Das Verkehrslexikon
OLG Schleswig Urteil vom 23.05.1996 - 7 U 173/94 - Haftungsverteilung beim Passieren eines Hindernisses auf der Gegenfahrbahn
OLG Schleswig v. 23.05.1996: Haftungsverteilung beim Passieren eines Hindernisses auf der Gegenfahrbahn
Das OLG Schleswig (Urteil vom 23.05.1996 - 7 U 173/94) hat entschieden:
Die Vorschrift des StVO § 6 regelt nur das Fahrverhalten bei sichtbarem Gegenverkehr zu Beginn des Vorbeifahrens an einem in die Fahrbahn hineinragenden Hindernis. Wird beim Passieren an einer unübersichtlichen Stelle die Gegenfahrbahn in Anspruch genommen, gebietet StVO § 1 mit Licht- und Schallhupe Warnzeichen zu geben, wenn mit Gegenverkehr gerechnet werden muss. Hätte der Gegenverkehr bei rechtzeitiger Reaktion den Verkehrsunfall trotz fehlender Warnung des Vorbeifahrenden vermeiden können, ist sein Verursachungs- und Verschuldensanteil mit 25% anzusetzen.
Siehe auch Begegnungsunfall - Annäherung an Engstellen mit Gegenverkehr und Vorbeifahren (an haltenden Fahrzeugen)
Tatbestand:
(Übernommen aus OLGR Schleswig)
Die Beklagte zu 2) fährt frühmorgens bei Dunkelheit mit einem Wohnmobil nebst Imbissanhänger von einer nicht einsehbaren Kurve an einem in ihre Fahrbahn hineinragenden Pkw vorbei, ohne möglichen Gegenverkehr durch Licht- oder Schallhupe zu warnen. Als sie mit dem Wohnmobil in Höhe des Pkw ist, sieht sie den entgegenkommenden Kläger; sie versucht, Wohnmobil nebst Anhänger nach rechts am Pkw vorbeizuziehen. Der Kläger sieht sie im gleichen Moment, bremst etwas zu spät und prallt gegen den Imbissanhänger.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist begründet, auf die Beklagten entfällt ein Haftungsanteil von 75 %.
Die Beklagte zu 2) hätte, als sie mit dem Wohnmobil und dem Imbissanhänger an dem in ihre Fahrbahn hineinragenden Fahrzeug vorbeifahren wollte, möglichen Gegenverkehr warnen müssen. Ein Pkw-Fahrer, der an unübersichtlicher Stelle an einem Hindernis vorbeifährt und dafür den für Gegenverkehr vorgesehenen Straßenraum in Anspruch nimmt, muss Warnzeichen geben, wenn für die Dauer des Fahrmanövers mit Gegenverkehr zu rechnen ist (vgl. OLG Hamm DAR 1971, 111); als Warnzeichen kommen das Betätigen der Licht- und Schallhupe in Betracht. Auch wenn grundsätzlich Hupen in bewohnter Gegend nur in konkreten Gefahrsituationen zulässig ist (§ 16 I Nr. 2 StVO), ist es im Rahmen der Grundregel des § 1 StVO (sich so zu verhalten, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet wird) geboten, wenn mit entgegenkommenden Fahrzeugen, deren Fahrbahnhälfte man versperrt, gerechnet werden muss. ...
Den Kläger trifft an dem Verkehrsunfall ein Mitverschulden. Er hat nach den ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen im Senatstermin erheblich zu spät reagiert; gerade bei der von ihm angegebenen Geschwindigkeit von 30 - 35 km/h hätte er bei ordnungsgemäßer Reaktion sein Fahrzeug noch ein gutes Stück vor dem Imbissanhänger (das Wohnmobil war schon an dem in die Fahrbahn hineinragenden Pkw vorbeigefahren) zum Stehen bringen können.
Bei Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile ist das Vorbeifahren unter voller Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn ohne jegliche Warnung des Gegenverkehrs gegenüber der zu späten Reaktion des Klägers als gravierender zu werten, der Senat hält eine Haftungsquote von 75 % zu Lasten der Beklagten für gerechtfertigt; dabei ist ein Verstoß gegen § 6 StVO nicht zugrunde gelegt, weil die Vorschrift nur das Fahrverhalten bei Beginn des Vorbeifahrens bereits sichtbarem Gegenverkehr regelt (vgl. BayObLG VRS 45, 63); ein Verschulden der Beklagten zu 2) liegt auch nicht darin, dass sie beim Auftauchen des klägerischen Fahrzeuges nicht sofort gebremst und ihren Zug zum Halten gebracht, sondern vielmehr versucht hat, nach rechts wieder herüberzuziehen, weil sie ansonsten mit einer Frontalkollision hätte rechnen müssen und ein "Fluchtverhalten" nach rechts naheliegend war, zumal sie die Engstelle mit dem Zugfahrzeug schon fast passiert hatte. ...