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BGH Urteil vom 23.01.1979 - VI ZR 103/78 - Verdienstausfallschaden und Mitverschulden des Geschädigten
BGH v. 23.01.1979: Zum Mitverschulden des Unfallgeschädigten beim Verdienstausfallschaden
Der BGH (Urteil vom 23.01.1979 - VI ZR 103/78) hat entschieden:
Grundsätzlich muss im Haftpflichtrecht der Schädiger beweisen, dass er dem Verletzten nach den gesamten Umständen seiner besonderen Lage möglich und zumutbar war, eine andere als die ihm infolge des Unfalls unmöglich gewordene Arbeit aufzunehmen. Aus dieser Beweislastregel kann jedoch nicht gefolgert werden, der Verletzte brauche sich selbst nicht um eine Arbeitsaufnahme zu kümmern. Ihn trifft in erster Linie die Pflicht, sich ernstlich darum zu bemühen, die ihm verbliebene Arbeitskraft nutzbringend zu verwerten. Die mangelnde Bereitschaft des Verletzten, sich um anderweiten Verdienst zu bemühen, kann bereits eine Verletzung der Schadensminderungspflicht bedeuten.
Siehe auch Erwerbsschaden - Einkommensnachteile - Verdienstausfall - entgangener Gewinn und Der Verdienstausfall bei unselbständig Beschäftigten
Tatbestand:
Im Jahre 1965 wurde der damals 34 Jahre alte Bundesbahnschlosser H. bei einem Verkehrsunfall, den der Beklagte verschuldet hatte, erheblich verletzt. Er erlitt ein sog stumpfes Bauchtrauma; ihm mussten operativ der Kopf der Bauchspeicheldrüse sowie ein Teil des Magens und des Zwölffingerdarms entfernt werden. Dabei wurde zur Vermeidung von Komplikationen auch die Gallenblase wegen unfallunabhängiger Krankheit herausgenommen. Der Beklagte hat in vollem Umfang für den Unfallschaden aufzukommen.
Die Klägerin, die Bundesbahn-Versicherungsanstalt, zahlte H. zunächst Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit, die 1969 in eine Dauerrente umgewandelt wurde. Sie hat den Beklagten, nachdem dessen Haftpflichtversicherer weitere Erstattung ihrer Aufwendungen verweigerte, für die Zeit vom 1. Juli 1971 bis 31. Oktober 1973 auf Zahlung der von ihr geleisteten Renten (nebst Beiträgen für die Krankenkasse der Rentner), insgesamt auf 23.739,56 DM nebst Zinsen, in Anspruch genommen.
Der Beklagte hat bestritten, dass H. in dem genannten Zeitraum erwerbsunfähig gewesen sei; zumindest habe er umgeschult werden können, um durch eine leichtere Arbeit, die er vor allem bei der Bundesbahn habe finden können, ausreichend zu verdienen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat ihr stattgegeben, jedoch die Revision zugelassen.
Mit der Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hält für erwiesen, dass der heutige schlechte Gesundheitszustand des H. auf den Unfall, insbesondere auf die ungenügende Leistung seiner Bauchspeicheldrüse, zurückzuführen ist; dieser mache es ihm unmöglich, seinen Beruf als Schlosser weiterhin auszuüben. Die Klägerin habe daher aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) Anspruch auf Erstattung der von ihr erbrachten Rentenleistungen (einschl der Krankenkassenbeiträge), die höher seien als der jeweilige monatliche Verdienstentgang des H. .
Diese Feststellung des Berufungsgerichts greift die Revision ohne Erfolg an. Mit ihrem Hinweis, es lägen objektivierbar keine krankhaften Befunde vor, den Gutachten der beiden medizinischen Sachverständigen lasse sich nicht entnehmen, dass die von H. subjektiv empfundenen Beschwerden eindeutig auf die Operation und damit auf den Unfall zurückzuführen seien, setzt sie lediglich ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Tatrichters. Das ist aber revisionsrechtlich unzulässig.
II.
Ferner prüft das Berufungsgericht, ob H. gegen die ihm nach § 254 Abs 2 BGB obliegende Pflicht zur Schadensminderung verstoßen, dh sich nicht so verhalten hat, wie es nach allgemeiner Lebenserfahrung von einem ordentlichen und verständigen Menschen zu erwarten ist. Auf die Klägerin als Legalzessionarin (§ 1542 RVO) ist nur der Schaden übergegangen, wie ihn der Verletzte in zumutbarer Weise durch Verwertung der ihm verbliebenen Arbeitskraft hätte mindern können (§§ 412, 404 BGB; sua Senatsurteile vom 27. Juni 1967 - VI ZR 3/66 = VersR 1967, 953, 954 und vom 18. Februar 1969 - VI ZR 2/68 = VersR 1969, 538, 539 mwN). Zu diesen Fragen halten die Ausführungen des Berufungsgerichts den Angriffen der Revision nicht in allen Punkten stand.
1. Das Berufungsgericht verkennt nicht, dass H. nach den Gutachten (alle Gutachter haben vollständige Arbeitsunfähigkeit verneint) in dem hier streitigen Zeitraum in der Lage gewesen wäre, einer mit leichterer körperlicher Anstrengung, als es der Schlosserberuf erfordert, verbundene Arbeit auszuüben, wenn ihm in gewissen Abständen Ruhepausen (mit der Möglichkeit, sich hinzulegen) eingeräumt worden wären, und dass er die vorhandenen Beschwerden durch geeignete Diät wesentlich hätte lindern können.
Es ist jedoch der Meinung, dafür, dass bei entsprechenden Bemühungen auch ein geeigneter Arbeitsplatz hätte gefunden werden können, sei der Beklagte als Schädiger darlegungspflichtig und beweispflichtig. Diesen Beweis habe er mit dem bloßen Hinweis, dass bei der Bundesbahn vielerlei Arbeitsmöglichkeiten bestünden (zB als Pförtner, Lehrlingsausbilder, Werkstoffausgeber, Lagerverwalter, Schreibkraft und dergl), nicht geführt. Somit fehle es schon objektiv an einem ursächlich gewordenen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht, so dass nicht mehr zu prüfen sei, ob auch die subjektiven Voraussetzungen bei H. und vor allem bei der Klägerin vorgelegen hätten. Da von H. selbst schwerlich erwartet werden könne, dass er sich trotz Gewährung einer Dauerrente noch um einen Arbeitsplatz bemühte, sei ein Verschulden von vornherein nur bei der Klägerin denkbar.
2. Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil das Berufungsgericht mit seiner einseitigen, allein auf Pflichten und Lasten des Schädigers abstellenden Betrachtungsweise dem Problem, wie im Streitfall der Nachweis der Verletzung der Schadensminderungspflicht zu führen ist, nicht gerecht wird.
a) Zutreffend geht das Berufungsgericht von dem Grundsatz aus, dass im Haftpflichtrecht letztlich der Schädiger beweisen muss, dass es dem Verletzten nach den gesamten Umständen seiner besonderen Lage möglich und (unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Persönlichkeit, Ausbildung und bisherigen Lebensstellung) zumutbar war, eine andere als die ihm infolge des Unfalls unmöglich gewordene Arbeit aufzunehmen (RGZ 160, 119, 120; BGHZ 10, 18, 20; Senatsurteile vom 27. Juni 1967 aaO; vom 1. Dezember 1970 - VI ZR 88/69 = VersR 1971, 348, 349 mwN; zuletzt v 13. Juni 1972 - VI ZR 83/71 = VersR 1972, 975). Die Frage der Beweislast stellt sich aber erst nach Ausschöpfung aller angebotenen Beweismittel und der sonstigen in der Zivilprozessordnung für Gericht und Parteien zur Förderung des Prozesses und Aufklärung des Sachverhalts vorgesehenen Möglichkeiten. Darum kann - entgegen einer weit verbreiteten Meinung - aus dieser Beweislastregelung nicht gefolgert werden, der Verletzte brauche sich selbst nicht um eine Arbeitsaufnahme zu kümmern. Vielmehr trifft ihn in erster Linie die Pflicht, sich ernstlich darum zu bemühen, die ihm verbliebene Arbeitskraft nutzbringend zu verwerten; er kennt seine Fähigkeiten und Neigungen am besten, nur er kann sie - notfalls mit fachkundiger Beratung - testen lassen; zudem verfügt er in der Regel über das bessere Wissen der im Einzugsbereich seines Wohnorts vorhandenen Arbeitsplätze; insbesondere wird der Schädiger, wenn der Verletzte in einem großen Unternehmen (wie beispielsweise der Bundesbahn) beschäftigt war, nur selten in der Lage sein, die betriebsinternen Möglichkeiten eines anderweitigen Arbeitsplatzes beurteilen zu können. Wie schon das Reichsgericht (RGZ 160, 119, 121) betont hat, kann die Durchführung einer dem Einzelfall gerecht werdenden Arbeitsaufnahme nur bei verständigem Zusammenwirken beider Parteien (wobei der Schädiger insbesondere die zur Umschulung erforderlichen Kosten zur Verfügung stellen muss) befriedigend gelöst werden. Die mangelnde Bereitschaft des Verletzten, sich um anderweiten Verdienst zu bemühen, kann bereits eine Verletzung der ihm nach § 254 Abs 2 BGB obliegenden Schadensminderungspflicht bedeuten (so schon Senatsurteil v 6. November 1954 - VI ZR 70/54 = VersR 1955, 38 und v 1. Dezember 1970 aaO; Müller, StVR 22. Aufl § 9 StVG Rdnz 90). Freilich ist die Tatsache allein, dass der Verletzte sich nicht bemüht hat, noch kein Beweis dafür, dass seine Bemühungen auch Erfolg gehabt hätten.
Muss somit zwar der Schädiger die Voraussetzungen seines Einwandes aus § 254 Abs 2 BGB beweisen, so ändert das nichts daran, dass der Verletzte zunächst seiner Darlegungslast genügen muss. Dazu wird er in der Regel, wenn er arbeitsfähig oder teilarbeitsfähig ist, den Schädiger darüber zu unterrichten haben, welche Arbeitsmöglichkeiten ihm zumutbar und durchführbar erscheinen (ohne allerdings verpflichtet zu sein, insoweit einen Negativ-Beweis erbringen zu müssen), und was er bereits unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten. Demgegenüber ist es Sache des Schädigers zu behaupten und zu beweisen, dass der Verletzte entgegen seiner Darstellung in einem konkret bezeichneten Fall ihm zumutbare Arbeit hätte aufnehmen können. Dabei kann der Tatrichter, insbesondere wenn der Verletzte gar nichts unternommen hat, um die ihm verbliebene Arbeitskraft zu verwerten, je nach der Gestaltung des Falles in Anpassung der Beweislastregelung an die Grundsätze von Treu und Glauben die Regeln des Anscheinsbeweises heranziehen, die unter Umständen sogar bis zur Umkehr der Beweislast führen können. Davon ist der Senat bereits in seinen Urteilen vom 1. Dezember 1970 aaO und vom 13. Juni 1972 aaO ausgegangen, in denen er von "einer Erleichterung der Beweislage" oder davon, "dass keine zu hohen Anforderungen an die Beweislast des Schädigers zu stellen sind", gesprochen hat (vgl auch Senatsurt v 18. Dezember 1962 - VI ZR 112/62 = VersR 1963, 337, 338). Hat der Schädiger eine konkret zumutbare Arbeitsmöglichkeit nachgewiesen, so wird es Sache des Verletzten sein, um dem Einwand nach § 254 Abs 2 BGB mit Erfolg zu begegnen, darzulegen und zu beweisen, warum er diese Möglichkeit nicht hat nutzen können.
b) In Anbetracht dieser Grundsätze hätte im Streitfall das Berufungsgericht zunächst der Klägerin aufgeben müssen, im einzelnen darzutun, welche Schritte H. unternommen hatte, um eine seinen Kenntnissen und Fähigkeiten sowie seiner sozialen Stellung entsprechende Tätigkeit zu finden. Dass er dabei nicht dem Zwang ausgesetzt sein darf, diesen Nachweis fortgesetzt von neuem erbringen zu müssen, wie das Berufungsgericht meint, versteht sich von selbst. Diese Erwägung geht aber am vorliegenden Sachverhalt vorbei, denn es fehlt bisher schon an einem Vortrag der Klägerin, dass H. sich überhaupt in irgendeiner Weise um Arbeit bemüht gehabt habe; unstreitig hat er sich noch nicht einmal beim Arbeitsamt als Arbeitsuchender oder zur Umschulung Bereiter gemeldet.
Seine Mitwirkungspflicht entfiel auch nicht deshalb, weil - wie das Berufungsgericht meint - von einem Verletzten, der vom Sozialversicherer eine Dauerrente erhält, schwerlich erwartet werden könne, sich noch um einen Arbeitsplatz zu bemühen. Im Verhältnis zum Schädiger ist nicht entscheidend, ob der Verletzte Rente bezieht, deren Gewährung (hier wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO) sich nach sozialrechtlichen und sozialpolitischen Gesichtspunkten bestimmt. Vielmehr ist schadensrechtlich der ersatzfähige Schaden (und zwar bereits von seiner Entstehung an) auf den Umfang begrenzt, auf den er sich bei pflichtgemäßem Verhalten des Verletzten beschränken lässt, so dass - wie der Senat im Urteil vom 18. Dezember 1962 aaO bereits entschieden hat - auch ein in den Ruhestand versetzter Beamter sich nicht der Pflicht, seine verbliebene Arbeitskraft in zumutbarer Weise zu nutzen, unter Hinweis auf seine Pensionierung entziehen kann; dies kann auch dem Legalzessionar entgegengehalten werden (Senatsurt v 27. Juni 1967 aaO). Insgesamt ist übrigens entgegen der im Rechtsstreit bisher offenbar vorherrschend gewesenen Auffassung klarzustellen, dass es, was die Nichterlangung einer zumutbaren Ersatztätigkeit anlangt, mindestens nicht in erster Linie auf das Verhalten der Klägerin, sondern auf das des Verletzten ankommt. Auch scheint übersehen zu werden, dass die Klägerin nicht mit der Bundesbahn als der früheren Arbeitgeberin des Verletzten personengleich ist. Es kommt also keineswegs darauf an, ob die Bundesbahn in der Lage gewesen wäre, dem Verletzten eine geeignete Ersatztätigkeit anzubieten, sondern nur darauf, ob dieser deren etwaige Bereitschaft, eine solche Beschäftigung zur Verfügung zu stellen, unter Verstoß gegen seine Obliegenheit der Schadensminderung nicht genutzt hat.
3. Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben. Die Sache war, da weitere Feststellungen zu treffen sind, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
III.
Das Berufungsgericht wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung, falls eine Verletzung der Schadensminderungspflicht zu bejahen ist, zu berücksichtigen haben, inwieweit H. in Hinblick auf sein verhältnismäßig niedriges Renteneinkommen etwa erzielbare Einkünfte zunächst zum Ausgleich seines durch die Rente nicht gedeckten Verdienstausfalls verwenden durfte (s Senatsurteil v 27. Juni 1967 aaO mwN; vgl auch BGHZ 16, 265, 275 und Senatsurt v 6. April 1976 - VI ZR 240/74 = VersR 1976, 877, 878).