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OLG Naumburg Beschluss vom 12.03.2012 - 2 Ss 157/11 - Überschreitung des angemessenen Strafrahmens durch eine Gesamtfreiheitsstrafe bei Bagatelldelikten
OLG Naumburg v. 12.03.2012: Zur Überschreitung des angemessenen Strafrahmens durch eine Gesamtfreiheitsstrafe bei Bagatelldelikten
Das OLG Naumburg (Beschluss vom 12.03.2012 - 2 Ss 157/11) hat entschieden:
- Der Wirksamkeit einer Berufungsbeschränkung steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht zu Unrecht Tatmehrheit statt Tateinheit angenommen hat.
- Maßgeblicher Gesichtspunkt für den Schuldumfang beim Erschleichen von Beförderungsleistungen ist der ersparte Fahrpreis und nicht der vom Beförderungsunternehmen errechnete "Realschaden".
- Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe setzt voraus, dass unter Beachtung des nach § 47 Abs. 1 StGB geltenden Regel-Ausnahmeverhältnisses die Unverzichtbarkeit einer freiheitsentziehenden Einwirkung mit einer umfassenden und erschöpfenden Begründung dargestellt wird. Verbüßt der Angeklagte nach den Taten erstmals Freiheitsstrafe, bedarf es der ausdrücklichen Erörterung der Frage, ob gleichwohl die Verhängung weiterer kurzer Freiheitsstrafen unerlässlich ist.
- Eine Gesamtfreiheitsstrafe, die die Einsatzstrafe um das Dreifache oder mehr erhöht, überschreitet bei Bagatelldelikten in der Regel den angemessenen Strafrahmen.
Siehe auch Strafzumessung - Strafmaß und Rechtsmittel im Strafverfahren
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Magdeburg hatte den Beschwerdeführer am 16. März 2011 des Erschleichens von Leistungen in 21 Fällen für schuldig befunden und ihn deswegen zur Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete Berufung hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Das Landgericht hat die Berufung verworfen. Dagegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt.
II.
Das Rechtsmittel dringt mit der Sachrüge durch.
1. Die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch war wirksam. Dies bedarf indessen der Erörterung, weil das Urteil des Amtsgerichts nicht frei von Rechtsfehlern ist, was sich bereits bei seiner Lektüre erschließt.
a.) Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer des Erschleichens von Leistungen in 21 Fällen für schuldig befunden, obwohl er „nur“ 20 derartige Straftaten begangen hat.
Unter Ziffer II. Nr. 7. und 8. hat das Amtsgericht festgestellt, dass der Angeklagten am 18. Juli 2010 um 12.37 Uhr einen Zug der Deutschen Bahn von W. nach M. ohne den erforderlichen Fahrschein benutzte und dass sich an diesem Zustand 3 Minuten später, am 18. Juli 2010 um 12.40 Uhr, nichts geändert hatte. Der Blick in die dem Senat aufgrund der Sachrüge zugängliche Anklageschrift erhellt, dass es sich bei diesen Feststellungen (gleicher Tag, fast dieselbe Uhrzeit) nicht um einen Schreibfehler handelt, sondern dass der Angeklagte sowohl um 12.37 Uhr als auch um 12.40 Uhr im selben Zug saß, nämlich der Regionalbahn mit der Nummer ... . Das Amtsgericht hat in diesem einheitlichen Vorgang (Schwarzfahrt von W. nach M.) zwei Straftaten erblickt, was indes offenbar nicht richtig ist, denn das Erschleichen von Leistungen beginnt nicht alle drei Minuten von Neuem.
Gleichwohl ist die Annahme des Landgerichts, die Berufungsbeschränkung sei auch insoweit wirksam, nicht zu beanstanden. Der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung steht nämlich nach überwiegender Ansicht nicht entgegen, dass das Amtsgericht zu Unrecht Tatmehrheit statt Tateinheit bzw. natürlicher Handlungseinheit angenommen hat (BGH NStZ-RR 1996, 267; BayObLG NStZ 1988, 570, 571; OLG Hamm VRS 114, 287, 289; NStZ-RR 2010, 345; OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 74, 75). Diese Auffassung überzeugt den Senat auch: Jedem Angeklagten (und auch der Staatsanwaltschaft) steht es frei, ein vollständig fehlerhaftes Urteil rechtskräftig werden zu lassen, indem es nicht angefochten wird. Dann ist es nur konsequent, dass der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit haben, Urteile teilweise, etwa im Schuldspruch, auch dann rechtskräftig werden zu lassen, wenn sie rechtsfehlerhaft sind.
b.) Infolge der Berufungsbeschränkung ist das Landgericht auch davon ausgegangen, an die Feststellungen des Amtsgerichts über die Schadenshöhe gebunden zu sein. Auch diese Annahme war zutreffend. Allerdings hat das Amtsgericht seinen Feststellungen einen unzutreffenden Schadensbegriff zugrunde gelegt. Maßgeblicher Gesichtspunkt für den Schuldumfang beim Erschleichen von Beförderungsleistungen „um das Entgelt nicht zu entrichten“ ist der ersparte Fahrpreis. Das Amtsgericht hat seinen Feststellungen indes nicht diesen ersparten Fahrpreis, sondern jeweils den „Realschaden“ zugrunde gelegt. Der von der Deutschen Bahn in Fällen des Erschleichens von Leistungen jeweils angegebene „Realschaden“ ist indes, wie dem Senat aus zahlreichen Verfahren bekannt ist, nicht der reale Schaden (ersparter Fahrpreis), sondern ein Konglomerat von vermeintlichen zivilrechtlichen Forderungen, unter anderem ein Teil des „erhöhten Beförderungsentgelts“, derer sich die Bahn gegenüber dem „Schwarzfahrer“ berühmt. Diese Ansprüche mögen der Deutschen Bahn AG zustehen, gehören indes zum strafrechtlich relevanten Schaden ebenso wenig wie die „Fangprämie“ beim Ladendiebstahl. Die Zugrundelegung der „Realschäden“ führte in den hier abgeurteilten Fällen teilweise, soweit „Realschäden“ von über 20 Euro festgestellt worden sind, zur Feststellung von Schäden, die den tatsächlichen Fahrpreis um das Mehrfache übersteigen. Die festgestellten Schadenshöhen sind auch in sich widersprüchlich: so soll der „Realschaden“ für die Fahrten von St. nach M. jeweils 3,10 Euro betragen, für die Gegenrichtung von M. nach St. jeweils mehr als das Achtfache davon, nämlich 27,20 Euro. Indes erwachsen bei einer Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch die den Schuldumfang bestimmenden Feststellungen stets in Rechtskraft, selbst wenn diese offenbar unrichtig sind (OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2000, 307; BayObLG StV 2001, 334 f., NStZ 2000, 275 f., OLG Frankfurt, NStZ-RR 1998, 341 f., Meyer-Goßner, StPO, 54. Auflage, Rdn. 31 zu § 318).
2. Der Ausspruch über die Einzelstrafen hat keinen Bestand. Das Landgericht hat – wie das Amtsgericht - für jede Tat eine Einzelfreiheitsstrafe von einem Monat verhängt. Dabei hat es die Voraussetzungen von § 47 Abs. 1 StGB für die Verhängung kurzer Freiheitsstrafe nicht ausreichend geprüft.
Nach dieser Vorschrift können kurze Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten nur verhängt werden, wenn dies aufgrund besonderer Umstände in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters zur Einwirkung auf den Angeklagten oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich ist. Die Unerlässlichkeit bedarf einer besonderen und eingehenden Begründung (§ 267 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 StPO; Francke in MüKoStGB § 47 Rdn. 9), sie bedeutet mehr als Gebotenheit (BGH 2 StR 407/10 vom 08. September 2010, zitiert nach JURIS; Senat, Beschluss vom 28. Juni 2011, 2 Ss 68/11). Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe setzt daher voraus, dass unter Beachtung des Regel-Ausnahmeverhältnisses die Unverzichtbarkeit einer freiheitsentziehenden Einwirkung mit einer umfassenden und erschöpfenden Begründung dargestellt wird. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang zwar zutreffend die Vielzahl der Vorverurteilungen, das Bewährungsversagen des Beschwerdeführers, seine wiederholte Straffälligkeit und die Tatsache berücksichtigt, dass er sich bislang durch die Verhängung von Geldstrafen nicht beeindrucken ließ. Indes hat es in diesem Zusammenhang einen maßgeblichen Gesichtspunkt nicht erörtert:
Der Angeklagte befindet sich nach Begehung der hier abgeurteilten Taten erstmals in Haft. Dies kann gegen die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen sprechen. Es ist allgemein bekannt, dass eine erstmalige Hafterfahrung viele Gefangene derartig beeindruckt, dass sie künftig ein Leben ohne Straftaten führen, sei es, weil das Vollzugsziel (§ 2 StVollzG) durch resozialisierungsfördernde Vollzugsgestaltung erreicht wird, sei es, weil der Gefangene aus sonstigen Gründen zu dem Entschluss gelangt, die für ihn negative Erfahrung der Strafverbüßung in Zukunft durch Straffreiheit zu vermeiden, und diesen Entschluss auch umsetzt. Im Falle erstmaliger Verbüßung von Freiheitsstrafe sind deren zu erwartenden Auswirkungen auf den Täter bei der Prüfung der Frage, ob die Verhängung (weiterer) kurzer Freiheitsstrafen unerlässlich ist, in der Regel zu erörtern (vgl. OLG Köln, NStZ-RR 2007, 266, Fischer, StGB, 59. Aufl., Rdn. 10 zu § 47). Das gilt auch, wenn der Angeklagte wegen einschlägiger Delikte vorbestraft ist und zur Tatzeit unter Bewährung stand (Fischer, a. a. O., Rdn. 10 a). Im Falle eines Erstverbüßers ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB daher nicht schon unerlässlich, wenn dieser überhaupt der Einwirkung des Strafvollzuges bedarf, sondern nur wenn festzustellen ist, dass die derzeitige Strafverbüßung zur Einwirkung auf den Angeklagten nicht ausreicht und es deswegen weiterer kurzer Freiheitsstrafen bedarf. Der Senat stellt klar, dass diese Grundsätze nur bei Erstverbüßern gelten, im Falle der wiederholten Verbüßung von Freiheitsstrafe gibt es demgegenüber keinen Erfahrungssatz, dass diese häufig geeignet ist, den Verurteilten zu zukünftiger Straffreiheit zu veranlassen.
3. Für das weitere Verfahren bemerkt der Senat:
Das Landgericht hat die Einsatzstrafe (einen Monat) bei der Gesamtstrafenbildung verneunfacht. Hierfür fehlt es an einer tragfähigen Begründung. Das Oberlandesgericht Düsseldorf vertritt (wistra 2007, 235 f.) die Auffassung, dass eine Gesamtstrafe, die die Einsatzstrafe dreifach oder mehr erhöht, in aller Regel den Strafrahmen überschreitet, den § 54 StGB dem Tatrichter zur Verfügung stellt. Der Senat folgt dieser Auffassung jedenfalls für Bagatelleigentums- und -vermögensdelikte, die sich – wie hier – gegen denselben Geschädigten richten. Bei der Bildung der Gesamtstrafe wird die neu entscheidende Kammer auch die Höhe des Gesamtschadens in den Blick zu nehmen haben, der hier auch bei Zugrundelegung der rechtskräftig überhöht festgestellten Schadenssummen im unteren dreistelligen Eurobereich liegt.