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OLG Celle Urteil vom 19.03.2015 - 5 U 185/11 - Betriebsgefahr bei Kollision mit alkoholisierter Fußgängerin

OLG Celle v. 19.03.2015: Berücksichtigung der Betriebsgefahr bei Unfall mit alkoholisierter Fußgängerin


Das OLG Celle (Urteil vom 19.03.2015 - 5 U 185/11) hat entschieden:
Überquert eine Fußgängerin in deutlich alkoholisiertem Zustand (hier: 1,75 Promille Blutalkoholgehalt) bei Dunkelheit und schlechter Beleuchtung eine Straße, ohne dabei die Verkehrsverhältnisse zu beachten, entfällt hierbei die Betriebsgefahr seitens eines mit ihr deshalb kollidierenden Kraftfahrzeugs, weil dieser Unfall durch das grob verkehrswidrige Verhalten der Fußgängerin verursacht worden ist.


Siehe auch Unfälle mit alkoholisierten Fußgängern und Stichwörter zum Thema Fußgänger und Fußgängerunfälle


Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld und Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung zukünftiger Schäden aufgrund eines Unfalls, der sich am 26. Februar 2009 in B. ereignet hat.

Die Klägerin hat an diesem Tage mit einem BAK-​Wert von 1,75 %o die Straße vor dem Haus K. Damm gegen 20:11 Uhr bei Dunkelheit und Regen überquert und ist vom Fahrzeug der Beklagten zu 1, das bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert ist, erfasst und schwer verletzt worden. Sie macht unter Berücksichtigung eines eigenen Verschuldensanteils von 75 % ein Schmerzensgeld von 20.000 € gegen die Beklagten geltend und begehrt die Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner der Klägerin 25 % der zukünftigen Schäden zu ersetzen haben.

Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands wird auf die Feststellungen des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Hinsichtlich der Begründung des Ausspruches wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen

Gegen das Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie rügt, dass der Zeuge M. nicht vernommen worden sei. Die Klägerin vertritt zudem die Ansicht, dass genügend Anknüpfungstatsachen vorhanden seien, um ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten einzuholen.

Die Klägerin beantragt,
abändernd die Beklagten zu 1 und 2 als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld nicht unter 20.000,00 € für den Zeitraum vom 26. Februar 2009 bis zum 18. November 2010 nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 20. Oktober 2009 und 1.023,16 € außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren zu zahlen

sowie

festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden - letztere, soweit sie nach dem 18. November 2010 entstehen - aus dem Unfall vom 26. Februar 2009 auf dem K. Damm in B., zu 25 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen bis zur mündlichen Verhandlung am 25. Februar 2015 gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat zum Hergang des Verkehrsunfalles die Klägerin und die Beklagte zu 1 befragt und den Zeugen M. vernommen. Wegen des Ergebnisses wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 1. Februar 2012 (Bl. 182 f. d. A.), 18. April 2012 (Bl. 193 d. A.) und 12. Februar 2014 (Bl. 221 d. A.) verwiesen.

Mit Urteil vom 3. Mai 2012 hat der Senat die Berufung zurückgewiesen (Bl. 196 d. A.). Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 24. September 2013 (VI ZR 255/12) das Urteil des Senats aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen.

Der Senat hat ergänzend Beweis durch Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens erhoben. Wegen des Ergebnisses wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl.-​Ing. K.-​H. M. vom 3. November 2014 sowie seine Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2015 (Bl. 281 d. A.) Bezug genommen.

Die Akten 35 Js 9635/09 StA Hildesheim lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.


II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner weder einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 20.000,00 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG, 115 Abs. 1 VVG, 421 ff BGB, noch einen Anspruch auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung von nach dem 18. November 2010 entstandener materieller und immaterieller Schäden aufgrund des Verkehrsunfalls vom 26. Februar 2009.

Die Beklagten zu 1 und 2 haften der Klägerin grundsätzlich als Gesamtschuldner aus Gefährdungshaftung, denn der Unfall hat sich beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 1 ereignet.

Ein die Betriebsgefahr erhöhendes Verschulden der Beklagten zu 1 am Zustandekommen des Unfalls hat die Klägerin nicht bewiesen. Die Klägerin selbst hat keine Erinnerung an den Unfall. Die Beklagte zu 1 hat angegeben, dass ihr die Klägerin ins Auto gelaufen sei. Sie habe sofort gebremst, habe aber einen Zusammenstoß nicht verhindern können.

Der Zeuge F. M. hat bekundet, er sei am besagten Tag vom Badmintontraining gekommen. Es sei dunkel gewesen und es habe geregnet. Er habe den Fahrradweg auf der linken Seite nach B. rein befahren. Ihm sei ein Auto entgegengekommen. Als er das Auto passiert gehabt habe, habe es laut geknallt. Er habe zunächst gedacht, es wäre etwas vom Fahrzeug abgefallen. Dann habe er Hilferufe gehört; er habe gedreht und sei zurückgefahren. Eine Frau habe auf der Straße in etwa der Straßenmitte gelegen.

Auf Vorhalt seiner Aussage im Ermittlungsverfahren (Bl. 25 der Beiakten) hat der Zeuge angegeben, dass er heute keine Erinnerung mehr daran habe, dass er von rechts kommend eine Fußgängerin gesehen habe. Wenn er das seinerzeit bei der Polizei geäußert habe, sei das so richtig gewesen. Es könne nach seiner heutigen Erinnerung so sein, dass die Fußgängerin die Straße überquert habe, aber genaueres könne er hierzu nicht sagen.

Auf der Grundlage der Angaben der Parteien und der Aussage des Zeugen M. hat der Sachverständige Dipl.-​Ing. K.-​H. M. sein unfallanalytisches Gutachten vom 3. November 2014 erstattet, wobei er bei nahezu gleichen Witterungsbedingungen und Sichtverhältnissen wie zum Unfallzeitpunkt den Unfall am Unfallort nachgestellt hat.

Nach den überzeugenden und gut nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass der Pkw Opel im Zeitpunkt der Kollision, wie von der Beklagten zu 1 angegeben, etwa 40 - 50 km/h schnell gefahren ist. Die Geschwindigkeit korrespondiere aufgrund der Größe der Klägerin mit den festgestellten Unfallspuren am Fahrzeug der Beklagten zu 1. Bei einer geringeren Geschwindigkeit wäre der Kopf eher im Bereich der hinteren Motorhaube auf das Fahrzeug geschlagen.

Bei Zugrundelegung einer zulässig gefahrenen Geschwindigkeit von 40 km/h bis 50 km/h sei für den Autofahrer bis ca. 2 Sekunden vor der Kollision der Fußgänger nicht erkennbar gewesen. Allenfalls 2 Sekunden vorher habe der Fahrer seine Kontur schemenhaft vor der hellen Hauswand auf der linken Seite erkennen können, wenn man sehr genau darauf geachtet hätte. Dabei spiele es keine Rolle, ob der Fußgänger dem Fahrzeug das Gesicht zugewandt habe oder nicht. Das Gesicht des Fußgängers werde nicht vom Fahrzeuglicht angestrahlt, daher werde seine Erkennbarkeit maßgeblich durch das Umgebungslicht bestimmt.

Eine sichere Erkennbarkeit sei erst 1,5 bis 1 Sekunde vor Kollision unter den aktuellen Beleuchtungsbedingungen im Umfeld der Örtlichkeit gegeben. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Fußgänger bei Annahme einer Gehgeschwindigkeit von 6 km/h bereits ca. 3 m weit auf der Fahrbahn befunden. Da für den Autofahrer die Aufmerksamkeit zunächst auf seinen Fahrstreifen gerichtet sei, bedeute dies, dass er eine erhöhte Reaktionszeit habe, wenn er den Fußgänger auf der Fahrbahn wahrnehme. Er müsse nach der Wahrnehmung das Gesehene bewerten. Der Fahrer müsse erst realisieren, dass sich ein Fußgänger in Richtung seines Fahrstreifens bewege und es zu einer Kollision kommen könne. Die Reaktionszeit sei deshalb realistisch mit 1,5 Sekunden anzusetzen.

Allein das Zuwenden des Gesichts würde nicht zu einer höheren Erkennbarkeit führen; vielmehr werde die Erkennbarkeit allein dadurch gewährleistet, dass sich vorliegend die Person als dunkler Umriss vor dem hellen Hintergrund darstelle. Gleiches gelte auch für glänzende Schuhe. Ähnliches gelte ebenso für eine - unterstellt getragene - helle Einkaufstüte. Diese stellten sich allenfalls als Glanzstreifen, wie auch die Feuchtigkeit auf der Fahrbahn, dar.

Etwa 1 Sekunde vor der Kollision sei der Fußgänger für den Fahrer wahrnehmbar. Die Silhouette hebe sich nun vor dem Hintergrund deutlich ab. Es mache jetzt keinen Unterschied, ob das Fahrzeug 40 oder 50 km/h gefahren sei. Bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h müsse das Fahrzeug näher am Kollisionsort gewesen sein, aber die Reaktionszeit bis zur Kollision sei ebenfalls ca. 1,5 Sekunden, so dass Kollision und Reaktion auf das Wahrgenommene in etwa zeitgleich seien.

Da davon auszugehen sei, dass Kollision und Wirksamkeit der Reaktion nahezu zeitgleich seien, hätte auch ein Ausweichen nicht zu einer Vermeidung der Kollision geführt. Dies hätte erfordert, dass deutlich vor der Kollision hätte agiert werden können.

Nach den in sich schlüssigen Feststellungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass der Unfall für die Beklagte zu 1 trotz einer Vollbremsung nicht vermeidbar war und ihr ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls nicht vorzuwerfen ist.

Die verbleibende Gefährdungshaftung (Betriebsgefahr) auf Seiten der Beklagten entfällt vorliegend aber im Rahmen der Abwägung nach § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB, weil der Unfall durch ein grob verkehrswidriges Verhalten der Klägerin verursacht worden ist. Die Klägerin hat unter Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO in erheblich alkoholisierten Zustand die Straße überquert, ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten. Gegenüber der nicht ausgeräumten Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten überwiegt das Verschulden der Klägerin mithin dermaßen, dass die Betriebsgefahr hinter dem Verschulden der Klägerin vollständig zurücktritt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § § 708 Nr. 10, 709, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 543 ZPO liegen nicht vor.