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Amtsgericht Hamburg-Altona Urteil vom 28.05.2013 - 316 C 16/13 - Unfall eines LKW mit einem von der Einfädelungsspur kommenden PKW auf der Autobahn

AG Hamburg-Altona v. 28.05.2013: Zur Haftungsverteilung bei einem Unfall eines LKW mit einem von der Einfädelungsspur kommenden PKW auf der Autobahn


Das Amtsgericht Hamburg-Altona (Urteil vom 28.05.2013 - 316 C 16/13) hat entschieden:
  1. Der Fahrer eines LKW, dessen Sichtmöglichkeiten nach vorn durch einen Toten Winkel eingeschränkt sind, hat sich im Bereich einer Autobahnauffahrt im Stop-and-go-Verkehr einer installierten Videokamera zu bedienen, wenn diese ihm ermöglicht, eine bessere Sicht nach vorn zu erhalten, weil er mit Fahrsteifenwechslern von der Einfädelungsspur rechnen muss.

  2. Kommt es zu einem Zusammenstoß mit einem PKW, der von der Einfädelungsspur kommt und sich im Toten Winkel befindet, nachdem er vollständig auf den rechten Fahrstreifen der Autobahn gefahren ist, so haften LKW-Fahrer und -Halter zu 70%.

Siehe auch Einfahren in die Autobahn und Stichwörter zum Thema Autobahn


Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 8.11.2012 auf der BAB 7 in Othmarschen ereignete. Dabei stießen das von dem Zeugen E... G... geführte Kraftfahrzeug der Klägerin, ein LKW, Amtliches Kennzeichen ..., und das bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherte Kraftfahrzeug Typ Mercedes SLK, Amtliches Kennzeichen ..., geführt von dem Beklagten zu 2), zusammen.

Die Klägerin behauptet, der Zeuge G... habe die rechte der beiden Fahrbahnen befahren. Von rechts sei die Einfädelspur gekommen. Das Beklagtenfahrzeug habe sich unmittelbar vor den LKW der Klägerin gesetzt und ohne triftigen Grund vollständig abgebremst. Herr G... sei nicht mehr in der Lage gewesen, rechtzeitig abzubremsen und sei auf den Mercedes aufgefahren.

An der Zugmaschine des LKW sei ausweislich des Kostenvoranschlags vom 17.11.12 (Anlage 1, Bl. 5ff d.A.), der zutreffend sei, ein Sachschaden in Höhe von € 1.321,00 netto entstanden. Daneben begehrt die Klägerin Nutzungsentschädigung für 2 Tage á € 261,17 und eine Kostenpauschale von € 25,00​.

Die Höhe des Nutzungsausfalls ergebe sich aus dem Gutachten L... vom 23.5.2008 (Anlage 2, Bl. 12ff d.A.) für ein vergleichbares Fahrzeug.

Zudem begehrt die Klägerin Ersatz außergerichtlicher Anwaltskosten. Die R+V Rechtsschutz-​Schadensregulierungs-​GmbH hat insoweit mit Schreiben vom 1.3.13 (Anlage 6a, Bl. 88 d.A.) bestätigt, diese Zahlung geleistet zu haben und Ansprüche wegen Erstattung dieser Kosten rückabgetreten zu haben.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie
  1. € 1.868,34 sowie

  2. außergerichtliche Anwaltsgebühren in Höhe von € 192,90 netto
nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie behaupten, es habe stop-​and-​go-​Verkehr geherrscht und der LKW-​Fahrer sei unmittelbar vor der Einfahrt in den Elbtunnel dreimal auf den Mercedes aufgefahren. Der Beklagte zu 2) sei bereits an der Anschlussstelle Bahrenfeld auf die Autobahn gefahren.

Zu Beschädigungen an Scheinwerferblende und Einstiegsklappe links habe der Unfall nicht geführt. Ergänzend wird für das Vorbringen der Parteien auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 11.3.2013 (Bl. 41f d.A.) über den Unfallhergang durch Vernehmung des Zeugen G.... Der Beklagte zu 2) ist gemäß § 141 ZPO persönlich angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme und der Anhörung wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 30.4.2013 (Bl. 115ff d.A.) Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klageforderung ist dem Grunde nach zu 30 % gerechtfertigt, so dass ein Zwischenurteil über den Grund zu erlassen ist.

Die nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG gebotene Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile führt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme dazu, dass die Beklagten der Klägerin gemäß §§ 823 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. 7 Abs. 5 StVO, 18 Abs. 1 StVG, 17 StVG, 115 VVG 30 % des dieser entstandenen Schadens zu ersetzen haben.

Der überwiegende Verursachungsanteil liegt bei der Klägerin. Denn zum einen ist der Unfall wesentlich dadurch verursacht worden, dass die Sichtmöglichkeiten des Zeugen G... aufgrund der Bauweise des LKW erheblich eingeschränkt gewesen sind. Damit ist eine gegenüber anderen Kraftfahrzeugen deutlich erhöhte Betriebsgefahr verbunden. Zum anderen hätte der Zeuge G..., wenn er hinreichend aufmerksam gewesen wäre, das vor ihm einscherende Kraftfahrzeug des Beklagten zu 2) wahrnehmen können und den Unfall durch eine Verringerung der Geschwindigkeit und das Herbeiführen eines größeren Abstands verhindern können.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Beklagte zu 2) mit seinem Mercedes von der Auffahrt Bahrenfeld/Abfahrt Othmarschen, die im Unfallbereich durchgehend neben dem rechten Fahrstreifen der BAB 7 geführt wird, zur Gänze vor dem LKW einscheren konnte und zunächst vor dem LKW herfuhr. Denn auf der Videoaufzeichnung, die im Termin abgespielt wurde, war zu sehen, dass das Einscheren des Mercedes SLK mehrere Sekunden vor dem ersten Kontakt zwischen dem LKW und dem davor befindlichen Hindernis abgeschlossen war. Da sich der LKW im Stop-​and-​go-​Verkehr unmittelbar neben einer Einfädelungspur befand, musste der Zeuge G... auch damit rechnen, dass Fahrzeuge von dort aus auf die Autobahn auffahren würden. Er hatte damit angesichts der Bauweise des von ihm geführten Fahrzeugs, das nach seinen eigenen Angaben im Sitzen einen Blick erst auf Gegenstände mit mindestens drei Metern Abstand ermöglicht, Anlass zu gesteigerter Sorgfalt. Er hätte auch erkennen können, dass sich der Mercedes SLK des Beklagten zu 2) vor den LKW gesetzt hat. Denn dieser war auf der Videoaufzeichnung deutlich zu erkennen.

Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, dass der Zeuge, wie er bekundet hat, während der Fahrt keinen Gebrauch von der Videoübertragung der Kamera macht. Denn es existiert kein Verbot, von technischen Hilfsmitteln Gebrauch zu machen, die den Sichtbereich des Fahrers erweitern. Jedenfalls in Anbetracht der besonderen Situation (stop-​and-​go-​Verkehr im Bereich einer Auffahrt) hätte der Zeuge von den technischen Möglichkeiten, die sich ihm boten, Gebrauch machen müssen.

Auch den Beklagten zu 2) trifft jedoch ein Verschulden an dem Unfall. Denn dieser ist in derart geringem Abstand vor dem LKW auf die Autobahn gefahren, dass sich ihm aufdrängen musste, dass er möglicherweise vom Fahrer des LKW übersehen wird. Auf die Frage, ob er versucht habe, Blickkontakt zum LKW-​Fahrer herzustellen, äußerte er, diesen bei dem gegebenen Abstand angesichts des sehr flachen Mercedes SLK nicht haben zu können. Deshalb sei Blickkontakt „praktisch nur bei einer Entfernung ab 50 Meter möglich“. Angesichts dieser Äußerung musste der Beklagte zu 2) damit rechnen, dass auch der LKW-​Fahrer ihn übersehen würde und entweder auf ein Einfahren mit zu geringem Abstand verzichten oder aber jedenfalls sofort sicherzustellen, dass der Abstand zum LKW auf einen Sichtabstand hin erhöht wird, etwa durch Beschleunigung. Dass er dies nicht tat, gereicht ihm zum Verschulden. Denn nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Fahrstreifenwechsel selbst begründete jedoch die Gefahr, übersehen zu werden, so dass trotz des zeitlichen Abstands zwischen Fahrstreifenwechsel und Auffahrunfall noch von einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel gesprochen werden muss.

Hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist der Rechtsstreit noch nicht zur Entscheidung reif. Soweit es Scheinwerferblende und Einstiegsklappe links betrifft, hat die Klägerin sich zum Beweis der Richtigkeit des Kostenvoranschlags auf ein Sachverständigengutachten berufen, das noch einzuholen ist.

Soweit es die geltend gemachte Nutzungsentschädigung betrifft, wird die Klägerin noch Beweis dafür anbieten müssen, dass der LKW zwei Tage wegen Reparaturarbeiten ausgefallen ist. Dazu reicht die Aussage des Zeugen G... nicht aus. Darüber hinaus hat die Klägerin Beweis für die Höhe des entgangenen Gewinns anzubieten. Wo das Fahrzeug unmittelbar zur Erbringung gewerblicher Leistungen dient, wie etwa bei einem Taxi oder LKW, muss der Geschädigte den Ertragsentgang konkret berechnen (BGH, Urt. v. 4.12.2007, NJW 2008, S. 913, 914). Dass dafür ein Gutachten, das sich mit dem Ertrag der Klägerin aus dem Jahre 2007 beschäftigt, im Jahre 2012 gänzlich ungeeignet ist, liegt auf der Hand.

Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit entfällt mangels vollstreckungsfähigen Inhalts dieses Urteils.