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OLG Koblenz Urteil vom 16.03.2015 - 12 U 892/13 - Beweislage und Gefährdungshaftung

OLG Koblenz v. 16.03.2015: Beweislage und Gefährdungshaftung bei Unfall zwischen Lkw und Motorroller


Das OLG Koblenz (Urteil vom 16.03.2015 - 12 U 892/13) hat entschieden:
Stürzt ein Rollerfahrer beim Überholtwerden durch einen Lkw, so ist für eine Haftung aus § 7 StVG erforderlich, dass die Fahrweise oder der Betrieb des Lkw zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen haben. Allein die Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Fahrzeugs an der Unfallstelle rechtfertigt noch nicht die Annahme, der Unfall sei bei dem Betrieb dieses Fahrzeugs entstanden. Vielmehr muss der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen ursächlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder bestimmten Betriebseinrichtungen des Lkw gestanden haben.


Siehe auch Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung und Sturz eines Zweiradfahrers ohne Kollisionsberührung


Gründe:

I.

Die Kläger sind die Rechtsnachfolger des am 22.03.2014 verstorbenen vormaligen Klägers ...[A] (im Folgenden Erblasser genannt). Gegenstand der Klage ist der Schmerzensgeldanspruch des Erblassers aus einem Verkehrsunfall vom 8.12.2011, bei dem er schwer verletzt worden ist.

Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird Bezug genommen.

Der Erblasser hat in erster Instanz beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe allerdings 150.000,00 € nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.08.2012 zu zahlen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialhilfeträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Landgericht hat dem Erblasser ein Schmerzensgeld von 100.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.08.2012 zuerkannt und im Übrigen die Klage abgewiesen. Das Landgericht geht von einer Haftung der Beklagten von 80 % aus.

Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung.

Sie beantragt,
das Urteil des Landgerichts Koblenz aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf deren Schriftsätze und die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Koblenz, Az. 2030 Js 14771/12, war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.


II.

Die zulässige Berufung hat Erfolg. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Schmerzensgeld aus §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2, 18 Abs. 1 StVG, 115 VVG i. V. mit §§ 1922, 2032 BGB. Anders als das Landgericht sieht der Senat es nicht als erwiesen an, dass sich der Sturz des Erblassers bei dem Betrieb des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Lkw ereignet hat.

Eine Berührung zwischen dem Lkw und dem von dem Erblasser geführten Roller ist nicht bewiesen. Der Sachverständige ...[B] hat dazu ausgeführt, dass es weder am Lkw noch am Roller Spuren gab, die Rückschlüsse auf eine Kollision oder eine gemeinsame Berührungssituation zuließen. Eine Berührung könne bei einem Zweiradfahrer zwar auch mit dem linken Ellenbogen erfolgen, ohne dass dabei Spuren entstehen. Dass es zu einer solchen Berührung gekommen wäre, hat keiner der vom Landgericht vernommenen Zeugen beobachtet. Der Zeuge ...[C] hat in seiner Aussage beim Landgericht zwar zunächst angegeben, der Roller des Erblassers sei vorne hochgegangen, und zwar wohl deshalb, weil er am Rad des Lkw hängengeblieben sei. Im weiteren Verlauf der Aussage hat der Zeuge allerdings erklärt, er könne nicht sagen, ob der Lkw mit dem Roller zusammengestoßen sei. Er habe nur die Bewegung des Lenkers dahin gedeutet, dass es eine Berührung gegeben haben müsse.

Außerdem ist nicht bewiesen, dass der Fahrer des Lkw, der Zeuge ...[D], bei dem Überholvorgang einen zu geringen Sicherheitsabstand zu dem Roller des Erblassers eingehalten hat. Nach den Berechnungen des Sachverständigen ...[B], der aufgrund der Aussagen der Zeugen ...[E] und ...[C] davon ausgegangen ist, dass der Zeuge ...[D] mit den beiden linken Zwillingsreifen über die Mittellinie gefahren ist, verblieb ein Abstand von knapp einem Meter zwischen dem Lkw und dem Roller. Diese Berechnung ist allerdings nicht gesichert, da nicht feststeht, wie weit der Zeuge ...[D] den Lkw über die Mittellinie gezogen hat. Der Abstand zu dem Roller des Erblassers kann daher ebenso gut größer oder auch kleiner gewesen sein. Gesicherte Spuren, wo der Lkw gefahren ist, gibt es nicht. Der Zeuge ...[E], der auf der Gegenfahrbahn aus der Gegenrichtung kam, hat den Überholvorgang als ordnungsgemäß eingeschätzt und eine Gefährdung durch das Überholmanöver nicht gesehen. Auch der Zeuge ...[C] hat den Abstand zwischen Lkw und Roller als ausreichend angesehen.

Nicht bewiesen ist auch, dass sich die vor dem Unfall gefahrene Geschwindigkeit des Lkw von 69 km/h statt der nach § 3 Abs. 3 Ziff. 2 b StVO erlaubten 60 km/h auf das Unfallgeschehen ausgewirkt hat.

Zwar hängt die Haftung der Beklagten aus § 7 StVG nicht davon ab, dass der Zeuge ...[D] sich verkehrswidrig verhalten hat oder es zu einer Berührung der Fahrzeuge gekommen ist, doch ist erforderlich, dass die Fahrweise oder der Betrieb des Lkw zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen haben. Allein die Anwesenheit eines im Betrieb befindlichen Fahrzeugs an der Unfallstelle rechtfertigt noch nicht die Annahme, der Unfall sei bei dem Betrieb dieses Fahrzeugs entstanden. Vielmehr muss der Unfall in einem nahen örtlichen und zeitlichen ursächlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder bestimmten Betriebseinrichtungen des Lkw gestanden haben. Die Fahrweise des Lkw muss zu dem Entstehen des Unfalls beigetragen haben (BGH NJW 1972, 1808). Davon ist der Senat nicht überzeugt. Der Erblasser ist zwar gestürzt, als er von dem Zeugen ...[D] mit dem Lkw überholt wurde. Doch ergibt sich allein daraus nicht, dass die Fahrweise des Lkw oder dessen Betrieb zu dem Unfall geführt haben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Erblasser aus einem anderen Grund den Roller nicht mehr sicher führen konnte und infolgedessen gestürzt ist. So ist auf den Lichtbildern in der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Koblenz (2030 Js 14771/12), Bl. 11, 15, zu sehen, dass sich an die befestigte Fahrbahn ein unbefestigter Randstreifen mit einer Böschung anschließt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Erblasser ohne Einwirkung des Lkw auf diesen Randstreifen geraten und gestürzt ist.

Anders als in dem vom BGH entschiedenen Fall (NJW 1972, 1808) steht im vorliegenden Fall nicht fest, dass der Erblasser durch die Fahrweise des Zeugen ...[D] unsicher geworden und deshalb gestürzt ist. Dazu konnte keiner der Zeugen etwas sagen. Der Erblasser selbst war infolge der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen nicht in der Lage, Angaben zum Unfallhergang zu machen. Auch wenn ein Zusammenhang mit dem Überholmanöver nicht ausgeschlossen werden kann, sieht der Senat einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Betrieb des Lkw nicht mit hinreichender Sicherheit als bewiesen an.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 100.000,00 €.