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OLG Jena Beschluss vom 28.05.2013 - 1 Ss 18/13 - EU-Führerschein und Nachweis eines Wohnsitzverstoßes
OLG Jena v. 28.05.2013: EU-Führerschein und Nachweis eines Wohnsitzverstoßes durch Heranziehung von Informationen des Ausstellermitgliedsstaats
Das OLG Jena (Beschluss vom 28.05.2013 - 1 Ss 18/13) hat entschieden:
- Bei der Beurteilung der Frage, ob die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen "unbestreitbar" i.S.d. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV sind und belegen, dass der Inhaber des Führerscheins, als dieser ihm in dem ausländischen Mitgliedstaat ausgestellt wurde, dort nicht seinen ordentlichen Wohnsitz hatte, können auch alle weiteren Umstände und Beweisergebnisse des inländischen Verfahrens herangezogen werden.
- Die Anwendung des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV setzt nicht voraus, dass bei Heranziehung allein der Informationen des Ausstellermitgliedstaates der Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip bzw. das Vorliegen eines Scheinwohnsitzes als bewiesen erachtet werden kann.
Siehe auch Das Wohnsitzprinzip bei der Erteilung eines EU-Führerscheins und Stichwörter zum Thema EU-Führerschein
Gründe:
Die zulässige Revision des Angeklagten war auf Antrag der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen, weil die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Insbesondere ist die Annahme des Landgerichts, dass die dem Angeklagten unter dem 30.12.2004 in D erteilte tschechische Fahrerlaubnis ihn gemäß § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 FeV wegen Verstoßes gegen das sog. Wohnsitzprinzip nicht berechtigte, in Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Nach der genannten Vorschrift gilt die Berechtigung nach § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV u. a. nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ausweislich vom Ausstellermitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 FeV rechtsfehlerfrei unter Heranziehung von Informationen des Ausstellerstaates bejaht. Soweit die Strafkammer bei der Einstufung der von dem Angeklagten angegebenen tschechischen Anschrift als Scheinwohnsitz neben den im Urteil näher dargestellten Informationen des Ausstellermitgliedsstaates ergänzend auf weitere, im hiesigen Strafverfahren gewonnene und nicht vom Ausstellerstaat herrührende Erkenntnisse zurückgegriffen hat, steht dies im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der im Urteil vom 01.03.2012, Az. C-467/10 (Urteil Akyüz), Rdnrn. 75 und 77 u. a. ausgeführt hat:
„75. Das vorlegende Gericht kann im Rahmen seiner Beurteilung der ihm vorliegenden, vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen alle Umstände des bei ihm anhängigen Verfahrens berücksichtigen. Es kann insbesondere den etwaigen Umstand berücksichtigen, dass die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen darauf hinweisen, dass sich der Inhaber des Führerscheins im Gebiet dieses Staates nur für ganz kurze Zeit aufgehalten und dort einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck errichtet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen. ...
77. Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es diesem erlaubt, die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn aufgrund unbestreitbarer, vom Ausstellermitgliedstaat herrührender Informationen feststeht, dass der Inhaber des Führerscheins zum Zeitpunkt seiner Ausstellung nicht die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439 und in Art. 7 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes erfüllte. Insoweit ist der Umstand, dass diese Informationen den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats vom Ausstellermitgliedstaat nicht direkt, sondern nur indirekt in Form einer Mitteilung Dritter übermittelt werden, als solcher nicht geeignet, die Einstufung dieser Informationen als vom Ausstellermitgliedstaat herrührend auszuschließen, sofern sie von einer Behörde dieses Mitgliedstaats stammen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Informationen, die unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens erlangt wurden, als vom Ausstellermitgliedstaat herrührende Informationen eingestuft werden können, und gegebenenfalls die genannten Informationen zu bewerten und unter Berücksichtigung aller Umstände des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen, ob es sich bei ihnen um unbestreitbare Informationen handelt, die belegen, dass der Inhaber des Führerscheins, als dieser ihm im letztgenannten Staat ausgestellt wurde, dort nicht seinen ordentlichen Wohnsitz hatte.“
Im Urteil des EuGH vom 26.04.2012 (Rechtssache Hofmann, Az. C 419/10) wurde dies wie folgt bestätigt:
„90. Das vorlegende Gericht hat allerdings auf der Grundlage der Angaben in Randnr. 48 des vorliegenden Urteils und unter Berücksichtigung aller Umstände des Rechtsstreits, mit dem es befasst ist, zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil Akyüz, Randnr. 75), ob Herr H zur Zeit des Erwerbs seines Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz in der Tschechischen Republik hatte. Wäre dies nicht der Fall, wären die deutschen Behörden befugt, die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins abzulehnen.“ (Hervorhebungen jeweils durch den Senat)
Im Anschluss hieran hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 03.05.2012, Az. 11 CS 11.2795 (bestätigt im Urteil vom 15.10.2012, Az. 11 B 12.1178) ausgeführt:
„29 Bei der Beurteilung, ob der Inhaber einer im EU-Ausland erworbenen Fahrerlaubnis im Zeitpunkt der Erteilung dieser Berechtigung seinen ordentlichen Wohnsitz im Ausstellermitgliedstaat hatte, sind die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaates allerdings nicht schlechthin auf die Informationen beschränkt, die sich dem verfahrensgegenständlichen Führerschein entnehmen lassen oder die sie - ggf. auf Nachfrage hin - sonst vom Ausstellermitgliedstaat erhalten. Vielmehr hat diese Prüfung "unter Berücksichtigung aller Umstände des Rechtsstreits, mit dem es [d.h. das vorlegende Gericht] befasst ist", zu erfolgen (EuGH vom 26.4.2012, a.a.O., RdNr. 90). Näheren Aufschluss über das Verhältnis zwischen den Informationen, die sich unmittelbar aus dem Führerschein ergeben oder sonst vom Ausstellermitgliedstaat stammen, und den Umständen, die dem nationalen Gericht in dem vor ihm anhängigen Verfahren zusätzlich bekannt geworden sind, erlaubt Satz 1 der Randnummer 75 des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 1. März 2012 (a.a.O.), auf die in der Randnummer 90 der Entscheidung vom 26. April 2012 (a.a.O.) ausdrücklich Bezug genommen wurde. Danach bilden die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen gleichsam den "Rahmen", innerhalb dessen die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaates alle Umstände eines vor ihnen anhängigen Verfahrens berücksichtigen dürfen.
30 In Wahrnehmung ihrer Befugnis und ihrer Verpflichtung, die vom Ausstellermitgliedstaat stammenden Informationen erforderlichenfalls daraufhin zu bewerten und zu beurteilen, ob sie "unbestreitbar" sind und ob sie belegen, dass der Inhaber des streitgegenständlichen Führerscheins im Zeitpunkt der Erteilung der diesem Dokument zugrunde liegenden Fahrerlaubnis seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedstaates hatte (vgl. zu dieser doppelten Prüfungspflicht der nationalen Gerichte EuGH vom 1.3.2012, a.a.O., RdNr. 74), kann insbesondere der etwaige Umstand berücksichtigt werden, dass die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen darauf "hinweisen", dass sich der Inhaber dieses Führerscheins im Gebiet des Ausstellermitgliedstaates nur für ganz kurze Zeit aufgehalten und dort einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck errichtet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen (EuGH vom 1.3.2012, a.a.O., RdNr. 75, Satz 2). Hervorzuheben ist an dieser Aussage namentlich, dass sich der Europäische Gerichtshofs hinsichtlich der Frage, welcher Beweiswert den vom Ausstellermitgliedstaat stammenden Informationen für das Nichtbestehen eines ordentlichen Wohnsitzes im Zeitpunkt der Fahrerlaubniserteilung zukommen muss, damit begnügt, dass sich aus ihnen die bloße Möglichkeit einer solchen Sachverhaltsgestaltung ergibt, ohne dass durch sie die Begründung eines reinen Scheinwohnsitzes bereits abschließend erwiesen worden sein muss. ...
Dem schließt sich der Senat mit der Maßgabe an, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die vom Ausstellerstaat herrührenden Informationen „unbestreitbar“ i. S. d. § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 FeV sind, auch alle weiteren Umstände und Beweisergebnisse des inländischen Verfahrens herangezogen werden können. Soweit der Senat (in anderer Besetzung) in der dem nunmehr erneut angefochtenen Berufungsurteil vorausgegangenen Entscheidung vom 12.03.2012, Az. 1 Ss 122/11, unter Bezugnahme auf Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Auflage, § 28 FeV Rdnrn. 21, 22, formuliert hat
„Entsprechende Informationen betreffend den Wohnsitz können nämlich nur verwertet werden, wenn sie sowohl unbestreitbar sind als auch vom Ausstellermitgliedstaat herrühren. Diese Aufzählung der Erkenntnisquellen ist nach der Rechtsprechung des EuGH abschließend. Zwar können Behörden und Gerichte des Aufnahmestaates selbst Informationen beim Ausstellermitgliedstaat einholen, wenn ernstliche Zweifel daran bestehen, dass der Erwerber der Fahrerlaubnis bei deren Erteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Ausstellermitgliedstaat hatte. So gewonnene Erkenntnisse können aber eben nur dann zur Verweigerung der Anerkennung der ausländischen Fahrerlaubnis führen, wenn es sich dabei um vom Ausstellermitgliedstaat herrührende unbestreitbare Informationen handelt, die beweisen, dass der Führerscheininhaber zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Gebiet des Ausstellermitgliedstaates hatte. Solche unbestreitbaren Informationen liegen nur dann vor, wenn bei Heranziehung allein der Informationen des Ausstellermitgliedstaates der Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip so sehr wahrscheinlich ist, dass kein vernünftiger Mensch noch daran zweifelt“
hält er mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH und nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen an dieser Auffassung ausdrücklich nicht weiter fest. Ein die Strafbarkeit des Angeklagten beeinflussender Vertrauensschutz ergibt sich aus dieser Rechtsprechungsänderung nicht, da er die tschechische Fahrerlaubnis nach den Feststellungen des Landgerichts unter Vortäuschung eines Scheinwohnsitzes erschlichen hat und schon deshalb nicht auf ihre Gültigkeit im Inland vertrauen durfte.
Soweit die Revision weiter beanstandet, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft das Schweigen des Angeklagten zu seinen Lasten verwertet, geht diese Rüge bereits deshalb ins Leere, weil der Angeklagte nach den insoweit maßgeblichen Urteilsfeststellungen (UA S. 7) nicht vollständig geschwiegen, sondern sich (hinsichtlich der Fahrten selbst) teilgeständig eingelassen hat (vgl. zur Würdigung des teilweisen Schweigens Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 261 Rdnr. 17).