Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 08.10.2012 - 3 Ws (B) 574/12 - 162 Ss 143/12 - Entbindung des teilgeständigen Betroffenen von seiner Erscheinenspflicht
KG Berlin v. 08.10.2012: Zur Entbindung des teilgeständigen Betroffenen von seiner Erscheinenspflicht
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 08.10.2012 - 3 Ws (B) 574/12 - 162 Ss 143/12) hat entschieden:
Hat der Betroffene, der im Verfahren vor der Verkehrsbehörde seine Fahrereigenschaft bestritten hat, nach einem Hinweis des Gerichts, dass es durch Vergleich des Tatfotos mit einem bei den Akten befindlichen Foto des Betroffenen zur vorläufigen Überzeugung gelangt sei, der Betroffene sei der Fahrer des Fahrzeugs zur Tatzeit, über seinen Verteidiger ausdrücklich eingeräumt, er sei der Fahrzeugführer gewesen, und angekündigt, über die Bestätigung der Fahrereigenschaft hinaus werde er keine weiteren Angaben machen, ist er auf seinen Antrag hin nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden, denn es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Anwesenheit des Betroffenen für die Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist.
Siehe auch Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen und Bußgeldverfahren / Ordnungswidrigkeitenverfahren
Gründe:
Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Geldbuße in Höhe von 80,00 Euro verhängt. Dem Bußgeldbescheid lag als Beweismittel ein von einer stationären Geschwindigkeitsmessanlage gefertigtes Frontfoto, das den Pkw und dessen Fahrer zeigte, zugrunde. Noch vor Zustellung des Bußgeldbescheids an den Verteidiger des Betroffenen teilte dieser mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2011 dem Polizeipräsidenten in Berlin mit, zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit habe Herr O…, ein Mitarbeiter in der polnischen Niederlassung des Betroffenen, das Fahrzeug geführt. Nach rechtzeitiger Einspruchseinlegung durch den Verteidiger des Betroffenen wies das Amtsgericht im Rahmen der Terminsanberaumung den Betroffenen und seinen Verteidiger darauf hin, nach einem Vergleich der Tatfotos mit einem bei den Akten befindlichen Lichtbild des Betroffenen würde es diesem empfehlen, seine Einlassung vom 28. Dezember 2011 nicht aufrecht zu erhalten. Mit Verteidigerschriftsatz vom 5. Juni 2012 teilte der Betroffene dem Gericht mit, dass er nach nochmaliger Prüfung nunmehr ausdrücklich einräume, der verantwortliche Fahrzeugführer gewesen zu sein, und seine Einlassung im Schriftsatz vom 28. Dezember 2011 nicht mehr aufrechterhalte. Außerdem bestritt er den ihm zur Last gelegten Verstoß und machte zahlreiche Einwendungen gegen die erfolgte Geschwindigkeitsmessung geltend, regte die Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG, hilfsweise - mit seinem ausdrücklichen Einverständnis zu dieser Verfahrensweise - die Verhängung einer Geldbuße von maximal 35,00 Euro im schriftlichen Verfahren an und kündigte für den Fall der Aufrechterhaltung des Hauptverhandlungstermins zum Beweis einer maximalen Geschwindigkeit des Pkw von 80 km/h und eines Verstoßes gegen die Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts sowie die Eichrichtlinien die Beantragung der Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Außerdem beantragte er für den Fall der Aufrechterhaltung des Hauptverhandlungstermins, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden. Er räume ausdrücklich ein, das Fahrzeug zur Tatzeit geführt zu haben und werde in der Hauptverhandlung keine weiteren Angaben zur Sache tätigen. Mit Beschluss vom 6. Juni 2012 lehnte das Amtsgericht den Entbindungsantrag mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG seien nicht gegeben. Der Betroffene habe seinen Verteidiger unter dem 28. Dezember 2012 behaupten lassen, Fahrer des Tatfahrzeugs sei Herr O…. gewesen. Nun lasse der Betroffene seinen Verteidiger unter dem 5. Juni 2012 mitteilen, er räume ein, doch selbst das Fahrzeug geführt zu haben. Das Gericht wolle sich angesichts des widersprüchlichen Einlassungsverhaltens nun selbst ein Bild davon verschaffen, ob es der Betroffene sei, der auf den bei der Akte befindlichen Belegfotos abgebildet und ob er also als Fahrer identifizierbar sei. Mit bei Gericht am 13. Juni 2012 eingegangenem undatiertem Schreiben beantragte der Betroffene erneut seine Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen im Hauptverhandlungstermin, erklärte, dass er nach Überprüfung seiner persönlichen Aufzeichnungen festgestellt habe, dass nicht Herr O… zur Tatzeit sein Fahrzeug geführt habe, sondern er die Fahrt persönlich unternommen habe. Über die Bestätigung der Fahrereigenschaft hinaus werde er in dem bereits anberaumten Verhandlungstermin keine weiteren Angaben machen. Mit lediglich an den Verteidiger des Betroffenen gerichtetem Schreiben vom 15. Juni 2012 teilte das Gericht mit, dass es bei dem anberaumten Termin verbleibe und über den Antrag des Betroffenen, ihn von seiner Erscheinungspflicht zu entbinden, bereits entschieden worden sei. Zum Hauptverhandlungstermin am 19. Juni 2012 war in Untervollmacht für den Verteidiger des Betroffenen eine Rechtsanwältin erschienen, nicht jedoch der Betroffene. Den von der Verteidigerin im Hauptverhandlungstermin erneut gestellten Antrag, den Betroffenen von seiner Pflicht zum Erscheinen zu entbinden, lehnte das Gericht mit der Begründung ab, es verweise auf die Gründe seines Beschlusses vom 6. Juni 2012, und wies im Übrigen darauf hin, dass das Schreiben des Betroffenen zu seiner Fahrereigenschaft undatiert sei. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen und zur Begründung im Wesentlichen die Gründe wiederholt, mit denen die Anträge zur Entbindung von der Erscheinungspflicht zurückgewiesen worden waren. Gegen dieses Urteil richten sich der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und die mit der Versagung rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, da es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe dem Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der gesetzlichen Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, zu Unrecht nicht entsprochen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist ordnungsgemäß ausgeführt. Die Verfahrensrüge ist auch begründet.
Der Betroffene war vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden. Denn nach dieser Bestimmung entbindet das Gericht den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum Erscheinen, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hatte, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung über den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, dieses vielmehr verpflichtet ist, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. Senat in std. Rspr.; vgl. etwa VRS 111, 146 und 113, 63 sowie Beschluss vom 2. Oktober 2012 - 3 Ws (B) 466/12; OLG Dresden DAR 2005, 460). Hier lagen entgegen der Annahme des Amtsgerichts in den die Entbindungsanträge zurückweisenden Beschlüssen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass aus dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung geboten gewesen wäre. Aus dem bei Terminierung der Hauptverhandlung an den Betroffenen und seinen Verteidiger gerichteten Schreiben des Gerichts vom 26. März 2012 ergibt sich vielmehr, dass das Gericht durch Vergleich des Tatfotos mit einem bei den Akten befindlichen Foto des Betroffenen bereits nach Aktenlage zur vorläufigen Überzeugung gelangt war, dass der Betroffene Fahrer seines Fahrzeugs zur Tatzeit war. Aus ebendiesem Grunde regte es mit diesem Schreiben ein Überdenken der zunächst erfolgten Einlassung des Betroffenen an, eine Anregung, der der Betroffene dann mit dem Einräumen der Fahrereigenschaft nachkam.
Weshalb es bei dieser Verfahrenskonstellation des Erscheinens des Betroffenen in der Hauptverhandlung zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit seines Teilgeständnisses bedürfen sollte, bleibt völlig unerfindlich.
Danach war das angefochtene Urteil aufzuheben und erschien es angesichts des bisherigen Verfahrensganges geboten, die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.