Das Verkehrslexikon

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OLG Jena Beschluss vom 29.08.2011 - 1 Ss Rs 86/11 - Wartefrist bis zum Erlass des Verwerfungsurteils

OLG Jena v. 29.08.2011: Zur Wartefrist bis zum Erlass des Verwerfungsurteils bei Ausbleiben des Betroffenen


Das OLG Jena (Beschluss vom 29.08.2011 - 1 Ss Rs 86/11) hat entschieden:
Im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht ist eine gewisse Verspätung des Betroffenen in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung ist angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht.


Siehe auch Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren und Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen


Gründe:

I.

Dem Betroffenen wird vorgeworfen, als Führer des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ERZ – SK 345 am 27.09.2009 gegen 18.23 Uhr auf der Bundesautobahn 4 in Richtung Dresden bei Kilometer 171,0 die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h überschritten zu haben. Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit wurde gegen den Betroffenen mit Bußgeldbescheid der Zentralen Bußgeldstelle der Thüringer Polizei vom 17.12.2009 eine – im Hinblick auf Voreintragungen im Verkehrszentralregister erhöhte – Geldbuße von 140,00 € festgesetzt. Gegen den Bußgeldbescheid erhob der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch.

In der in Anwesenheit seines Verteidigers durchgeführten Hauptverhandlung am 04.03.2011 hat das Amtsgericht Jena den Einspruch wegen unentschuldigten Ausbleibens des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Gegen das Verwerfungsurteil, das seinem Verteidiger am 24.03.2011 zugestellt worden ist, richtet sich die am 29.03.2011 erhobene und am 02.05.2011 mit der allgemeinen Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde des Betroffenen.

Mit der Verfahrensrüge trägt der Betroffene unter anderem Folgendes vor:

Die Hauptverhandlung sei auf 10.00 Uhr anberaumt gewesen. Um 10.03 Uhr habe er, der Betroffene, seinem Verteidiger auf dessen Mobiltelefon eine SMS-Mitteilung folgenden Inhalts geschickt: „Haben uns verspätet. Bin gleich da.“ Diese Nachricht habe sein Verteidiger dem Tatrichter vorgelesen. Dieser habe hierauf bis „ca. 10.30 Uhr“ gewartet und sodann den Einspruch verworfen. Dem Rügevorbringen des Betroffenen lässt sich außerdem entnehmen, dass er im Pkw seines Cousins, des Zeugen X, mitgefahren sei, welcher der wahre Fahrer des Tatfahrzeugs gewesen sei und zum Zwecke seiner Vernehmung und seines Vergleichs mit der auf den Messfotos abgebildeten Person vor Gericht habe erscheinen sollen. Ihre Verspätung sei darauf zurückzuführen, dass der im Rollstuhl sitzende Zeuge mit seiner, des Betroffenen Hilfe eine Treppe habe überwinden müssen, um in das Gerichtsgebäude zu gelangen. Der Betroffene ist der Meinung, dass „die vom Gericht eingeräumte Wartezeit von 30 min nicht ausreichend“ gewesen ist und der Tatrichter verpflichtet gewesen wäre, länger zu warten.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 20.06.2011 beantragt, auf die erhobene Gehörsrüge die Rechtsbeschwerde zuzulassen, das Verwerfungsurteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Jena zurückzuverweisen.

Mit Beschluss vom 26.08.2011 hat die zuständige Einzelrichterin des Senats auf das als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde anzusehende form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsmittel des Betroffenen die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung auf dem Gebiet des Verfahrensrecht zugelassen und die Sache dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.


II.

1. Die zugelassene Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

a) Die vom Betroffenen mit der Verfahrensrüge vorgebrachte Beanstandung, der Tatrichter hätte seinen Einspruch nicht schon nach einer Wartezeit von 30 Minuten nach § 74 Abs. 2 OWiG verwerfen dürfen, ist unbegründet.

Der Betroffene ist i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG in der Hauptverhandlung ausgeblieben, wenn er zu deren Beginn nicht erscheint (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 74 Rn. 28).

Ist der Betroffene ohne Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen, soll der Tatrichter allerdings im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende Fürsorgepflicht zur Einhaltung einer Wartezeit von 15 Minuten vor Verwerfung des Einspruchs verpflichtet sein. Dabei soll es unter Umständen sogar geboten sein, längere Zeit auf das Erscheinen des Betroffenen zu warten, etwa wenn dieser sein alsbaldiges Erscheinen innerhalb angemessener Zeit angekündigt hat oder sonst damit zu rechnen ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.08.2007, 2 Ss-OWi 223/07; KG Berlin, Beschlüsse vom 05.05.1997, (4) 1 Ss 94/97, und vom 29.11.2000, 2 Ss 257/00 – 3 Ws (B) 513/00; OLG Hamm, Beschluss vom 16.06.2006, 3 Ss OWi 310/06, bei juris; OLG Stuttgart, MDR 1985, 871; BayObLG VRS 76, 139 und bei Bär, DAR 1987, 315; Göhler, a.a.O. m.w.N.;).

Vorliegend hat der Tatrichter nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen des Betroffenen eine 15 Minuten übersteigende Wartezeit vor Verwerfung des Einspruchs eingehalten. Diese Wartezeit war auch im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts nach den konkreten Umständen des Einzelfalls jedenfalls ausreichend.

Der (zwingenden) Verwerfung des Einspruchs ohne Sachverhandlung nach § 74 Abs. 2 OWiG liegt – ebenso wie der Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO – die Vermutung zugrunde, dass derjenige, der sich ohne ausreichende Entschuldigung nicht zur Verhandlung einfindet, sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgen will. Die Einspruchsverwerfung soll den Betroffenen daran hindern, eine abschließende Entscheidung seiner Bußgeldsache dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Sie dient so der Verfahrensbeschleunigung. Um zu vermeiden, dass dabei der grundgesetzlich verbürgte Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verkürzt wird, ist allerdings eine enge Auslegung des § 74 Abs. 2 OWiG geboten (vgl. BayObLG, a.a.O.). Danach ist bei Auslegung und Anwendung der Vorschrift einerseits dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung und andererseits dem Interesse des Betroffenen an der Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör Rechnung zu tragen.

Vor diesem Hintergrund hält es auch der Senat im Hinblick auf das Gebot fairer Verfahrensführung und die sich daraus ergebende prozessuale Fürsorgepflicht für angebracht, eine gewisse Verspätung des Betroffenen in Rechnung zu stellen, wenn dieser ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde. Dabei ist die Einhaltung einer Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung angemessen. Eine über 15 Minuten hinausgehende Wartepflicht besteht dagegen regelmäßig nicht. Ob sie für solche Ausnahmefälle in Betracht zu ziehen ist, in denen besondere Umstände ein längeres Zuwarten nahe legen (vgl. OLG Hamm, a.a.O.; OLG Frankfurt, a.a.O.; KG Berlin a.a.O.), kann offen bleiben. Denn solche Umstände sind hier nicht gegeben. Der Betroffene hat kurz nach Beginn der 15-minütigen Wartezeit mitgeteilt, dass er sich – was offensichtlich war – verspätet habe und „gleich“ da sein werde. Hieraus konnte der Tatrichter allenfalls entnehmen, dass der Betroffene noch (irgendwann demnächst) kommen wolle, nicht aber, wann er voraussichtlich erscheinen werde. Insbesondere konnte der Tatrichter aufgrund der Mitteilung nicht erkennen, dass und in welchem Umfang ein weiteres, die regelmäßige Wartezeit von 15 Minuten übersteigendes Zuwarten aus Gründen prozessualer Fürsorge geboten gewesen wäre. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von Fällen, in denen der Betroffene seine ungefähre Ankunftszeit mitteilt oder nähere Angaben zu den Gründen für seine Verspätung macht, die es dem Gericht erlauben, einzuschätzen, dass der Betroffene voraussichtlich erst eine bestimmte Zeit nach Ablauf der 15-minütigen Wartefrist eintreffen wird bzw. sich unverschuldet verspätet hat. Danach hat der Tatrichter, indem er länger als 15 Minuten – nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen sogar 30 Minuten – bei unklarem Verspätungsgrund und ungewisser Ankunftszeit auf den Betroffenen gewartet hat, seiner prozessualen Fürsorgepflicht jedenfalls Genüge getan.

b) Das angefochtene Urteil ist auch nicht deshalb aufzuheben, weil es an einem Erörterungsmangel leidet.

Im Rahmen einer Rechtsbeschwerde gegen ein nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenes Verwerfungsurteil kann das Rechtsbeschwerdegericht lediglich prüfen, ob das Tatgericht die im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden oder in Betracht kommenden Entschuldigungsgründe überhaupt sachlich geprüft und dabei den Rechtsbegriff der nicht genügenden Entschuldigung fehlerfrei angewendet hat. Dabei sind dem Rechtsbeschwerdegericht eigene Tatsachenfeststellungen verwehrt. Vielmehr beschränkt sich dessen rechtliche Nachprüfung auf die mitgeteilten Urteilsgründe. Setzen sich diese nicht hinreichend mit der bei Erlass der Verwerfungsentscheidung gegebenen Verfahrenslage auseinander und sind insbesondere die dem Tatgericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannt oder zumindest erkennbar gewesenen Entschuldigungsgründe in den Urteilsgründen gar nicht erwähnt, kann das Rechtsbeschwerdegericht nicht feststellen, dass das Tatgericht diese Umstände überhaupt geprüft und vollständig und rechtsfehlerfrei gewürdigt hat. Ein derartiger Erörterungsmangel führt daher regelmäßig zur Aufhebung des angefochtenen Verwerfungsurteils (vgl. Senatsbeschlüsse vom 04.01.2006, 1 Ss 224/05, und vom 28.10.2004, 1 Ss 65/04; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 16.09.2009, 1 Ss Bs 28/09, bei juris, m.w.N.).

Ein solcher sachlich-rechtlicher Mangel ist hier trotz der nur formularmäßig abgefassten Urteilsbegründung nicht gegeben. Die im Urteil enthaltene pauschale Feststellung, der ordnungsgemäß zum Hauptverhandlungstermin geladene und vom persönlichen Erscheinen nicht entbundene Betroffene sei unentschuldigt ausgeblieben, genügt vorliegend für eine Einspruchsverwerfung. Denn auch nach dem Rechtsbeschwerdevorbringen hatte der Betroffene vor Verwerfung seines Einspruchs nichts zu seiner Entschuldigung vorgetragen. Auch waren sonst keine Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen im Termin erkennbar gewesen. Solche Anhaltspunkte ergaben sich insbesondere nicht aus seiner Mitteilung, er habe sich verspätet und werde gleich da sein. Da somit für den Tatrichter zum Zeitpunkt der Verwerfungsentscheidung keine Entschuldigungsgründe erkennbar waren, mussten solche auch nicht im Urteil erwähnt werden, um dieses einer rechtlichen Nachprüfung zugänglich zu machen (vgl. Senatsbeschluss vom 28.10.2004, 1 Ss 65/04).

Der Umstand, dass den Urteilsgründen nicht zu entnehmen ist, dass die Verwerfungsentscheidung erst nach einer Wartezeit von mehr als 15 Minuten ergangen ist, begründet keinen Sachmangel des Urteils. Denn aus den Urteilsgründen muss sich nur ergeben, dass die Voraussetzung für eine Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG – das unentschuldigte Ausbleiben des Betroffenen in der Hauptverhandlung bis zum Erlass des Verwerfungsurteils – vorgelegen hat. Ob das Gericht die sich im Einzelfall aus seiner prozessualen Fürsorgepflicht ergebende Wartepflicht vor Einspruchsverwerfung eingehalten hat, ist als Verfahrensfrage auf eine zulässige Verfahrensrüge hin zu überprüfen.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.