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VGH München Beschluss vom 16.06.2014 - 11 CS 14.764 - Anordnung einer augenärztlichen Begutachtung
VGH München v. 16.06.2014: Zur Interessenabwägung bei der Anordnung einer augenärztlichen Begutachtung
Der VGH München (Beschluss vom 16.06.2014 - 11 CS 14.764) hat entschieden:
Gibt ein Fahrerlaubnisinhaber bei einer Verkehrskontrolle an, er fahre nachts nicht gerne, weil er im Dunkeln nicht mehr gut sehe, ergibt sich daraus ein hinreichender Anhaltspunkt für die Notwendigkeit einer augenärztlichen Begutachtung allenfalls in Bezug auf die Frage des ausreichenden Kontrast- und Dämmerungssehens betreffend die Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2, aber nicht eine umfassende Fragestellung zum Sehvermögen, die zum Teil weder anlassbezogen noch gerechtfertigt ist.
Siehe auch Sehvermögen und Fahrerlaubnis und Fahreignung als Voraussetzung für die Erteilung bzw. Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis
Gründe:
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, B, BE, C1 und C1E mit Bescheid des Beklagten vom 31. Januar 2014.
Der 1933 geborene Antragsteller war an drei verschiedenen Tagen im Sommer 2013 durch unsicheres Verhalten im Straßenverkehr aufgefallen. Am 28. August 2013 gegen 20:40 Uhr fuhr er gemäß der polizeilichen Sachverhaltsschilderung Schlangenlinien und teilweise sehr langsam sowie in der Fahrbahnmitte. Bei der anschließenden Polizeikontrolle hat er angegeben, er fahre nachts nicht gerne, weil er im Dunkeln nicht mehr gut sehe.
Die Fahrerlaubnisbehörde lud den Antragsteller zu einem Gespräch, das am 17. Oktober 2013 in Anwesenheit des Antragstellerbevollmächtigten stattfand. Der Antragsteller legte dabei eine ärztliche Bescheinigung für Bewerber um eine Fahrerlaubnis der Gruppe 2 vom 30. September 2013 vor, wonach keine Beeinträchtigungen des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens bei ihm festgestellt werden konnten. Ferner legte er eine Bescheinigung über eine augenärztliche Untersuchung i.S.d. Nr. 2.1 der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung vom 29. Mai 2009 vor, wonach er die Anforderungen dieser Vorschrift erfüllte. Laut Aktenvermerk über das Gespräch vom 17. Oktober 2013 gab der Antragsteller an, bei der Fahrt am 28. August 2013 sei er selbst am Steuer gesessen. Es sei ihm aber nicht bewusst, dass er Schlangenlinien gefahren sei, vielmehr habe er einem über die Straße laufenden Hund ausweichen müssen. Unter dem 22. Oktober 2013 hat die Fahrerlaubnisbehörde gestützt auf den Vorfall vom 28. August 2013 unter Hinweis auf § 11 Abs. 8 FeV die Vorlage einer augenärztlichen Gutachtens bis zum 7. Januar 2014 von ihm gefordert. Ein solches Gutachten wurde nicht vorgelegt.
Den zugleich mit der Klageerhebung gegen die Fahrerlaubnisentziehung vom 31. Januar 2014 gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO lehnte das Verwaltungsgericht Ansbach mit Beschluss vom 13. März 2014 ab. Es seien keine durchgreifenden Gründe dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass die Gutachtensandordnung an formellen oder materiellen Mängeln leiden würde. Die materiellen Voraussetzungen für die Anforderung eines fachärztlichen Gutachtens gemäß § 12 Abs. 8 FeV lägen vor, denn die Bedenken gegen die körperliche Fahreignung des Antragstellers seien berechtigt. An der gesundheitlichen Eignung des Antragstellers bestünden nach den festgestellten Auffälligkeiten zumindest vernünftige Zweifel.
Mit seiner gegen den Beschluss vom 13. März 2014 gerichteten Beschwerde macht der Antragsteller geltend, er sei als Träger einer Beinprothese auf die Fahrerlaubnis angewiesen. Es bestünden keine begründeten Zweifel an seiner Fahreignung. Er sei rüstig und den Anforderungen des Straßenverkehrs gewachsen. Dass das Sehvermögen im Alter nachlasse, sei bekannt. Für die Anordnung einer augenärztlichen Begutachtung habe keine dringende Veranlassung bestanden. Nach der von ihm vorgelegten Bescheinigung über die augenärztliche Untersuchung aus dem Jahr 2009 und der aktuellen Sehtestbescheinigung seien keine Defizite vorhanden. Es seien keine durchgreifenden Anhaltspunkte für eine Nachtblindheit vorhanden. Bereits die ausreichende Tagessehschärfe indiziere, dass keine die Fahreignung in Frage stellende Nachtblindheit vorliege. Im Rahmen der Klage sei Sachverständigenbeweis zum Vorliegen der vollen Sehfähigkeit angeboten worden. Sinngemäß führt der Antragsteller weiter aus, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass er „mit niedriger Geschwindigkeit Schlangenlinien“ gefahren sei, denn zur Zeit dieser Beobachtung habe er sein Auto an einen Bekannten verliehen gehabt. Im Rahmen eines weiteren Vorfalls sei er einem Hund ausgewichen. Die „Anschwärzung“ durch einen anderen Verkehrsteilnehmer sei ein recht zweifelhaftes Indiz für die Annahme „sehbedingter Eignungsmängel“.
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen.
II.
Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Senat auf die form- und fristgerecht geltend gemachten Gründe beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat in der Sache teilweise Erfolg.
1. Der Schluss auf die fehlende Kraftfahreignung eines Fahrerlaubnisinhabers und die Entziehung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 FeV ist nur zulässig, wenn die Anordnung der ärztlichen oder medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, U.v. 9.6.2005 – 3 C 25.04 – NJW 2005, 3081 f. m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Gemäß § 46 Abs. 3, § 12 Abs. 8 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines augenärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken begründen, dass der Fahrerlaubnisinhaber die Anforderungen an das Sehvermögen nach Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung nicht erfüllt oder dass andere Beeinträchtigungen des Sehvermögens bestehen, die die Kraftfahreignung beeinträchtigen. Hierbei gelten gemäß § 12 Abs. 8 Satz 3 FeV die Absätze 5 bis 8 des § 11 FeV entsprechend.
Die Fahrerlaubnisbehörde hat ihre Anordnung vom 22. Oktober 2013, dass der Antragsteller ein augenärztliches Gutachten beizubringen hat, auf den Vorfall vom 28. August 2013 gestützt. An diesem Abend hat der Antragsteller bei der Polizeikontrolle unstreitig angegeben, er fahre nachts nicht gerne, weil er im Dunkeln nicht mehr gut sehe. Daraus ergibt sich ein hinreichender Anhaltspunkt für die Notwendigkeit einer augenärztlichen Begutachtung allenfalls in Bezug auf die Frage des ausreichenden Kontrast- und Dämmerungssehens betreffend die Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2.
Die Gutachtensanordnung vom 22. Oktober 2013 enthält indes eine umfassende Fragestellung zum Sehvermögen, die zum Teil weder anlassbezogen noch gerechtfertigt ist. Es soll hiernach geklärt werden, ob das Sehvermögen des Antragstellers unter Berücksichtigung der bestmöglichen Korrektur gemäß Anlage 6 zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 und der Gruppe 2 ausreicht (1.), ob die Mindestanforderungen an die übrigen Sehfunktionen (Gesichtsfeld, Beweglichkeit, Farbensehen, Stereosehen, Kontrast- oder Dämmerungssehen) gemäß Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung erfüllt sind (2.) und ob ggfs. ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 und der Gruppe 2 nur unter bestimmten Auflagen bzw. Beschränkungen geführt werden kann (3.).
Die Feststellungen über die Fahrt des Antragstellers am 28. August 2013 tragen diese umfassende Fragestellung nicht. Unangepasst langsames Fahren, ein Überfahren der Fahrbahnmitte und mangelndes Halten der Spur sind zwar generell geeignet, Bedenken gegen die Kraftfahreignung zu wecken. Es handelt sich aber nicht um für mangelndes Sehvermögen besonders typische Ausfälle. Der Antragsteller selbst hat lediglich eingeräumt, nachts nicht mehr gut zu sehen. Ausreichende Anhaltspunkte bestanden somit allenfalls für die Anordnung einer Überprüfung des Kontrast- und Dämmerungs-Sehvermögens (Nr. 2.1.2 Anlage 6 zur FeV). Auch die weitere von der Fahrerlaubnisbehörde herangezogene Begründung für die umfassende Gutachtensanordnung, die letzte augenärztliche Untersuchung habe bereits 2009 stattgefunden, rechtfertigt die umfassende Fragestellung nicht. Denn es gibt keine Ermächtigungsgrundlage dafür, das Sehvermögen eines Fahrerlaubnisinhabers ohne das Vorliegen konkreter, Bedenken begründende Tatsachen zu überprüfen; nur bei Beantragung einer Fahrerlaubnis dürfen gemäß § 12 Abs. 7 FeV die jeweils nötigen Nachweise für das Sehvermögen nicht älter als zwei Jahre sein. Tatsachen, die über das Dämmerungs- und Kontrastsehen hinaus hinreichende Bedenken gerade gegen ein genügendes Sehvermögen des Antragstellers begründeten, sind nicht dargetan.
Hinzu kommt, dass weder der Anlass für die Anordnung, nämlich die Fahrt des Antragstellers vom 28. August 2013 noch die Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung eine Erstreckung der Anordnung eines augenärztlichen Gutachtens bezogen auf die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 (A, A1, B und BE) rechtfertigen. Nach Nr. 1.1 der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung wird die Erfüllung der Anforderungen an das Sehvermögen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 grundsätzlich durch einen Sehtest nachgewiesen. Eine augenärztliche Untersuchung ist nach Nr. 1.2 der Anlage 6 zur FeV lediglich dann vorgesehen, wenn der Bewerber um eine Fahrerlaubnis der Gruppe 1 den Sehtest nicht besteht. Um sicherzustellen, dass keine anderen Störungen der Sehfunktion vorliegen muss sich der Bewerber nur ausnahmsweise gemäß Nr. 1.3 der Anlage 6 zur FeV einer augenärztlichen Begutachtung unterziehen, wenn er trotz Nichterfüllens der Anforderungen an das Gesichtsfeld oder die Sehschärfe eine Fahrerlaubnis erlangen will. Nur in diesem Fall ist für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 das Dämmerungs- und Kontrastsehen sowie die Blendempfindlichkeit zu prüfen. Daraus ist im Umkehrschluss zu folgern, dass Fahrerlaubnisbewerber oder -inhaber für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1, sofern sie den Sehtest bestehen und keine Einschränkungen bezüglich Sehschärfe oder Gesichtsfeld aufweisen, nicht auf Dämmerungs- und Kontrastsehen sowie ihre Blendempfindlichkeit zu untersuchen sind. Der Antragsteller wollte im Übrigen am 6. Dezember 2013 die Sehtestbescheinigung eines Optikers bei der Behörde vorlegen, deren Annahme aber als nicht ausreichend abgelehnt wurde (Bl. 89 der Fahrerlaubnisakte). Für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 genügt indes wie dargelegt gemäß Nr. 1.1 der Anlage 6 zur Fahrerlaubnis-Verordnung ein bestandener Sehtest zum Nachweis des Sehvermögens.
2. Die in der Hauptsache erhobenen Klage hat somit Aussicht auf Erfolg, weil die Gutachtensanordnung und damit auch die Fahrerlaubnisentziehung rechtswidrig sind. In der Interessenabwägung, die das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmen hat, ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass wegen des Vorfalls vom 28. August 2013 und der eigenen Einlassung des Antragstellers hierzu, bezogen auf seine Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 2 (C1 und C1E) die Anordnung einer augenärztlichen Begutachtung im Hinblick auf das Kontrast- und Dämmerungssehen gerechtfertigt wäre. In Anbetracht des hohen Interesses an der Straßenverkehrssicherheit muss deshalb das private Interesse des Antragstellers, von seiner Fahrerlaubnis weiterhin Gebrauch machen zu dürfen hinter dem öffentlichen Interesse am Schutz unbeteiligter dritter Verkehrsteilnehmer insoweit zurücktreten, als es seine Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 2, nämlich C1 und C1E angeht. Die aufschiebende Wirkung war deshalb nur bezüglich der Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 (A, A1, B und BE) wiederherzustellen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (http://www.bverwg.de/informationen/streitwertkatalog. php).