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Kammergricht Berlin Beschluss vom 05.12.2011 - 3 Ws (B) 560/11 - 2 Ss 305/11 - Beweisantrag auf Vernehmung eines Entlastungszeugen

KG Berlin v. 05.12.2011: Ablehnung eines verspäteten Beweisantrags auf Vernehmung eines Entlastungszeugen


Das Kammergricht Berlin (Beschluss vom 05.12.2011 - 3 Ws (B) 560/11 - 2 Ss 305/11) hat entschieden:
  1. Ein Antrag auf Vernehmung eines Entlastungszeugen wird in der Regel nicht abgelehnt werden können, sofern die Aufklärungspflicht seine Anhörung gebietet, wenn sein unter Beweis gestelltes Wissen den Bekundungen eine einzigen Belastungszeugen gegenüber steht und seine Benennung das Ziel hat, dessen Aussage zu widerlegen. Das gilt auch für die Fälle, in denen nicht ein einzelner Zeuge den Betroffenen belastet, sondern zwei durch eine gemeinsame Diensthandlung verbundene Polizeibeamte ausgesagt haben.

  2. Der Ablehnungsgrund der verspäteten Antragstellung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG setzt voraus, dass die beantragte Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung führen müsste. Darunter ist nur die Aussetzung gemäß § 228 StPO mit der Folge, dass die Hauptverhandlung neu durchgeführt werden muss, nicht auch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung iSd § 229 StPO gemeint. Der Richter muss sich deshalb vor der auf § 77 Abs. 2 Satz 2 OWiG gestützten Ablehnung eines Beweisantrages Gewissheit darüber verschaffen, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden kann.

Siehe auch Zeugen - Zeugenbeweis und Der Beweisantrag im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren


Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Zuwiderhandlung gegen § 24a Abs. 1 StVG zu einer Geldbuße von 575.-Euro verurteilt und nach § 25 StVG ein Fahrverbot von

einem Monat angeordnet, dessen Wirksam werden sich nach § 25 Abs. 2a StVG richtet. Gegen dieses Urteil hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme ausgeführt:
"1. § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG bestimmt, dass ein Beweisantrag auch abgelehnt werden kann, wenn das Gericht den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt und die weitere Beweiserhebung nach pflichtgemäßem Ermessen zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Danach gilt das Verbot einer dem Betroffenen ungünstigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung zwar nicht uneingeschränkt. Jedoch wird ein Antrag auf Vernehmung eines Entlastungszeugen in der Regel nicht abgelehnt werden können, sondern die Aufklärungspflicht gebietet seine Anhörung, wenn sein unter Beweis gestelltes Wissen den Bekundungen eine einzigen Belastungszeugen gegenüber steht und seine Benennung das Ziel hat, dessen Aussage zu widerlegen (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ 1991, 542, 543 und NStZ-RR 1999, 183, 184; OLG Köln, VRS 88, 376, 377; OLG Karlsruhe, NStZ 1988, 226). Das gilt auch für die Fälle, in denen – wie hier – nicht ein einzelner Zeuge den Betroffenen belastet, sondern zwei durch eine gemeinsame Diensthandlung verbundene Polizeibeamte (vgl. OLG Köln aaO) ausgesagt haben.

Dass zur Widerlegung der Aussagen einzelner Belastungszeugen benannte Entlastungszeugen zu vernehmen sind, ist jedoch kein ausnahmslos geltender Grundsatz, sondern es sind im Einzelfall das bereits gewonnene Beweisergebnis unter Berücksichtigung der Verlässlichkeit der Beweismittel und die beantragte Beweiserhebung gegeneinander abzuwägen. Auch hierbei ist entscheidend, ob die Beweisaufnahme sich aufdrängt oder zumindest nahe liegt (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ 1991, 542, 543). Nach dieser Abwägung kann ein Beweisantrag auch mit der Begründung abgelehnt werden, dass es unwahrscheinlich oder nicht damit zu rechnen sei, das benannte Beweismittel könne die behauptete Tatsache erweisen (vgl. OLG Düsseldorf und OLG Köln, jeweils aaO).

Nach diesen Grundsätzen war es zur Erforschung der Wahrheit notwendig, die von dem Betroffenen benannten Zeugen zu vernehmen, weil sie das Gegenteil der Behauptung des Zeugen PK Ba., der Betroffene habe auf dem Fahrersitz des LKW gesessen und sei bereits angefahren, und der Behauptung der Zeugin PK'in L., der Betroffene habe auf dem Fahrersitz gesessen und das Licht eingeschaltet, der Motor des LKW sei gelaufen, bekunden würden, nämlich dass der Betroffene den LKW weder gestartet, noch mit Motorkraft geführt habe. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Zeugen die in ihr Wissen gestellten Tatsachen nicht bekunden würden, weil in dem Beweisantrag behauptet wird, die Zeugen hätten das Geschehen aufgrund ihres Standortes, der ihnen freie Sicht auf den Betroffenen und den LKW ermöglicht habe, gut beobachten können. Ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht, muss in der Hauptverhandlung geklärt werden.

2. Auch der Ablehnungsgrund der verspäteten Antragstellung gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG liegt nicht vor. Denn dieser setzt voraus, dass die beantragte Beweiserhebung zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung führen müsste. Darunter ist nur die Aussetzung gemäß § 228 StPO mit der Folge, dass die Hauptverhandlung neu durchgeführt werden muss, nicht auch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung iSd § 229 StPO gemeint (vgl. OLG Hamm NZV 2008, 161, 161; Seitz in Göhler, OWiG 15. Aufl., § 77 Rdn. 20). Der Richter muss sich deshalb vor der auf § 77 Abs. 2 Satz 2 OWiG gestützten Ablehnung eines Beweisantrages Gewissheit darüber verschaffen, ob die Hauptverhandlung mit der beantragten Beweiserhebung innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO fortgeführt werden kann. Ohne eine solche Prüfung, die sich vorliegend weder aus dem Hauptverhandlungsprotokoll noch aus den Urteilsgründen, die sich mit der Behauptung, eine Aussetzung der Hauptverhandlung sei bei Stattgabe des Beweisantrags des Betroffenen notwendig, begnügen, ergibt, durfte der Beweisantrag nicht gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG zurückgewiesen werden. Die Erforderlichkeit einer Aussetzung der Hauptverhandlung liegt vorliegend auch nicht auf der Hand. Vielmehr ist angesichts dessen, dass der Betroffene in seinem Beweisantrag die Namen und Anschriften der drei Zeugen angegeben hat, die Zeugen in Berlin geladen werden können, davon auszugehen, dass die beantragte Beweiserhebung binnen drei Wochen und damit innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO durchgeführt werden können (vgl. OLG Hamm aaO)."
Diese zutreffenden Ausführungen macht sich der Senat zu Eigen, hebt, ohne dass es auf das weitere Rügevorbringen ankommt, das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurück.