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OLG Saarbrücken Urteil vom 22.01.2015 - 4 U 69/14 - Haftungsverteilung beim Zusammenstoß eines rückwärts in eine Grundstückseinfahrt einbiegenden LKW mit einer Radfahrerin
OLG Saarbrücken v. 22.01.2015: Zur Haftungsverteilung beim Zusammenstoß eines rückwärts in eine Grundstückseinfahrt einbiegenden LKW mit einer Radfahrerin, die einen Radweg in der "falschen" Richtung befährt.
Das OLG Saarbrücken (Urteil vom 22.01.2015 - 4 U 69/14) hat entschieden:
- Die Regelung über die Benutzung linker Radwege bezweckt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat, nur den Schutz des Gegen- und Überholverkehrs auf dem Radweg, nicht des Einbiege- und Querverkehrs. Ein Verstoß gegen § 2 Abs. 4 Satz 4 StVO, der die Benutzung linker Radwege ohne die Zeichen 237, 240 oder 241 nur zulässt, wenn dies durch das Zusatzzeichen „Radverkehr frei“ allein angezeigt ist, ist im Verhältnis zu einem rückwärts nach links in eine Grundstück abbiegenden Kfz-Führer einem Radfahrer nicht entgegenzuhalten.
- Die Einfahrt in ein Grundstück gehört zum Abbiegen im Sinne von § 9 StVO, so dass dessen Vorschriften zum Schutze des Folge- und Gegenverkehrs unmittelbar anwendbar sind. Die Abbiegevorschriften gelten auch für das Rückwärtsabbiegen. Nach der Vorschrift des § 9 Abs. 3 StVO muss der Linksabbieger Gegenverkehr aller Art ohne wesentliche Behinderung vor dem Abbiegen durchfahren lassen. Den Vorrang haben auch entgegenkommende Radfahrer, die einen – hier: so genannten anderen – Radweg benützen. Wegen der vorrangigen Bedeutung der Durchfahrregel gilt diese auch bei pflichtwidrigem Verhalten des Entgegenkommenden, etwa des (problemlos sichtbaren) entgegen der Fahrtrichtung fahrenden Radfahrers.
Siehe auch Grundstückseinfahrt und Radfahrer-Unfälle
Gründe:
I.
Die Klägerin befuhr am 29.08.2011 um 15.30 Uhr mit ihrem Damenfahrrad S 200 Comfort den linken Seitenweg der Straße ... pp. in S. in Richtung E.. In Höhe des zur Firma B. gehörenden Parkplatzes wollte der Beklagte zu 1 mit dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten geschlossenen Kastenwagen VW Crafter mit dem amtlichen Kennzeichen ...X ... von der gegenüberliegenden rechten Fahrbahn unter Überquerung der linken Fahrbahn rückwärts in die dortige Grundstückseinfahrt abbiegen. Es kam zum Zusammenstoß mit der Klägerin, die einen Schädelbasisbruch erlitt, obgleich sie einen Fahrradhelm trug. Die Beklagte zu 2 erkannte außergerichtlich eine Haftung von 30 v. H. auf Grund der Betriebsgefahr an.
Die Klägerin hat behauptet, der von ihr befahrene Seitenweg sei auch als Radweg gewidmet gewesen. Der Beklagte zu 1 sei ohne Vorwarnung schnell rückwärts gefahren, weshalb es für die Klägerin keine Ausweichmöglichkeit gegeben habe.
Die Klägerin hat beantragt,
- festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die dieser auf Grund des Unfallereignisses vom 29.08.2011 entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit nicht ein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte stattgefunden hat und
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 603,93 € zu zahlen.
Die Beklagten haben im Schriftsatz vom 02.05.2012 den Feststellungsantrag unter Verwahrung gegen die Kosten insoweit anerkannt, als sie verpflichtet werden sollen, als Gesamtschuldner der Klägerin sämtliche auf Grund des Unfallereignisses vom 29.08.2011 entstandenen oder noch entstehenden materiellen Schäden zu 30 v. H. zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist oder übergeht und den künftigen immateriellen Schaden aus diesem Verkehrsunfall unter Berücksichtigung einer Mithaftungsquote von 70 v. H. zu ersetzen (Bd. I Bl. 24 f. d. A.).
Im Übrigen haben die Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie haben behauptet, der Beklagte zu 1 habe sich vor dem Rückwärtsfahren ordnungsgemäß vergewissert. Ein etwaiger Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1 wäre auch für die Klägerin erkennbar gewesen.
Das Landgericht hat die Klägerin (Bd. I Bl. 52 f. d. A.) und den Beklagten zu 1 (Bd. I Bl. 53 f. d. A.) als Partei angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen E. Sch. (Bd. I Bl. 54 f. d. A.) und D. Sch.-A. (Bd. I Bl. 55 f. d. A.) sowie gemäß dem Beschluss vom 20.03.2013 (Bd. I Bl. 60 f. d. A.) in Verbindung mit dem Beschluss vom 11.06.2013 (Bd. I Bl. 76 f. d. A. Mitte) und durch Einholung einer amtlichen Auskunft über die Widmung des Weges an der Unfallstelle (Bd. I Bl. 126, 129 ff. d. A.). Mit dem am 09.04.2014 verkündeten Urteil (Bd. I Bl. 140 ff. d. A.), berichtigt durch Beschluss vom 08.05.2014 (Bd. I Bl. 156 f. d. A.), hat das Landgericht unter Klageabweisung im Übrigen festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden in Höhe von 40 v. H. zu ersetzen, die dieser auf Grund des Unfallereignisses vom 29.08.2011 entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit nicht ein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte stattgefunden hat. Weiter hat das Landgericht die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 402,82 € zu zahlen. Der Senat nimmt gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem erstinstanzlichen Urteil Bezug.
Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung macht die Klägerin geltend, das Landgericht gehe von einer falschen Tatsachenwürdigung aus, wenn zunächst das angebliche Mitverschulden der Klägerin in den Vordergrund gerückt werde. Es habe sich um einen Verkehrsunfall mit einem großen, in der Sicht nach hinten nur über die Außenspiegel verfügenden Fahrzeug gehandelt, für das der Gesetzgeber mit § 7 StVG wegen der Gefährlichkeit einen gesonderten Haftungstatbestand normiert habe. Weiterhin habe das Landgericht verkannt, dass die Beklagtenseite den gemäß §§ 9 Abs. 5, 10 StVO gegen den Beklagten zu 1 eingreifenden Anscheinsbeweis erschüttern müsse, was mit dem Gutachten nicht gelungen sei. Für ein Mitverschulden der Klägerin sei nach den Feststellungen des Landgerichts nur wenig Raum. Die Klägerin habe an den Unfall bedingt durch die Kopfverletzungen keine Erinnerung und könne weder sagen, mit welcher Geschwindigkeit sie gefahren sei, noch ob sie überhaupt gefahren sei oder aber das Fahrrad geschoben habe. Mangels konkreter Anknüpfungstatsachen könne weder festgestellt werden, wo sich die Klägerin zu Beginn der zügigen und schnellen Rückwärtsfahrt des Beklagten zu 1 befunden habe, noch könne eine entsprechende Reaktionsaufforderung durch das riskante Fahrmanöver des Beklagten zu 1 nachgewiesen werden. Die Klägerin rechne sich in der Berufung wegen des erstinstanzlich festgestellten objektiven Verstoßes der Benutzung des anderen Radweges entgegen der freigegebenen Richtung einen Mitverschuldensanteil von 25 v. H. an.
Die Klägerin beantragt (Bd. II Bl. 184 f. d. A.),
das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 09.04.2014 (Aktenzeichen 4 O 134/12) abzuändern und
- festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden in Höhe von 75 v. H. zu ersetzen, die dieser auf Grund des Unfallereignisses vom 29.08.2011 entstanden sind oder noch entstehen werden, soweit nicht ein Übergang auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte stattgefunden hat und
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 603,93 € zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung. Der Weg zwischen den Bäumen und der Fahrbahn der Straße sei nicht als Radweg ausgeschildert. Vielmehr handele es sich um einen Gehweg, den die Klägerin überdies entgegen der Fahrtrichtung benutzt habe. Der Verkehrsverstoß sei für die Klägerin auch offensichtlich gewesen, da der gegenständliche Einfahrtbereich mit rot-weißen Begrenzungspfosten deutlich sichtbar markiert gewesen sei. Hierdurch werde nicht nur das Verbot des Radfahrens auf dem Gehweg verdeutlicht, sondern auch in besonderer Weise auf den Gefahrenbereich der Einfahrt hingewiesen. Ein schuldhafter unfallursächlicher Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 9 Abs. 5 StVO sei nicht bewiesen. Dem Beklagten zu 1 könne auch kein Verstoß gegen § 10 StVO vorgeworfen werden, weil diese Vorschrift lediglich das Einfahren von einem Grundstück in den fließenden Verkehr, nicht das Einbiegen in ein Grundstück betreffe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften des Landgerichts vom 01.03.2013 (Bd. I Bl. 51 ff. d. A.) und 11.02.2014 (Bd. I Bl. 125 f. d. A.) und des Senats vom 08.01.2015 (Bd. II Bl. 225 ff. d. A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist mithin zulässig. Das Rechtsmittel hat gemäß §§ 513, 529, 546 ZPO auch in der Sache Erfolg, so dass das erstinstanzliche Urteil abzuändern ist.
1. In Bezug auf den Klageantrag zu 1 hat das Landgericht inzident im Umfang des im schriftlichen Vorverfahren im Schriftsatz vom 02.05.2012 erklärten Teilanerkenntnisses (§ 307 Satz 1 ZPO) rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner insoweit zum Schadensersatz verpflichtet sind. Dieses Teilanerkenntnis umfasst sinngemäß alle entstandenen und entstehenden materiellen Schäden und alle zukünftig entstehenden immateriellen Schäden, und zwar jeweils in Höhe einer Haftungsquote der Beklagten von 30 v. H..
2. Im Übrigen steht die grundsätzliche Haftung des Beklagten zu 1 als Fahrer gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG und der Beklagten zu 2 als Haftpflichtversicherer eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs gemäß § 115 Abs. 1 VVG für die bei dem Verkehrsunfall vom 29.08.2011 verursachten Schäden außer Frage. Soweit in dem angefochtenen Urteil im Rahmen der gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB vorzunehmenden Haftungsabwägung eine Mithaftung der Klägerin von 60 v. H. angenommen worden ist, war die erstinstanzliche Entscheidung im Rahmen der Berufungsanträge (§ 528 ZPO), d. h. unter Berücksichtigung der Beschränkung des Feststellungsantrags auf eine Haftungsquote der Beklagten von 75 v. H., abzuändern, weil der Klägerin an dem Unfallereignis überhaupt kein Mitverschulden angelastet werden kann.
a) Die Berufung rügt mit Recht, dass das Landgericht davon ausgegangen ist, die Klägerin sei verbotswidrig auf einem Gehweg gefahren.
aa) Das Landgericht hat sich zur Begründung darauf bezogen, der Auskunft der Landeshauptstadt sei zu entnehmen, an der Unfallstelle habe kein getrennter und benutzungspflichtiger Geh- und Radweg, sondern ein fakultativ zu benutzender so genannter anderer Radweg bestanden, ohne dass dessen Benutzung durch besondere Zeichen in Gegenrichtung zugelassen gewesen sei (Bl. 143 d. A. Mitte). Von dieser Feststellung ist indes die Schlussfolgerung, die Klägerin sei als Erwachsene auf einem Gehweg innerorts in Gegenrichtung gefahren (aaO), in Bezug auf das Fahren auf dem Gehweg nicht gedeckt (nachfolgend unter bb)). Hinsichtlich des Fahrens in Gegenrichtung hat das Landgericht – wie auch die Berufung – außer Acht gelassen, dass die verletzte Norm nicht auf den Schutz des Beklagten zu 1 abzielt (cc)). Auch ein Verstoß gegen §§ 1 oder 3 StVO ist der Klägerin nicht anzulasten (dd)).
bb) Nach der vom erstinstanzlichen Gericht zu Grunde gelegten und nicht zu bezweifelnden Auskunft der Stadt S. ist die Fläche, auf der die Klägerin fuhr und mit dem Beklagten zu 1 kollidiert ist, als anderer Radweg – d. h. als nicht benutzungspflichtiger Radweg (vgl. § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO) – anzusehen. Zuvor war dort ein getrennter Geh- und Radweg vorhanden, doch musste der Radweg auf Grund der Querneigung, von Wurzelwerk und der Unterschreitung der Mindestbreite als anderer Radweg eingestuft werden (Bd. I Bl. 131 d. A.). Dieser Einstufung zufolge handelte es sich durchaus um einen Radweg im Sinne des § 2 Abs. 4 StVO in der bis zum 31.03.2013 gültigen Fassung (a. F.) und nicht etwa um einen Gehweg, dessen Befahren durch erwachsene Radfahrer verboten wäre. Die Zeugin E. Sch. hat zwar erstinstanzlich ausgesagt, der Unfall sei „auch ziemlich in der Mitte des Fußweges“ passiert (Bd. I Bl. 55 d. A. Mitte). Der Sachverständige hat aber die Anstoßsituation auf dem anderen Radweg im Gutachten rekonstruiert (Bd. I Bl. 101 d. A., dort ist allerdings der nach amtlicher Auskunft „andere Radweg“ fehlerhaft mit „Gehweg“ beschriftet). Weiter hat er erläutert, dass die Klägerin kollisionsbedingt in ihrer Fahrtrichtung nach links geschleudert wurde, wodurch sich die von der Zeugin E. Sch. angegebene Fahrlinie in der Mitte des Fußwegs erklären ließe (aaO). Bei dieser Sachlage liegt ein Verstoß gegen § 2 Abs. 5 StVO a. F. nicht vor. Das vom Landgericht angeführte Urteil des OLG Karlsruhe (NJW-RR 1991, 547) betraf einen innerorts verbotswidrig auf dem Gehweg fahrenden erwachsenen Radfahrer, der einem aus einer Grundstückseinfahrt herauskommenden Pkw in die Seite fuhr; die Entscheidung ist daher schon auf Grund der hier gegebenen Radwegeigenschaft nicht einschlägig. Entsprechendes gilt für das von der Berufungserwiderung eingehend (Bd. II Bl. 207 bis 209 d. A.) zitierte Senatsurteil vom 01.03.2011 (4 U 355/10 – 107 –, NJW-RR 2011, 754 ff.), das ebenfalls eine auf einem Gehweg fahrende erwachsene Radfahrerin betraf.
cc) Ein Verstoß gegen § 2 Abs. 4 Satz 4 StVO, der die Benutzung linker Radwege ohne die Zeichen 237, 240 oder 241 nur zulässt, wenn dies durch das Zusatzzeichen „Radverkehr frei“ allein angezeigt ist – was hier nicht der Fall war –, ist im Verhältnis zu dem abbiegenden Beklagten zu 1 der Klägerin nicht entgegenzuhalten. Die Regelung über die Benutzung linker Radwege bezweckt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat, nur den Schutz des Gegen- und Überholverkehrs auf dem Radweg, nicht des Einbiege- und Querverkehrs (BGH NJW 1986, 2651; KG DAR 1993, 257; Senat, Urt. v. 17.04.2014 – 4 U 406/12, Umdruck S. 10; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 42. Aufl. § 2 StVO Rn. 67b).
dd) Ein Mitverschulden des den Radweg in entgegengesetzter Richtung benutzenden Radfahrers kann aber darin liegen, dass er die Gefahrensituation voraussehen konnte und nicht reagiert hat (KG DAR 1993, 257; Senat, Urt. v. 17.04.2014 aaO). Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann der Klägerin vorliegend jedoch nicht angelastet werden, dass sie unfallvermeidend hätte reagieren können und müssen.
(1) Insoweit ist in dem angefochtenen Urteil im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin müsse entweder ihre Geschwindigkeit nicht den örtlichen Verhältnissen und Gegebenheiten angepasst haben (§ 3 Abs. 1 Satz 2 StVO), oder sie sei im Unfallzeitpunkt unaufmerksam gewesen. Gerade im Hinblick darauf, dass der Klägerin die freie Sicht auf das vor ihr rückwärts in die Einfahrt zurückstoßende Fahrzeug eröffnet gewesen sein müsse, sei es ansonsten nicht erklärbar, wie es zum Zusammenstoß gekommen sei. Der Sachverständige habe nachvollziehbar dargelegt, dass der Heckbereich und die Rückfahrleuchten des Beklagtenfahrzeugs bei entsprechender Blickrichtung der Klägerin erkennbar gewesen sein müssten, und zwar bei einer durchschnittlichen Rückfahrgeschwindigkeit von 10 bis 15 km/h und einer Annäherungsgeschwindigkeit der Klägerin von 5 bis 10 km/h. Dies entspreche einem Zeitraum von 3,2 bis 5,3 s und einer Fahrstrecke von circa 4,5 bis 15 m. Der Nachweis einer höheren Rückfahrgeschwindigkeit sei nicht erbracht (Bd. I Bl. 143 d. A.). Diesen Überlegungen vermag der Senat nicht zu folgen.
(2) Steht – wie hier – keine Übertretung einer Geschwindigkeitsbegrenzung in Rede, so muss ein Radfahrer seine Geschwindigkeit den Straßen- und Wetterverhältnissen anpassen und darf mit seinem Fahrrad nur so schnell fahren, dass er innerhalb übersehbarer Strecke anhalten kann (OLG Celle OLGR 2001, 249, 250). Da er optisch und akustisch schlechter wahrnehmbar ist als ein Kraftfahrer, hat er, soweit auf andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen ist, eine Geschwindigkeit einzuhalten, die diese von einem Radfahrer erwarten (OLG Karlsruhe NZV 1991, 25; König in Hentschel/König/Dauer, aaO § 3 StVO Rn. 12).
(3) Das Landgericht hat angenommen, für die Klägerin sei die Gefahrenlage leichter erkennbar und der Unfall leichter vermeidbar gewesen (als für den Beklagten zu 1). Die Klägerin müsse besonders unaufmerksam gewesen sein, da sie direkt auf das rückwärtsfahrende Fahrzeug zugefahren sei. Sie hätte die Rückfahrscheinwerfer sehen müssen. Für den Beklagten zu 1 sei demgegenüber zwar auch eine Erkennbarkeit gegeben, jedoch nur über den rechten Außenspiegel. Er habe sich nach mehreren Seiten hin vergewissern müssen, für ihn sei die Verkehrslage schwerer überschaubar gewesen (Bd. I Bl. 144 f. d. A.). Nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme ist jedoch bereits für den Ausgangspunkt dieser Erwägungen, die Klägerin müsse besonders unaufmerksam gewesen sein, kein Raum. Denn es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin die Rückwärtsfahrt des Beklagten zu 1 noch rechtzeitig hätte erkennen und eine Kollision vermeiden können. Laut dem vom Landgericht eingeholten verkehrstechnischen Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. S. vom 11.10.2013 lässt sich eine Vermeidbarkeit des Unfallgeschehens für die Klägerin gerade nicht nachweisen (Bl. 107 d. A.), was jedoch Voraussetzung für die wahlweise Annahme eines unfallursächlichen Verstoßes der Klägerin gegen § 1 StVO oder gegen § 3 StVO wäre. Laut Gutachten spricht das Schadensbild für eine eher geringe Kollisionsgeschwindigkeit der Klägerin (Bd. I Bl. 99 d. A.). Wie der Sachverständige im Gutachten weiter skizziert hat, ist es möglich und nicht auszuschließen, dass die Klägerin sich im Anfahrzeitpunkt des Beklagtenfahrzeugs bereits etwa in Höhe der Zufahrt zur Firma E.-S. befand. In diesem – nicht auszuschließenden – Fall war unter Berücksichtigung des Zeitpunkts der Reaktionsaufforderung und der der Klägerin zuzubilligenden Reaktionszeit von 0,8 s das Unfallgeschehen für sie nicht zu vermeiden (Bd. I Bl. 105 d. A.). Die vom Landgericht in Bezug genommenen Ausführungen des Sachverständigen auf Bl. 24 des Gutachtens (Bd. I Bl. 104 d. A.) besagen nichts Gegenteiliges. Vielmehr lässt sich diesen Ausführungen zufolge nicht feststellen, dass die Klägerin auch im Falle einer vom Sachverständigen für möglich gehaltenen Entfernung von nur noch 4,5 m im Anfahrzeitpunkt des Beklagten zu 1 unfallvermeidend hätte reagieren können.
b) Das Landgericht hat zu Recht einen unfallursächlichen Verstoß des Beklagten zu 1 gegen § 9 (Abs. 3 und 5) StVO bejaht.
aa) Die Einfahrt in ein Grundstück gehört zum Abbiegen im Sinne von § 9 StVO, so dass dessen Vorschriften zum Schutze des Folge- und Gegenverkehrs unmittelbar anwendbar sind (Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht 23. Aufl. § 9 StVO Rn. 52). Die Abbiegevorschriften gelten auch für das Rückwärtsabbiegen (König in Hentschel/König/Dauer, aaO § 9 Rn. 16). Nach der Vorschrift des § 9 Abs. 3 StVO muss der Linksabbieger Gegenverkehr aller Art ohne wesentliche Behinderung vor dem Abbiegen durchfahren lassen. Den Vorrang haben auch entgegenkommende Radfahrer, die einen – hier: so genannten anderen – Radweg benützen. Der Linksabbieger muss demnach darauf achten, ob er etwa einen Radweg kreuzt und einen Radfahrer am Durchfahren hindert. Wegen der vorrangigen Bedeutung der Durchfahrregel gilt diese auch bei pflichtwidrigem Verhalten des Entgegenkommenden, etwa des (problemlos sichtbaren) entgegen der Fahrtrichtung fahrenden Radfahrers (KG NZV 2010, 254, 255; König in Hentschel/König/Dauer, aaO § 9 StVO Rn. 39). Darüber hinaus hat sich gemäß § 9 Abs. 5 StVO ein Fahrzeugführer beim Abbiegen in ein Grundstück und beim Rückwärtsfahren so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss er sich einweisen lassen. Während des Zurückstoßens hat er sorgfältig darauf zu achten, dass kein anderer von der Seite oder von hinten in den Gefahrenraum gelangt; er muss bremsbereit und so langsam fahren, dass er erforderlichenfalls sofort anhalten kann (König in Hentschel/König/Dauer, aaO § 9 Rn. 51). Wegen der besonderen Sorgfaltspflicht spricht gegen den Rückwärtsfahrer der Beweis des ersten Anscheins für eine unfallursächliche Pflichtverletzung (KG NJW-RR 2010, 1116, 1117; Burmann in Burmann/Hess/Jahnke/Janker, aaO § 9 Rn. 69).
bb) Nach diesen Maßstäben hat sich der Beklagte zu 1 in mehrfacher Hinsicht pflichtwidrig verhalten und dadurch schuldhaft den Zusammenstoß mit der Klägerin verursacht. Wie sich aus der vom Sachverständigen übernommenen Verkehrsunfallskizze (Bd. I Bl. 92 d. A.) ergibt, hat der Beklagte zu 1 ein besonders gefährliches Fahrmanöver durchgeführt. Der von ihm geführte Lkw mit geschlossenem Kastenaufbau stand bereits auf der der Hofeinfahrt der Firma E.-S. gegenüberliegenden (in ursprünglicher Lkw-Fahrtrichtung rechten) Fahrbahn der Straße des ... pp.. Von diesem bereits jenseits der Hofeinfahrt liegenden Ausgangspunkt stieß der Beklagte zu 1 rückwärts unter Überquerung der linken Fahrbahn und des angrenzenden anderen Radwegs – an den sich noch Grünstreifen und Gehweg angeschlossen hätten – Richtung Hofeinfahrt. Zum Unfallhergang befragt, hat der Beklagte zu 1 erklärt, er sei rückwärts gefahren und müsse dabei die Klägerin übersehen haben. Beim Rückwärtsfahren habe er die Warnblinkanlage eingeschaltet gehabt (Bd. I Bl. 53 d. A. oben). Aus den weiteren Angaben des Beklagten zu 1 ergibt sich auch nicht, dass er so langsam gefahren wäre, dass er sofort hätte anhalten können. Im Gegenteil hat er seine Geschwindigkeit beim Rückwärtsfahren auf „höchstens 15 – 20 km/h“ und die Fahrstrecke bis zum Unfall auf nur 2 bis 3 m eingeschätzt (Bd. I Bl. 53 d. A. unten). In Ermangelung objektiver Anknüpfungstatsachen hat der Sachverständige die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit nicht ermitteln können. Auch die Aussagen der Zeuginnen E. Sch. und D. Sch.-A. (Bd. I Bl. 54 ff. d. A.) waren für genaue Berechnungen unergiebig. Im Übrigen sind subjektive Wahrnehmungen zu gefahrenen Geschwindigkeiten – hier geht es überdies um eine Rückwärtsfahrt – mit Zurückhaltung zu beurteilen, wenn es sich um ungeschulte Beobachter handelt (Zieres in Geigel, Der Haftpflichtprozess 26. Aufl. Kap. 27 Rn. 83). Dass der Beklagte zu 1 sich rückwärts vorsichtig in die Grundstückseinfahrt hineingetastet hätte, ist jedenfalls von keinem Beteiligten angegeben worden. Damit haben die Beklagten den Beweis des ersten Anscheins für eine unfallursächliche Pflichtverletzung des Beklagten zu 1 nicht widerlegt. Der Sachverständige hat hierzu überzeugend ausgeführt, dass die Klägerin in ihrer Annäherung an den Kollisionsbereich für den Beklagten zu 1 über den rechten Außenspiegel erkennbar und das Unfallgeschehen für den Beklagten zu 1 bei einer aufmerksamen und angepassten Fahrweise vermeidbar war (Bd. I Bl. 106/107 d. A.).
c) Hingegen ist der vom Landgericht ebenfalls bejahte Verstoß gegen § 10 StVO nicht gegeben. Die Vorschrift betrifft nach Satz 1 das Einfahren aus einem Grundstück, aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1 und 242.2), aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 und 325.2) auf die Straße oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn oder das Anfahren vom Fahrbahnrand. Keiner dieser Fälle ist hier in Bezug auf den Beklagten zu 1 gegeben.
d) Im Ergebnis haften die Beklagten als Gesamtschuldner in vollem Umfang für die bei dem Verkehrsunfall verursachten Schäden, weil ihnen nicht nur die Betriebsgefahr des Lkw, sondern auch das erhebliche pflichtwidrige unfallursächliche Verhalten des Beklagten zu 1 als Fahrzeugführer zur Last fällt und auf Seiten der Klägerin als Radfahrerin kein pflichtwidriges Verhalten nachgewiesen ist.
3. Darüber hinaus haben die Beklagten als Gesamtschuldner entgegen der Auffassung des Landgerichts auf der Grundlage einer Haftungsquote von 100 v. H. die in der Klageschrift (Bd. I Bl. 7 d. A.) aufgestellten und mit dem Berufungsantrag zu 2 in vollem Umfang weiterverfolgten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 603,93 € zu ersetzen. Zu den nach § 249 Abs. 1 BGB zu ersetzenden Kosten der Rechtsverfolgung gehören grundsätzlich auch die Kosten eines mit der Sache befassten Rechtsanwalts, soweit sie – wie hier – durch das Schadensereignis adäquat verursacht sind (BGH NJW-RR 2007, 713, 714 Rn. 10). Das außergerichtliche Anfallen der Gebühr im dargelegten Umfang (Bd. I Bl. 6 d. A.) haben die Beklagten nicht bestritten, weshalb die entsprechende Behauptung der Klägerin als zugestanden anzusehen ist (§ 138 Abs. 2 und 3 ZPO).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 Satz 1 Fall 2, 91 Abs. 1, 100 Abs. 4 Satz 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
5. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht zuzulassen; denn weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.