Das Verkehrslexikon

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OLG Celle Urteil vom 27.02.2008 - 14 U 211/06 - Juristische Person als Geschädigte bei Klagen in Deutschland

OLG Celle v. 27.02.2008: Juristische Person als Geschädigte bei Verkehrsunfallklagen in Deutschland


Das OLG Celle (Urteil vom 27.02.2008 - 14 U 211/06) hat entschieden:
Macht eine GmbH, die ihren satzungsmäßigen Sitz und somit auch ihren Wohnsitz gem. Art. 11 Abs. 2, 9 Abs. 1 Buchst. b EUGVVO in Deutschland hat, als Klägerin gegen die Beklagte, einen in Polen ansässigen Kfz-Haftpflichtversicherer, Schadensersatzansprüche aus einem von einem polnischen Versicherungsnehmer der Beklagten in Polen verursachten Verkehrsunfall geltend, dann ist auch die juristische Person einer GmbH als schwächerer Partei im Verhältnis zu einem Versicherungsunternehmen als "Geschädigte" i.S.d. Art. 11 Abs. 2 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EUGVVO anzusehen. Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 72/166/EWG definiert als Geschädigter allgemein "jede Person, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schaden hat". Damit sind deutsche Gerichte für eine Klage aufgrund eines Direktanspruchs international zuständig.


Siehe auch Nationaler und internationaler Gerichtsstand für Kfz-Haftpflichtklagen - Unfall im Ausland - Unfall mit ausländischem Fahrzeug und Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Gründe:

A.

Die Klägerin macht gegen die Beklagte, ein in Polen ansässiges Versicherungsunternehmen, Schadensersatzansprüche aus einem von einem polnischen Versicherungsnehmer der Beklagten in Polen am 7. November 2002 verursachten Verkehrsunfall geltend, für dessen Folgen die Beklagte unstreitig zu 100 % einzustehen hat. Bei dem Unfall wurde das vom Geschäftsführer der Klägerin geführte Fahrzeug Audi A 6 Quattro der Klägerin beschädigt. Hierfür verlangt die Klägerin über von der Beklagten vorgerichtlich bereits gezahlte 20.965,52 Euro hinaus weitere 8.620,68 Euro als offenen Differenzbetrag zu dem von ihr auf der Basis eines von ihr eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-​Ing. K.-​U. R. vom 18. November 2002 ermittelten Wiederbeschaffungsaufwands von 29.586,20 Euro netto.

Ferner begehrt sie - vorrangig aus eigenem, hilfsweise aus abgetretenem Recht ihres Geschäftsführers - Erstattung des an ihren bei dem Unfall verletzten Geschäftsführer in der Zeit von dessen Krankschreibung zwischen dem 7. November 2002 bis 28. Februar 2003 fortgezahlten Geschäftsführergehalts von 49.287,07 Euro (einschließlich 2.968,14 Euro Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit der deutschen Gerichte als unzulässig abgewiesen. Es hat gemeint, die Klägerin sei nicht als Begünstigte im Sinne des Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO anzusehen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die die Rechtsauffassung des Landgerichts zur Frage der internationalen Zuständigkeit als fehlerhaft angreift und im Übrigen zur sachlichen Begründung ihrer Ansprüche ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft.

Die Klägerin beantragt,
  1. die Beklagte zu verurteilen, an sie - die Klägerin - 57.907,75 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

  2. das Verfahren gemäß § 538 ZPO an das Landgericht Verden zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und verweist ergänzend darauf, auch nach der Entscheidung des EuGH vom 13. Dezember 2007 fehle es im vorliegenden Fall weiterhin an einer Zuständigkeit des Landgerichts Verden, da die Klägerin nicht als Unfallopfer im Sinne des Art. 11 Abs. 2, 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO angesehen werden könne, weil sie nicht in besonderem Maße schutzbedürftig sei, wie die genannten Bestimmungen voraussetzten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


B.

I.

Die zulässige Berufung der Klägerin führt auf deren Antrag zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht.

1. Die Auffassung des Landgerichts, die deutschen Gerichte seien zur Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits international nicht zuständig, weshalb die Klage unzulässig sei, ist rechtsfehlerhaft. Sie beruht auf einer unzutreffenden Auslegung von Art. 11 Abs. 2, 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO.

Wie der EuGH aufgrund des Vorabentscheidungsersuchens des Bundesgerichtshofs vom 26. September 2006 (NJW 2007, 71) in seinem Urteil vom 13. Dezember 2007 (C-​463/06), dem sich der Senat anschließt, entschieden hat, ist die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO auf Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO dahin auszulegen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedsstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist.

Die beiden letztgenannten Voraussetzungen sind hier unstreitig erfüllt. Entgegen der im Schriftsatz vom 8. Februar 2008 geäußerten Auffassung der Beklagten ist die Klägerin auch als "Geschädigte" im Sinne des Art. 11 Abs. 2 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO anzusehen. Wie der EuGH in der eingangs zitierten Entscheidung (dort Rdnr. 26) ausgeführt hat, besteht die Funktion der Verweisung in Art. 11 Abs. 2 EuGVVO darin, der in Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO enthaltenen Liste von Klägern die Personen hinzuzufügen, "die einen Schaden erlitten haben". Darunter fällt auch die Klägerin, denn sie macht geltend, durch den streitgegenständlichen Unfall einen Schaden an dem ihr gehörenden Kfz sowie einen eigenen Vermögensschaden durch die Lohnfortzahlung an ihren Geschäftsführer erlitten zu haben; auf abgetretene Verdienstausfallansprüche ihres Geschäftsführers ist die Klage hingegen, wie die Klägerin im Schriftsatz vom 20. April 2007 (Bl. 188 d. A.) klargestellt hat, nur hilfsweise gestützt.

Zu den Geschädigten zählen dabei auch nicht etwa nur natürliche Personen, denn hierfür gibt der Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 EuGVVO keinerlei Anhaltspunkt. Zwar verweist der 13. Erwägungsgrund der VO Nr. 44/2001 (= EuGVVO) darauf, die Verordnung solle einen günstigeren Schutz der schwächeren Partei gewährleisten, als ihn die allgemeinen Zuständigkeitsregeln vorsähen (vgl. EuGH, a. a. O., Rdnr. 28). Als schwächere Partei im Verhältnis zu einem Versicherungsunternehmen ist aber auch eine geschädigte juristische Person anzusehen. Dies wird durch die vom EuGH in dem Urteil vom 13. Dezember 2007 zur Auslegung des Art. 11 Abs. 2 EuGVVO herangezogene Richtlinie 2000/26 EG bestätigt. Diese Richtlinie, die in Erwägungsgrund 16 a ausdrücklich auf Art. 11 Abs. 2 EuGVVO Bezug nimmt, verweist zur Bestimmung des Begriffs "Geschädigter" auf Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 72/166/EWG. Dort ist als Geschädigter allgemein "jede Person" definiert, "die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat". Nachdem die letztgenannte Richtlinie sodann an anderer Stelle (Art. 4) ausdrücklich sowohl natürliche als auch juristische Personen aufführt, folgt daraus, dass von dem allgemeinen Oberbegriff "Person" beide Rechtssubjekte erfasst sind. Eine Begrenzung des Schutzzwecks von Art. 11 Abs. 2 EuGVVO auf Verbraucher lässt sich deshalb nicht begründen. Damit sind die deutschen Gerichte für die Entscheidung über die streitgegenständliche Klage zuständig, denn die Klägerin hat ihren Wohnsitz im Sinne des Art. 11 Abs. 2, 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO in Deutschland, weil sich hier ihr satzungsmäßiger Sitz befindet (vgl. Art. 60 EuGVVO).

Daraus ergibt sich zugleich auch die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts. Ob diese auch den hilfsweise geltend gemachten Klaggrund des abgetretenen Verdienstausfallanspruchs des Geschäftsführers der Klägerin umfasst, da das zulässigerweise in einem besonderen Gerichtsstand angerufene Gericht eine umfassende Entscheidungszuständigkeit besitzt (vgl. Zöller-​Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 12 Rdnr. 21), oder ob es insoweit an einem dafür erforderlichen einheitlichen Streitgegenstand fehlt (vgl. Zöller-​Vollkommer, a. a. O., § 12 Rdnr. 21 i. V. m. § 260 Rdnr. 5 und BGH, NJW-​RR 2006, 275 - juris Rdnr. 15 - sowie BGH, NJW 1991, 1683 - juris Rdnr. 14), bedarf keiner Entscheidung des Senats. Denn die Klägerin hat im Schriftsatz vom 20. April 2007 klargestellt, dass sie ihren Anspruch primär aus eigenem Recht geltend macht. Das Hilfsbegehren, für das allerdings ebenfalls die deutsche internationale Zuständigkeit nach Art. 11 Abs. 2, 9 Abs. 1 Buchstabe b EuGVVO begründet wäre, selbst wenn man hierbei auf den Zedenten abstellen wollte, steht erst zur Entscheidung, falls sich der Hauptantrag als unbegründet erweisen sollte (vgl. BGH, NJW-​RR 2005, 216 - juris Rdnr. 9 a. E.).

2. Da durch das angefochtene Urteil bisher nur über die Zulässigkeit der Klage entschieden ist, die geltend gemachten Ansprüche aber auch in der Sache streitig sind und der Rechtsstreit daher noch nicht entscheidungsreif ist, war gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO die von der Klägerin beantragte Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht auszusprechen.

Das Landgericht wird zunächst zu klären haben, ob die Beklagte nunmehr im Hinblick auf ihre Ausführungen im Schriftsatz vom 4. Juni 2007 (Bl. 210 d. A.) und ungeachtet der Einwendungen der Klägerin im Schriftsatz vom 6. Juni 2007 (Bl. 212 d. A.) - zu denen sich die Beklagte bislang nicht geäußert hat - die Verjährung der eingeklagten Ansprüche im vorliegenden Rechtsstreit geltend machen will; bejahendenfalls wäre insoweit Beweis durch Einholung eines entsprechenden Rechtsgutachtens zum dafür maßgeblichen polnischen Recht einzuholen.

Anderenfalls müsste durch Beweisaufnahme die sachliche Berechtigung der eingeklagten Ansprüche geklärt werden. Zum Pkw-​Schaden dürfte insoweit zunächst der von der Klägerin benannte Zeuge R. als sachverständiger Zeuge zur streitigen Ausstattung des streitgegenständlichen Audi-​Quattro und zur Höhe des Wiederbeschaffungswertes anzuhören sein; von dessen Befragung wird abhängen, ob gegebenenfalls noch ergänzend ein Gutachten eines gerichtlich bestellten neuen Sachverständigen zum Wiederbeschaffungswert einzuholen ist.

Hinsichtlich des in erster Linie (unter Berufung auf die vorgelegte Entscheidung des höchsten polnischen Gerichts vom 19. September 1997) auf eigenes Recht gestützten Lohnfortzahlungsschadens müsste wohl ebenfalls im Hinblick auf die Einwendungen der Beklagten im Schriftsatz vom 24. Oktober 2006 (Bl. 132/133 f. d. A.) ein Rechtsgutachten zum polnischen Recht eingeholt werden, sofern die Beklagte an ihren Einwendungen weiter festhalten und auch nicht etwa - zur Vermeidung der mit der Beweisaufnahme verbundenen erheblichen Kosten - den auf den Hilfsklaggrund der Abtretung gestützten Anspruch anerkennen will, nachdem die Höhe des fortgezahlten Gehalts unstreitig ist und nunmehr auch die Wirksamkeit der Abtretung wegen der Befreiung des Geschäftsführers der Klägerin von den Beschränkungen des § 181 BGB (wie sie sich aus dem vorgelegten Handelsregisterauszug ergibt) nicht mehr in Streit stehen dürfte. Dies sollte die Beklagte jedenfalls dann erwägen, wenn auch nach dem hier maßgeblichen polnischen Recht freigiebige Leistungen Dritter an den Geschädigten den Schädiger nicht von seiner Ersatzpflicht entlasten (vgl. insoweit zum deutschen Recht Palandt-​Heinrichs, BGB, 67. Aufl., vor § 249 Rdnr. 136 m. w. N.).

II.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO und erfolgt im Hinblick darauf, dass die Kostenentscheidung des Landgerichts durch die Aufhebung des angefochtenen Urteils gegenstandslos geworden ist (§ 775 Nr. 1 ZPO). Die Anordnung einer Sicherheitsleistung ist entbehrlich (vgl. Thomas-​Putzo, ZPO, 27. Aufl., § 775 Rdnr. 5 i. V. m. § 717 Abs. 1 ZPO).

Über die Kosten des Berufungsverfahrens wird das Landgericht im Rahmen seiner abschließenden Entscheidung zu befinden haben; deren Verteilung ist vom endgültigen Ausgang des Rechtsstreits abhängig.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen dafür (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) nicht vorliegen.