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VGH München Beschluss vom 19.09.2013 - 11 ZB 13.1396 - Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B ohne vorherige Ablegung einer Fahrprüfung
VGH München v. 19.09.2013: Zur Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B ohne vorherige Ablegung einer Fahrprüfung
Der VGH München (Beschluss vom 19.09.2013 - 11 ZB 13.1396) hat entschieden:
Bereits ein Zeitraum von rund zehn Jahren fehlender Fahrerlaubnisinhaberschaft und/oder nur stark eingeschränkter Fahrpraxis für die Klassen D, D1, DE und D1E ist auch dann für das Bestehen von Befähigungszweifeln ausreichend, wenn der Betroffene über eine Fahrerlaubnis der Klasse B verfügt. Bei einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren ohne Fahrpraxis mit einem Kraftfahrzeug - mit Ausnahme eines Mofas - ist es ebenfalls gerechtfertigt, Zweifel an der Befähigung des Klägers anzunehmen. Dies gilt umso mehr, als die Verkehrsdichte in den letzten 15 Jahren erheblich zugenommen hat.
Siehe auch Wiedererteilung der Fahrerlaubnis - Wiedererlangung der Fahreignung und Die prüfungsfreie Neuerteilung einer Fahrerlaubnis
Gründe:
Der Kläger begehrt nach vorangegangener Entziehung die erneute Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B ohne (erneute) Ablegung einer Fahrerlaubnisprüfung. Seine hierauf gerichtete Verpflichtungsklage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 27. Mai 2013 ab. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Kläger hat nur unter den Voraussetzungen des § 20 FeV einen Anspruch auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B. Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 FeV gelten für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften für die Ersterteilung. § 15 Abs. 1 FeV (Nachweis einer theoretischen und einer praktischen Prüfung) findet vorbehaltlich des § 20 Abs. 2 FeV keine Anwendung (§ 20 Abs. 1 Satz 2 FeV).
Nach § 20 Abs. 2 FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde eine Fahrerlaubnisprüfung an, wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Bewerber die nach § 16 Abs. 1 FeV (theoretische Prüfung) und § 17 Abs. 1 FeV (praktische Prüfung) erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitzt.
Nach der Rechtsprechung des Senats (BayVGH, U.v. 19.07.2010 - 11 BV 10.712 - DAR 2010, 716) und des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 27.10.2011 - 3 C 31/10 - DAR 2012, 346) kommt bei der Prüfung der Frage, ob im Sinne von § 20 Abs. 2 FeV Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Bewerber die erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitzt, auch nach der Änderung von § 20 Abs. 2 FeV durch die 4. Verordnung zur Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 18. Juli 2008 (BGBl I, S. 1338) dem Zeitfaktor (Zeiten vorhandener oder fehlender Fahrpraxis) eine wesentliche Bedeutung zu.
Ob Tatsachen im Sinne des § 20 Abs. 2 FeV vorliegen, die den Schluss erlauben ("rechtfertigen"), dass die nach §§ 16 und 17 FeV erforderlichen Kenntnisse und praktischen Fertigkeiten nicht (mehr) vorhanden sind, ist im Wege einer Gesamtschau zu beurteilen. Wenn § 20 Abs. 2 FeV auf Tatsachen abstellt, ist damit das Gesamtbild der relevanten Tatsachen gemeint. Vorzunehmen ist danach eine umfassende Würdigung des jeweiligen Einzelfalls, bei der sowohl die für als auch die gegen die Erfüllung der betreffenden Erteilungsvoraussetzungen sprechenden tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen und abzuwägen sind. Dazu gehört auch und in erster Linie die Zeitdauer einer fehlenden Fahrpraxis (BVerwG a.a.O.).
Hier hat das Erstgericht in der fehlenden Fahrpraxis des Klägers während einer sehr langen Zeitspanne von mehr als 15 Jahren eine relevante Tatsache im Sinne des § 20 Abs. 2 FeV gesehen. Hiergegen ist aus berufungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Nach der Rechtsprechung des Senats (a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O.) ist bereits ein Zeitraum von rund zehn Jahren fehlender Fahrerlaubnisinhaberschaft und/oder nur stark eingeschränkter Fahrpraxis für die Klassen D, D1, DE und D1E auch dann für das Bestehen von Befähigungszweifeln ausreichend, wenn der Betroffene über eine Fahrerlaubnis der Klasse B verfügt(e). In seinem Urteil vom 17. April 2012 (11 B 11.1873) hat der Senat einen Zeitraum von 17 Jahren fehlender Fahrerlaubnisinhaberschaft bzw. Fahrpraxis für eine prüfungsfreie Neuerteilung der Fahrerlaubnisklassen A, BE, C1 und C1E als deutlich zu lang angesehen, obwohl der Betroffene seit vier Jahren vor Beantragung dieser Fahrerlaubnisklassen im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klasse B war. Bei einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren ohne Fahrpraxis mit einem Kraftfahrzeug - mit Ausnahme eines Mofas - ist es nach Ansicht des Senats ebenfalls gerechtfertigt, Zweifel an der Befähigung des Klägers anzunehmen. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass der 1947 geborene Kläger vor dem Entzug seiner Fahrerlaubnis der Klassen 1 und 2 (jeweils alt) im Jahr 1997 über eine sehr lange Fahrpraxis verfügte. Bei einer Zeitspanne von mehr als 15 Jahren ist es zweifelhaft, ob auch sehr stark verinnerlichte Fähigkeiten und Kenntnisse sowie routinemäßige Abläufe noch in einer Weise vorhanden sind, um das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs zu gewährleisten. Dies gilt umso mehr, als die Verkehrsdichte in den letzten 15 Jahren erheblich zugenommen hat.
An dieser Einschätzung ändert entgegen der Zulassungsbegründung auch die Tatsache nichts, dass eine Fahrerlaubnis der Klasse B grundsätzlich unbefristet erteilt wird (§ 23 Abs. 1 Satz 1 FeV). Zwar mag es vereinzelt Fälle geben, in denen ein Fahrerlaubnisinhaber einer solchen Klasse trotz Inhaberschaft einer Fahrerlaubnis über einen vergleichbaren Zeitraum wie im Fall des Klägers nicht am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt, um anschließend doch wieder ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr zu führen, ohne dass seine Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen erneut geprüft werden würde. Dies ist jedoch dem Umstand geschuldet, dass das deutsche Fahrerlaubnisrecht - jedenfalls in Bezug auf die Fahrerlaubnis der Klasse B - während der Inhaberschaft einer Fahrerlaubnis die Eignung und die Befähigung des Inhabers grundsätzlich vermutet und nur bei auftauchenden Eignungs- bzw. Befähigungszweifeln eine Überprüfung vorsieht. Anders verhält es sich jedoch im Fall der erstmaligen bzw. erneuten Erteilung einer Fahrerlaubnis. Bestehen in diesem Zeitpunkt Zweifel an der Fahreignung und/oder –befähigung, hat die Fahrerlaubnisbehörde bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass von der Teilnahme des Betroffenen am Straßenverkehr keine Gefahr für die Allgemeinheit oder andere Verkehrsteilnehmer ausgeht. Im hier zu entscheidenden Fall bestehen diese Maßnahmen in der Verpflichtung zur Ablegung einer erneuten Prüfung. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung ist hierin nicht zu sehen, da der Fall des Klägers nur mit solchen Fällen vergleichbar ist, in denen der Betroffene ebenfalls über keine Fahrerlaubnis verfügt.
Darüber hinaus liegt es entgegen der gegenteiligen Behauptung in der Zulassungsbegründung auf der Hand, dass die Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Mofa, das ein nur zweirädriges Fahrzeug darstellt und dessen Höchstgeschwindigkeit auf 25 km/h beschränkt ist, die an das Führen von Kraftfahrzeugen, die mit der Fahrerlaubnis der Klasse B geführt werden dürfen, zu stellenden erhöhten Anforderungen keineswegs zu gewährleisten vermag. Soweit weiter ausgeführt wird, es sei zu beachten, dass der Kläger Anfang des Jahres 2013 eine theoretische Prüfung abgelegt und hierüber eine Bestätigung vorgelegt habe, ist dem entgegenzuhalten, dass der Kläger diese Prüfung nicht bestanden hat und aus diesem Grund hieraus nichts für sich herleiten kann. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger wiederholt - zuletzt im Schriftsatz vom 23. September 2013 - vorträgt, er habe die theoretische Prüfung deshalb nicht bestanden, weil sie am Computer durchgeführt worden sei und er „sich mit Computern nicht auskenne“. Die Durchführung der theoretischen Fahrerlaubnisprüfung am Computer steht nicht in Widerspruch zu Nr. 1.3 der Anlage 7 zur Fahrerlaubnis-Verordnung. Bundesweit wird die theoretische Fahrerlaubnisprüfung seit dem Jahr 2008 ausschließlich am Computer durchgeführt (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage 2013, § 16 FeV, Rn. 6a m.w.N.). Besondere Computerkenntnisse sind hierfür nicht erforderlich. Der Kläger macht auch nicht geltend, dass ihm Unterstützung oder ggfs. ein ausgedruckter Papierfragebogen verwehrt worden wäre. Er trägt ferner nicht vor, um Unterstützung gebeten zu haben. Das hätte ihm aber oblegen, falls er tatsächlich nicht einmal über Grundkenntnisse im Umgang mit Computern verfügen sollte.
Soweit die Zulassungsbegründung schließlich ausführt, ein Mitarbeiter der Fahrerlaubnisbehörde habe dem Kläger versprochen, dieser werde, sobald er ein ihm günstiges Fahreignungsgutachten vorlege, anschließend die Fahrerlaubnis neu (gemeint ist offenbar ohne weiteres) erteilt bekommen, ist - soweit ein solches Versprechen überhaupt vorliegen sollte - die für eine verbindliche Zusicherung notwendige Schriftform noch nicht einmal behauptet (vgl. Art. 38 Abs. 1 BayVwVfG).
2. Die Rechtssache hat auch nicht die von der Zulassungsbegründung behauptete grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Als klärungsbedürftig wird die Frage bezeichnet, "ob und in wieweit bei der Neuerteilung der Fahrerlaubnis der Klasse B der Zeitablauf, seitdem dem Bewerber die Fahrerlaubnis entzogen worden ist, eine Tatsache darstellt, die die Annahme rechtfertigt, dass der Bewerber die nach § 16 Abs. 1 und § 17 Abs. 1 FeV erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitzt". Gemeint ist damit, ob – ebenso wie im Fall der Verlängerung oder Neuerteilung einer grundsätzlich befristet erteilten Fahrerlaubnis – auch bei der Neuerteilung einer grundsätzlich unbefristet erteilten Fahrerlaubnis einem längeren Zeitraum ohne Fahrpraxis in der entsprechenden Fahrerlaubnisklasse oder fehlender Inhaberschaft der Fahrerlaubnis eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war und auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich wäre (Happ in Eyermann, VwGO, 13. Auflage 2010, § 124, Rn. 36 m.w.N.). Weder hat jedoch das Erstgericht auf diese Frage abgestellt, noch würde sie sich in einem Berufungsverfahren in dieser Form stellen. Denn für die Anwendung des hier entscheidungserheblichen § 20 Abs. 2 FeV kommt es ausweislich des Abs. 1 dieser Vorschrift nicht darauf an, ob die neu zu erteilende Fahrerlaubnis grundsätzlich befristet oder aber unbefristet erteilt wird. Vielmehr beansprucht die Vorschrift für alle Fahrerlaubnisse Geltung. So hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 27. Oktober 2011 (3 C 31/10 – DAR 2012, 346), in dem es zu § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 24 Abs. 2 FeV ausgesprochen hat, dass bei der Beantwortung der Frage, ob die (erneute) Ablegung einer Fahrprüfung angeordnet wird oder nicht, dem Zeitfaktor (Zeiten vorhandener oder fehlender Fahrpraxis) eine wesentliche Bedeutung zukomme, nicht entscheidend darauf abgestellt, dass es sich im dort in mitten stehenden Fall um die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis handelte, die grundsätzlich nur befristet erteilt wird, sondern diesen Grundsatz unabhängig von der Frage der Befristung aufgestellt. Ausweislich der Begründung zur ÄndVO v. 18. Juli 2008 (VkBl 2008, 568) zur Streichung des bisherigen § 20 Abs. 2 Satz 2 FeV und zur Neufassung des § 24 Abs. 1 und 2 FeV ergibt sich, dass auch der Gesetzgeber sowohl im Fall der Neuerteilung einer (befristeten oder unbefristeten) Fahrerlaubnis als auch im Fall der Verlängerung einer (befristeten) Fahrerlaubnis unterschiedslos davon ausgeht, dass die Fahrerlaubnisbehörde die erneute Ablegung einer Fahrprüfung anordnen kann, wenn Zweifel an der Befähigung des Betroffenen gerechtfertigt sind.
Im Schriftsatz vom 23. September 2013 wird schließlich ausgeführt, insbesondere sei noch die Rechtsfrage offen, ob von der Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug einer niedrigeren Fahrerlaubnisklasse oder einem Kraftfahrzeug, für welches keine Fahrerlaubnis benötigt werde (hier Mofa), auf den Erhalt der theoretischen Kenntnisse gemäß § 16 FeV geschlossen werden könne. Dieses Vorbringen ist verspätet, denn es ist nach Verstreichen der zweimonatigen Begründungsfrist des § 124 a Abs. 3 Satz 1 VwGO erfolgt. Zudem hätte die Grundsatzrüge auch insoweit keinen Erfolg. Die Frage ist nicht von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung. Der Kläger zeigt auch nicht auf, dass die Frage sich in einer Vielzahl von Fällen stellen würde, so dass Klärungsbedarf bestünde. Es kommt insoweit vielmehr auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an. Nachdem der Kläger Anfang des Jahres 2013 die theoretische Fahrerlaubnisprüfung für die Fahrerlaubnis der Klasse B abgelegt und nicht bestanden hat, liegt es auf der Hand, dass jedenfalls in seinem Fall die Teilnahme mit einem Mofa am Straßenverkehr nicht dafür ausreichend war, die früher für die Befähigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs der Klasse B vorhandenen theoretischen Kenntnisse im notwendigen Maß aufrecht zu erhalten.
3. Der Antrag auf Zulassung der Berufung war somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. der Empfehlung in Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327).
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).