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OLG München Urteil vom 28.02.2014 - 1 U 142/12 - Unfall zwischen einem überholenden Verkehrsteilnehmer mit einem linksabbiegenden Viehanhängergespann mit defekter Blinkanlage

OLG München v. 28.02.2014: Unfall zwischen einem überholenden Verkehrsteilnehmer mit einem linksabbiegenden Viehanhängergespann mit defekter Blinkanlage


Das OLG München (Urteil vom 28.02.2014 - 1 U 142/12) hat entschieden:
  1. Fährt ein Verkehrsteilnehmer mit seinem Viehanhängergespann mit defektem Blinkersystem auf eine Abzweigung zu und ist ihm nicht mehr erinnerlich, ob er den Blinker nach links 50m oder nur 10m vor der Abzweigung betätigt hat, und kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass wegen der Weg-/Zeitbetrachtung eine Betätigung des Blinkers mindestens 3,5 Sekunden bis 4 Sekunden vor der Kollision hätte erfolgen müssen, damit der überholende Verkehrsteilnehmer dies noch rechtzeitig hätte wahrnehmen können, so ist ein Alleinverschulden des Gespannfahrers anzunehmen, da die Betriebsgefahr des überholenden Verkehrsteilnehmers hinter die erheblichen Verkehrsverstöße des Gespannfahrers zurücktritt.

  2. Für die Unabwendbarkeit im Rahmen des § 17 III StVG ist der in Anspruch genommene Halter beweisbelastet. Im Rahmen der Abwägung nach § 17 I und II StVG gilt dagegen der Grundsatz, dass jeder Halter die Umstände beweisen muss, die zu Ungunsten des anderen Halters berücksichtigt werden sollen.

Siehe auch Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger und Stichwörter zum Thema Überholen


Gründe:

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Der Senat gelangt nach Wiederholung der Beweisaufnahme nicht zu einer Mithaftung des Beklagten zu 1).

1. Für den anlässlich des streitgegenständlichen Verkehrsunfalles dem Beklagten zu 1) entstandenen Schaden haften die Klägerin und die Drittwiderbeklagten zu 2) und 3) alleine. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Drittwiderbeklagte zu 2) gegen seine Pflichten als Linksabbieger verstoßen hat, weil er nicht unmittelbar vor dem Abbiegen Rückschau gehalten hat (dann wäre der Beklagte zu 1) nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-​Ing. R., von dessen hervorragender Sachkunde sich der Senat anlässlich einer Vielzahl erholter Gutachten und Anhörungen vor dem Senat überzeugt hat, als Überholer erkennbar gewesen) und auch den Fahrtrichtungsanzeiger nicht rechtzeitig betätigt hat, § 9 I 1, 4 StVO. Hingegen konnten die Berufungsbeklagten dem Beklagten zu 1) ein Überholen trotz unklarer Verkehrslage (§ 5 III Nr. 1 StVO) nicht nachweisen.

a) Nicht entscheidend ist, dass der Beklagte zu 1) nicht beweisen konnte, dass der Verkehrsunfall für ihn unabwendbar war und er sich möglicherweise nicht wie ein Idealfahrer verhalten hat.

Bei § 17 III StVG handelt es sich um einen neben § 7 II StVG tretenden Ausschlusstatbestand, welcher nur aus praktischen Gründen als Grenze der nach § 17 I und II StVG möglichen Abwägung behandelt werden soll (Senat DAR 2007, 465 f.; zur systematischen Stellung des § 17 III StVG ferner eingehend Ady VersR 2003, 1101 [1103 unter III 3]). Die Fragen der Unabwendbarkeit und der Haftungsverteilung sind deshalb streng voneinander zu trennen (OLG Hamm NZV 2002, 373 zu § 7 II StVG a. F.; KG NZV 2004, 579 = VRS 107 [2004] 23 = KGR 2004, 459 [die Frage der Haftungsverteilung ist logisch nachrangig]; Senat a.a.O. ).

Für die Unabwendbarkeit im Rahmen des § 17 III StVG ist der in Anspruch genommene Halter beweisbelastet (BGH NJW 1973, 44 [46] = MDR 1973, 208 = VersR 1973, 83 = DAR 1973, 72 = VerkMitt. 1973, Nr. 49; DAR 1976, 246; OLG München [24. ZS] VersR 1976, 1143 [1144]; OLG Köln NZV 1994, 230 = VersR 1994, 573 = r+s 1994, 94 = VRS 87 [1994] 92; DAR 1995, 484; OLG Brandenburg VRS 106 [2004] 99; KG NZV 2004, 579 = VRS 107 [2004] 23 = KGR 2004, 459; OLG Celle OLGR 2007, 854; OLG Schleswig OLGR 2008, 314). Im Rahmen der Abwägung nach § 17 I und II StVG gilt dagegen der Grundsatz, dass jeder Halter die Umstände beweisen muss, die zu Ungunsten des anderen Halters berücksichtigt werden sollen (BGH NJW 1996, 1405 [1406]; OLG Frankfurt a. M. 1995, 400 [401]; Senat, Urt. v. 24.11.2006 - 10 U 2555/06; DAR 2007, 465). Dies führt bei Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens hinsichtlich derselben Tatsache bei § 17 II StVG und § 17 III StVG zu wechselnden Beweislastentscheidungen (Senat, Urt. v. 24.11.2006 - 10 U 2555/06; Kirchhoff MDR 1998, 12 [14]). Falsch wäre es, aus dem Umstand, dass sich eine Partei nicht entlasten kann, das Gegenteil als bewiesen anzusehen (Senat, Urt. v. 24.11.2006 - 10 U 2555/06; Kirchhoff a.a.O. ).

b) Nach Angaben beider Unfallbeteiligter fuhr der Beklagte zu 1) über eine Strecke von mehreren hundert Metern hinter dem Gespann des Drittwiderbeklagten her bei einer Geschwindigkeit von 50 km/bis 60 km/h. Im Hinblick auf die Breite der Achse des Viehanhängers ist von einer deutlichen und für den nachfolgenden Verkehr mit Signalwirkung erkennbaren Verlagerung der Fahrlinie des Gespanns zur Fahrbahnmitte hin nicht auszugehen. Der Beklagte zu 1) hat angegeben, dass der Anhänger schon vor Einleitung des Überholvorganges zur Mitte hin orientiert war und sein Abstand 10 m bis 15 m betrug, was der Senat glaubt. Am Fahrzeug des Drittwiderbeklagten war das Massekabel defekt, was, wie sich aus den Angaben des die Beleuchtung überprüfenden Polizeibeamten K. und den Ausführungen des Sachverständigen ergibt, dazu führt, dass der Blinker beim Betätigen des Bremspedals erlischt und dann die Bremsleuchten im Intervall des Blinkers aufleuchten. Der Drittwiderbeklagte zu 2) konnte auf Befragen angeben, dass er seinen Pkw nach Ende der 70 km/h-​Zone, etwa 60 m vor der Abzweigung zunächst durch Auslaufen verlangsamte, wobei er nicht angeben konnte, wann er bremste und nicht mehr wusste, ob er überhaupt bremste und ihm hinsichtlich der Betätigung des Blinkers in Erinnerung war, dass er diesen jedenfalls erst nach Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkung betätigte, ihm aber nicht mehr in Erinnerung war, ob dies nun 50 m oder 10 m vor der Abzweigung erfolgte. Der Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass bei einer Betätigung des Blinkers etwa 50 m vor der Abzweigung möglicherweise der Beklagte zu 1) den Überholvorgang bereits eingeleitet hatte und wegen der Weg-​/Zeitbetrachtung eine Betätigung des Blinkers mindestens 3,5 Sekunden bis 4 Sekunden vor der Kollision erfolgen musste, um für den Beklagten zu 1) sicher wahrnehmbar zu sein, während eine spätere Betätigung, etwa 25 m oder, was der Drittwiderbeklagte zu 2) auch für möglich erachtete, 10 m vor der Abzweigung für den Beklagten zu 1) nicht mehr rechtzeitig wahrnehmbar war. Der Beklagte zu 1) hat angegeben, dass der Drittwiderbeklagte zu 2) nicht blinkte und er des Weiteren kein Aufflackern oder Blinken des Bremslichtes wahrnahm. Der Senat glaubt dem Beklagten und gelangt daher in Verbindung mit den Feststellungen des Sachverständigen zu der Überzeugung, dass der Drittwiderbeklagte zu 2) erst blinkte und bremste, als der Beklagte zu 1) weniger als 3,5 Sekunden vor der Kollision den Überholvorgang bereits eingeleitet und auf der Gegenfahrbahn zum Gespann aufgeschlossen hatte.

c) Eine unklare Verkehrslage ist nicht bewiesen, da der Drittwiderbeklagte zu 2) bereits über eine längere Wegstrecke deutlich unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fuhr (für den Folgeverkehr entsteht durchaus der Eindruck, dass dies aus Fürsorge gegenüber transportierten Tieren erfolgte) und Zeitdauer sowie Intensität einer Bremsung in Relation zum Beginn des Überholmanövers nicht mehr rekonstruierbar sind. Weiter ist auch eine deutliche Verlagerung der Fahrlinie im Sinne eines Einordnens nicht bewiesen. Allein dass der Vorausfahrende langsam fährt und sich einer Abzweigung nähert, genügt vorliegend nicht für die Annahme einer unklaren Verkehrslage. Der Senat gelangt zu einer Alleinhaftung der Drittwiderbeklagten, da die Betriebsgefahr hinter die erheblichen Verkehrsverstöße des Drittwiderbeklagten zu 2) zurücktritt.

2. Zur Schadenshöhe:

a) Nach einer in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung sind Verbringungskosten bei Abrechnung des Schadens auf Basis fiktiver Reparaturkosten nicht erstattungsfähig und auch Ersatzteilpreisaufschläge nur dann ersatzfähig, wenn sie konkret angefallen sind (OLG Schleswig SP 2013, 194; OLG Hamm, Urt. v. 04.01.2001 - 27 U 115/00; LG Paderborn, Urt. v. 25.06.2013 - 20 O 95/13; LG Hannover, Urt. v. 25.03.2008 - 14 S 83/07; LG Limburg, Urt. v. 20.05.2011 - 3 S 20/11; LG Oldenburg, Beschl. v. 10.03.2008 - 9 S 720/07; AG Witten, Urt. v. 02.05.2013 - 2 C 12/13; AG Dinslaken, Urt. v. 21.07.2010 - 32 C 107/10; AG Hannover, Urt. v. 21.12.2010 - 401 C 13400/09; AG Lennestadt, Urt. v. 16.10.2012 - 3 C 233/12; AG Münster, Urt. v. 11.11.2009 - 8 C 3459/09 und AG Offenbach, Urt. v. 16.11.2010 - 38 C 184/10).

Hinsichtlich der Ersatzteilpreisaufschläge und Verbringungskosten ist Anknüpfungspunkt die Erforderlichkeit i. S. d. § 249 II 1 BGB. Ein Schadengutachten legt den zu beanspruchenden Schadensersatz für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs nicht bindend fest. Bei den Kosten für die Verbringung des Fahrzeugs zu einer Lackiererei handelt sich nicht um einen unmittelbaren Schaden an der Fahrzeugsubstanz, sondern nur um einen mittelbaren Begleitschaden, der in dieser oder einer anderen Höhe anlässlich der Reparatur in einer bestimmten Werkstatt möglicherweise anfallen kann. Andererseits ist für das, was zur Schadensbeseitigung nach der letztgenannten Vorschrift erforderlich ist, ein objektivierender, nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten typisierender Maßstab anzulegen. Die Festlegung des für die Reparatur erforderlichen Geldbetrages kann dabei im Wege einer fiktiven Abrechnung sachgerecht auf der Grundlage des Gutachtens eines anerkannten Kfz-​Sachverständigen erfolgen. Hierbei muss der Sachverständige eine Prognose darüber erstellen, welche Kosten bei einer Reparatur in einer Fachwerkstatt anfallen. Auch hinsichtlich der UPE-​Aufschläge handelt es sich um unselbständige Rechnungspositionen im Rahmen der Reparaturkostenermittlung, deren Beurteilung durch den Sachverständigen nicht anders zu behandeln ist als seine hinsichtlich der Arbeitszeit oder des benötigten Materials erfolgte Einschätzung (OLG Hamm NZV 2013, 247).

b) Maßgeblich ist nach Auffassung des Senats, ob im Falle einer Reparatur in der Region bei markengebundenen Fachwerkstätten (darauf hat der Geschädigte vorliegend im Hinblick auf die Erstzulassung am 12.07.2011 Anspruch) typischerweise Verbringungskosten und UPE-​Aufschläge erhoben werden (vgl. auch OLG Düsseldorf DAR 2008, 523; KG KGR 2008, 610; Senat, Urt. v. 27.05.2010 - 10 U 3379/09 [juris, dort Rz. 25]).

Nach dem ergänzenden Sachverständigengutachten verlangen sämtliche markengebundenen Fachwerkstätten (darauf hat der Geschädigte vorliegend im Hinblick auf die Erstzulassung am 12.07.2011 Anspruch) im Wohnumfeld des Beklagten zu 1) sowohl Ersatzteilpreisaufschläge in Höhe von mindestens 10% als auch - mangels eigener Lackiererei - Verbringungskosten für die Fahrt zum Lackieren, so dass es sich insoweit auch im Rahmen einer fiktiven Abrechnung um erforderliche Kosten i. S. d. § 249 II 1 BGB handelt.

c) Es ergibt sich daher ein ersatzfähiger Schaden und ein Anspruch in Höhe von 7.644,83 € zuzüglich vorgerichtlicher Kosten, welche in der beantragten Höhe zuzusprechen waren, so dass Nr. 2 und 3 des Endurteils wie tenoriert abzuändern waren.

II.

Die Kostenentscheidung beruht für die erste Instanz auf §§ 92 I 1 Fall 2, 100 II, IV ZPO, für das Berufungsverfahren auf §§ 91 I 1, 100 IV ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.