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Verwaltungsgericht Neustadt Beschluss vom 29.06.2015 - 1 L 437/15.NW - Zeitablauf nach behauptetem Abstinenzbeginn
VG Neustadt v. 29.06.2015: Zeitablauf nach behauptetem Abstinenzbeginn nach früherem Drogenkonsum
Das Verwaltungsgericht Neustadt (Beschluss vom 29.06.2015 - 1 L 437/15.NW) hat entschieden:
- Die Rechtsordnung steht einem zeitlich unbeschränkten Rückgriff auf früheren Drogenkonsum im Zusammenhang mit fahrerlaubnisrelevanten Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde entgegen. Es kann offen bleiben, ob ein Zeitraum von 2 Jahren und 5 Monaten zwischen der behaupteten Drogenabstinenz des Antragstellers nach behauptetem einmaligem Drogenkonsum und der Anordnung zur MPU bereits für sich genommen einer Maßnahme der Antragsgegnerin gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV entgegensteht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass weder hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis noch bei vorgeschalteter Anordnung einer MPU ein Automatismus dergestalt greift, dass mit Ablauf eines Jahres seit der behaupteten Abstinenz (wieder) von der Fahreignung auszugehen ist. Vielmehr ist zu prüfen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Betroffene noch Drogen einnimmt oder jedenfalls rückfallgefährdet ist und sich dies auf sein Verhalten im Straßenverkehr auswirken kann. Dabei kommt eine generalisierende Betrachtung nicht in Frage; insbesondere besteht auch keine Verwertungsgrenze, wenn seit der behaupteten Drogenabstinenz 15 Monate vor Anordnung einer MPU verstrichen sind.
- Zur Fortführung eines Fahrerlaubnisentziehungsverfahrens, nach dem Umzug des Betroffenen in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Fahrerlaubnisbehörde, durch die vor dem Umzug zuständige Fahrerlaubnisbehörde.
Siehe auch Drogenabstinenz und Wiedererlangung der Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema Drogen
Gründe:
Der vorliegende Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und begründet.
Zwar hat die Antragsgegnerin bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Rede stehenden Verfügung dem Begründungserfordernis des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügt. Dieses Erfordernis zielt zum einen darauf ab, der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen zu führen und sie zu veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollziehungsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert; es verfolgt zum anderen den Zweck, den Betroffenen in die Lage zu versetzen, durch Kenntnis dieser behördlichen Erwägungen seine Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs abschätzen zu können. Hiernach begegnet die Begründung für den Sofortvollzug der Verfügung vom 29.4.2015 keinen Bedenken. Dabei ist zu sehen, dass sich bei einem Vorgehen gegen einen Fahrerlaubnisinhaber wegen mangelnder Eignung, die Gründe für einen Erlass der in diesen Fällen vorgeschriebenen Entziehungsverfügung mit den Gründen für deren sofortige Durchsetzung weitestgehend decken, geht es doch regelmäßig darum, den von einem solchen zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeigneten Fahrerlaubnisinhaber ausgehenden ständigen erheblichen Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer möglichst umgehend und nicht erst nach dem Abschluss eines gegebenenfalls mehrere Jahre dauernden gerichtlichen Verfahrens zu begegnen (OVG RP, Beschluss vom 13.2.2007 – 10 B 10063/07). Gehen in Fällen dieser Art aus der Begründung der Verfügung bereits die besondere Dringlichkeit der Vollziehungsanordnung sowie die von der Behörde getroffene Interessenabwägung klar hervor, kann sich dementsprechend zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen die Sofortvollzugsbegründung sogar in einer Bezugnahme auf die Begründung für den Verwaltungsakt erschöpfen (vgl. OVG RP, Beschluss vom 24.3.2006 – 10 B 10184/06).
Die Entziehungsverfügung erging auch in formell rechtmäßiger Weise, insbesondere erfolgte vor deren Erlass die erforderliche Anhörung des Antragstellers (§§ 28 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG –, 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz – LVwVfG –), wobei die Antragsgegnerin auch auf einen Fristverlängerungsantrag des Antragstellers eingegangen war. Zudem ist die Antragsgegnerin unter Abweichung von § 73 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gemäß § 1 LVwVfG i.V.m. § 3 Abs. 3 VwVfG örtlich zuständig für den Erlass der Fahrerlaubnisentziehung. Hierzu hat die Antragsgegnerin zutreffend auf die Entscheidung des VGH Bayern (Beschluss vom 20.2.2007 - 11 CS 06.2029) verwiesen, wonach die Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze insoweit neben § 73 FeV anwendbar sind. Insbesondere erscheint es zweckmäßig, dass die Antragsgegnerin, mit Blick auf ihre Aktenkenntnis, auch nach dem Umzug des Antragstellers in das Stadtgebiet K., das von ihr durch die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) und die Einleitung eines Anhörungsverfahrens durch Schreiben vom 19.3.2015 begonnene Entziehungsverfahren fortführt. Dies gilt umso mehr, als zwischen dem Umzug des Antragstellers nach K. (24.3.2015) und dem Erlass der Entziehungsverfügung nur etwas mehr als ein Monat verstrichen ist. Hinzukommt, dass die Wahrnehmung der individuellen Rechte des Antragstellers durch die Fortführung des Entziehungsverfahrens durch die Antragsgegnerin nicht unzumutbar erschwert wird und die Stadtverwaltung K. der Fortführung des Verfahrens durch die Fahrerlaubnisbehörde der Antragsgegnerin ausdrücklich zugestimmt hat.
Die Antragsgegnerin ist allerdings zu Unrecht gemäß §§ 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG); 46, 14 Abs. 2 Nr. 2, 11 FeV von der Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum ausgegangen. Insbesondere durfte sie von der Verweigerung des Antragstellers, sich einer MPU zu unterziehen, nicht auf dessen Ungeeignetheit schließen.
Zwar begegnet die Anordnung zur MPU keinen formalen Bedenken. Denn die Fragestellung gemäß § 11 Abs. 6 FeV ist nicht zu beanstanden. Auch der Hinweis gemäß § 11 Abs. 8 FeV ist erfolgt.
Allerdings bestehen materielle Bedenken an der Rechtmäßigkeit, die auf folgenden Erwägungen beruhen:
Grundsätzlich berechtigt selbst der einmalige Konsum einer harten Droge - wie im vorliegenden Fall - gemäß Nr. 9.1 Anlage 4 FeV zur Annahme der Ungeeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers (OVG RP, Beschluss vom 13.1.2010 - 10 B 11328/09 und Beschluss vom 25.78.2008 - 10 B 10646/08).
Die Rechtsordnung steht aber einem zeitlich unbeschränkten Rückgriff auf früheren Drogenkonsum im Zusammenhang mit fahrerlaubnisrelevanten Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde entgegen.
Es kann hier offen bleiben, ob ein Zeitraum von 2 Jahren und 5 Monaten zwischen der behaupteten Drogenabstinenz des Antragstellers nach behauptetem einmaligem Drogenkonsum und der Anordnung zur MPU bereits für sich genommen einer Maßnahme der Antragsgegnerin gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV entgegensteht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass weder hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis - ohne vorherige medizinisch-psychologische Begutachtung - (VGH BW, Beschluss vom 7.4.2014 - 10 S 404/14), noch bei vorgeschalteter Anordnung einer MPU ein Automatismus dergestalt greift, dass mit Ablauf eines Jahres seit der behaupteten Abstinenz (wieder) von der Fahreignung auszugehen ist (BVerwG, Urteile vom 9.6.2005 - 3 C 25.04 und 3 C 21.04). Vielmehr ist zu prüfen, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Betroffene noch Drogen einnimmt oder jedenfalls rückfallgefährdet ist und sich dies auf sein Verhalten im Straßenverkehr auswirken kann. Dabei kommt eine generalisierende Betrachtung nicht in Frage; insbesondere besteht entgegen der Darstellung des Antragstellers auch keine Verwertungsgrenze, wenn seit der behaupteten Drogenabstinenz 15 Monate vor Anordnung einer MPU verstrichen sind (BVerwG, 3 C 25.04).
Dahinstehen kann weiter, ob im vorliegenden Fall der behauptete einmalige Konsum durch den Antragsteller, die Behauptung der Drogenabstinenz seit über zwei Jahren, die nach Aktenlage seitdem unauffällige Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Fahrzeugverkehr sowie die Vorlage eines Drogenscreenings für sich genommen genügen, um im Rahmen der gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung (BVerwG, 3 C 25.04) einer Anordnung der medizinisch-psychologischen Untersuchung entgegenzustehen.
Eine solche Einzelfallbewertung durch die Fahrerlaubnisbehörde muss hier nämlich unterbleiben, weil die Tat, auf die allein die Anordnung der MPU durch die Antragsgegnerin gestützt wurde, im Verkehrszentralregister, nunmehr Fahreignungsregister, gemäß § 29 StVG am 1.11.2014 zu löschen war. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 StVG a.F. beträgt die Tilgungsfrist für Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit zwei Jahre. Nach Aktenlage wurde gegen den Antragsteller wegen des Vorfalls vom 3.7.2012 lediglich eine Geldbuße von 500 € sowie ein Fahrverbot von einem Monat (rechtskräftig seit 1.11.2012) verhängt. Eine Fristhemmung ist nach Aktenlage nicht erfolgt. Auch die Übergangsbestimmungen (hier § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG) ändern nichts an der Tilgungsreife der einschlägigen Eintragung. War damit aber die Eintragung am 1.11.2014 zu löschen, durfte die Antragsgegnerin ihre Anordnung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht mehr auf den Vorfall vom 3.7.2012 stützen. Denn die damit vom Gesetzgeber festgelegte Frist, nach deren Ablauf frühere Eintragungen der hier in Rede stehenden Art einem Verwertungsverbot unterliegen, bindet auch die Fahrerlaubnisbehörde (BVerwG, 3 C 21.04). Mit der Tilgung der Eintragung gilt, dass sich der Betroffene im Rechtssinne bewährt hat (OVG RP, Beschluss vom 23.6.2010 - 10 B 11226/09).
Offen bleiben kann, ob das Ergebnis des aktuell vom Antragsteller vorgelegten Drogenscreenings weitere Ermittlungen der Fahrerlaubnisbehörde auslöst. Der dort ausgewiesene Wert für Cocain liegt jedenfalls deutlich über dem anlässlich der Kontrolle vom 3.7.2012 durch die Uniklinik Göttingen bestimmten Wert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über den Wert des Verfahrensgegenstandes folgt den §§ 52, 63 Abs. 2 Gerichtskostengesetz i.V.m. den Ziffern 46.1, 46.4 und 46.7 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, LKRZ 2014, 169.