nach Beginn der Hauptverhandlung entgegennehmen könne, geht über den von § 411 Abs. 2 Satz 1 vorgegebenen Rahmen hinaus. Im Strafbefehlsverfahren hindert grundsätzlich bereits die Anwesenheit eines vertretungsberechtigten und vertretungsbereiten Verteidigers den Erlass eines Verwerfungsurteils, es sei denn, dieser hat Erklärungen abgegeben, die den Schluss zulassen, er sei außerstande oder nicht gewillt, den Angeklagten in der Hauptverhandlung zu vertreten (vgl. KG, Beschluss vom 9. Januar 2002 – 5 Ws 3/02 -, zitiert nach juris). Der Verteidiger muss – ebenso wie der Angeklagte selbst – nicht an der Verhandlung mitwirken und Erklärungen zur Sache abgeben; er kann sich grundsätzlich darauf beschränken, anwesend zu sein und damit zu erkennen zu geben, dass er bereit sei, von den Rechten des Angeklagten in der Hauptverhandlung Gebrauch zu machen. Daher lässt sich aus dem bloßen Schweigen eines Verteidigers und dem Absehen von einer Antragstellung nicht schließen, er sei nicht vertretungswillig. Dies bedarf vielmehr eindeutiger Indizien (vgl. OLG Celle NStZ-RR 2009, 352; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen StRR 2008, 148; Fischer in KK StPO 6. Aufl., § 411 Rdnr. 14). Solche Umstände liegen hier aber gerade nicht vor. Aus der Sitzungsniederschrift sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verteidiger Erklärungen abgegeben hat, die den Schluss zulassen, dass er außerstande oder nicht gewillt sei, sich für seinen Mandanten zu äußern. Aus den Versuchen des Verteidigers, den Angeklagten telefonisch zu erreichen, ist vielmehr zu entnehmen, dass der Verteidiger für den Angeklagten tätig werden wollte (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall OLG Celle aaO).
Diese Rechtsauffassung steht auch nicht im Widerspruch zu der von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidung des Kammergerichts vom 18. April 1985 (abgedruckt in JR 1985, 343). In dem dort entschiedenen Fall war der Verteidiger des nicht hinreichend entschuldigten Angeklagten lediglich in der Hauptverhandlung erschienen, um einen Aussetzungsantrag zu stellen, und hatte seine fehlende Bereitschaft, diesen zu vertreten, hierdurch gerade ausdrücklich dokumentiert.
Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurück.