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OLG Brandenburg Beschluss vom 17.11.2011 - (1 B) 53 Ss-OWi 446/11 (244/11) - Rechtsbeschwerde und nachträgliche Urteilsbegründung
OLG Brandenburg v. 17.11.2011: Rechtsbeschwerde und nachträgliche Urteilsbegründung
Das OLG Brandenburg (Beschluss vom 17.11.2011 - (1 B) 53 Ss-OWi 446/11 (244/11)) hat entschieden:
Wird ein nicht mit Gründen versehenes Urteil in einer Bußgeldsache der Staatsanwaltschaft gemäß § 41 StPO zugestellt, obwohl die Voraussetzungen des § 77b Abs. 1 OWiG nicht vorgelegen haben, ist eine nachträgliche Ergänzung auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen nicht mehr möglich.
Siehe auch Urteilsanforderungen und Protokoll im Bußgeldverfahren und Die Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen
Gründe:
I.
Die Zentrale Bußgeldstelle des Landes Brandenburg hat unter dem Datum des 20. Januar 2010 gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 32 km/h und um 48 km/h sowie wegen Unterschreitens des erforderlichen Sicherheitsabstandes zum vorausfahrenden Kraftfahrzeug um weniger als 3/10 des halben Tachowertes ein Bußgeld in Höhe von 310,00 Euro festgesetzt sowie gegen den Betroffenen ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet.
Nachdem der Betroffene gegen diesen Bußgeldbescheid form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hatte, hat das Amtsgericht Oranienburg auf die Hauptverhandlung vom 27. Juni 2011 – in Abwesenheit des vom persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen, jedoch in Anwesenheit von dessen Verteidigerin – „wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen (BKAT 12.5.2 und 11.3.6, 11.3.7) §§ 4 Abs. 1 und 41 Abs. 2 i.V.m. § 49 StVO i.V.m. 24 StVG“ auf eine Geldbuße von 250,00 € erkannt. Ein etwaiges Fahrverbot bleibt unerwähnt.
Das ausgefertigte Urteil beschränkt sich auf den oben genannten, […] Urteilstenor und die Kostenentscheidung. Unter dem Datum des 5. Juli 2011 verfügte die Bußgeldrichterin die Zustellung des Urteils (ohne Gründe) an den Betroffenen durch Zustellungsurkunde und an die Staatanwaltschaft gem. § 41 StPO. Auf der Urschrift des Urteils ohne Gründe befindet sich der Eingangsvermerk „zum Zwecke der Zustellung“ mit Datumsstempel vom 14. Juli 2011 und Unterschrift. Der Eingansstempel der Staatsanwaltschaft Neuruppin trägt ebenfalls das Datum des 14. Juli 2011. Unter dem Datum des 20. Juli 2011, eingegangen per Telefax beim Amtsgericht Neuruppin am selben Tag, legte die Staatsanwaltschaft Neuruppin gegen das Urteil (ohne Gründe) vom 27. Juni 2011 Rechtsbeschwerde ein.
Zwei Monate später, am 29. August 2011 verfügte die Bußgeldrichterin: „Urteil nach Diktat“ und „sofort WV“. Nun befindet sich ein mit überaus knapp gehaltenen Gründen versehenes Urteil bei den Akten, das auf Blatt 2, neben der Überschrift „Gründe“ einen Datumsstempel: „30. Aug. 2011“ trägt. Ob es sich dabei um das Datum des Eingangs des mit Gründen versehenen Urteils auf der Geschäftsstelle handelt, ist nicht ersichtlich.
Im Gegensatz zur voraufgegangenen Urteilschrift ohne Gründe verfügt die Bußgeldrichterin die Zustellung des Urteils mit Gründen an den Verteidiger des Betroffenen mit Empfangsbekenntnis und an die Staatsanwaltschaft nach § 41 StPO. Der Eingangsstempel der Staatsanwaltschaft Neuruppin trägt das Datum des 7. September 2011. Obwohl das Urteil Gründe enthält, fehlen jegliche Ausführungen zu dem noch im Bußgeldbescheid verhängten Fahrverbot wie auch zu den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen.
Unter dem Datum des 8. September 2011 beschränkt die Staatsanwaltschaft Neuruppin die Rechtsbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch und rügt mit der Verletzung materiellen Rechts vor allem, dass die Bußgeldrichterin von der Verhängung des Regelfahrverbots – ohne Begründung – abgesehen hat. […]
II.
1. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist gem. § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG statthaft und gem. § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden.
2. Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg; sie ist begründet und führt zu Aufhebung der angefochtenen Entscheidung insgesamt.
Die von der Staatsanwaltschaft Neuruppin erklärte Beschränkung der Rechtbeschwerde auf den Rechtsfolgenausspruch greift nicht durch.
Die Beschränkung der Rechtsbeschwerde auf bestimmte Beschwerdepunkte gem. § 344 Abs. 1 StPO, 79 Abs. 3 OWiG ist nach der so genannten Trennbarkeitsformel nur insoweit wirksam, als sie dem Rechtsmittelgericht die Möglichkeit eröffnet, den angefochtenen Teil des Urteils losgelöst vom nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich zu beurteilen, ohne die Prüfung des übrigen Urteilsinhalts notwendig zu machen. Die den Rechtsmittelberechtigten in § 344 Abs. 1 StPO, 79 Abs. 3 OWiG eingeräumte „Macht zum unmittelbaren Eingriff in die Gestaltung des Rechtsmittels“ (RGSt 69, 110, 111; vgl. BGHSt 14, 30, 36) gebietet es, den in Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck gekommenen Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren. Das Rechtsmittelgericht kann und darf diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Nachprüfung von keiner Seite begehrt wird, wenn und soweit der angegriffene Entscheidungsteil trennbar ist, also losgelöst vom übrigen Urteilsgehalt selbständig geprüft und beurteilt werden kann (RGSt 65, 296; RGSt 69, 110, 111; BGHSt 19, 46, 48; BGHSt 24, 185, 187; BGH NJW 1981, S. 589, 590, jeweils m.w.N.). Die grundlegende und unerlässliche Voraussetzung der Trennbarkeit von Schuld- und Rechtsfolgenfrage steht in engstem Zusammenhang mit dem Postulat der inneren Einheit bzw. Widerspruchsfreiheit der das Verfahren stufenweise abschließende Urteile, die als ein einheitliches Ganzes anzusehen, und dem Ziel des Verfahrens verhaftet sind, zu einer insgesamt gesetzesmäßigen Entscheidung zu gelangen (vgl. BGHSt 10, 71, 72; BGHSt 24, 185, 188; BGHSt 25, 72, 75 f.; BGH NJW1981, 589, 590).
Ein solcher Fall der Zulässigen Beschränkung des Rechtsmittels liegt hier schon deswegen vor, weil das Urteil keine Gründe enthält.
Da das dem Betroffenen zugestellte Urteil entgegen § 71 Abs. 1 OWiG, § 267 Abs. 1 StPO keine Gründe enthält, ist dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung dieser Entscheidung zur Gänze nicht möglich, und damit auch nicht hinsichtlich des Zusammenhangs von Schuld- und Rechtfolgenfrage. Daher unterliegt dieses Urteil insgesamt der Aufhebung. Ein Urteil ohne Urteilsgründe entfaltet Rechtswirksamkeit (vgl. BGH NJW 2004, 3643) und kann folglich mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden.
Gründe, die es dem Tatgericht ermöglichen, von der Begründung eines Urteils abzusehen, liegen nicht vor; insbesondere ist ein Fall des § 77b Abs. 1 OWiG nicht gegeben. Von einer schriftlichen Begründung des Urteils kann nach dieser Vorschrift nur abgesehen werden, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf die Einlegung des Rechtsmittels verzichten oder innerhalb der Frist des § 341 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG die Rechtsbeschwerde nicht eingelegt wird oder wenn die Verzichtserklärungen entbehrlich sind. Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben, so dass die Voraussetzungen für das Absehen von Urteilsgründen nach § 77b Abs. 1 OWiG nicht vorlagen. Im vorliegenden Fall hätte das mit Gründen versehene Urteil zugestellt werden müssen, um rechtkräftig werden zu können.
Da überdies eine entsprechende Anwendung von § 77b Abs. 2 OWiG nicht in Betracht kommt, hätte das Urteil ohne Gründe nach Verlassen des inneren Dienstbereiches auch nicht mehr abgeändert werden dürfen (vgl. OLG Hamm VRS 105, 363; OLG Bamberg ZfSchR 2007, 55).
Abzustellen ist damit auf das Urteil in der Fassung vom 27. Juni 2011. Die nachträgliche Anfertigung der Urteilsgründe aufgrund der Verfügung vom 29. August 2011 war unzulässig, da zu diesem Zeitpunkt eine nicht mehr abänderbare Urteilsfassung vorlag. Denn die Amtsrichterin hat – wie oben ausgeführt – die ursprüngliche Fassung sowohl der Staatsanwaltschaft nach § 41 StPO als aus dem Betroffenen förmlich zugestellt. Die spätere Urteilsfassung ist damit unbeachtlich (Senatsbeschluss vom 21. Juli 2003, 1 Ss-OWi 123 B/03; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2007, 212 f.).
Auf Grund dieses Mangels ist das angefochtene Urteil insgesamt aufzuheben (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 353 Abs. 1 StPO).