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BGH Beschluss vom 18.08.2015 - X ZR 2/15 - Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Brüssel-I-Verordnung

BGH v. 18.08.2015: Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Brüssel-I-Verordnung


Der BGH (Beschluss vom 18.08.2015 - X ZR 2/15) hat entschieden:
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:

  1. Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen dahin auszulegen, dass der Begriff "Ansprüche aus einem Vertrag" auch einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 296/91 erfasst, der gegenüber einem ausführenden Luftfahrtunternehmen verfolgt wird, welches nicht Vertragspartner des betroffenen Fluggasts ist?

  2. Soweit Art. 5 Nr. 1 VO (EG) Nr. 44/2001 Anwendung findet:

    Ist bei einer Personenbeförderung auf einer aus mehreren Flügen bestehenden Flugverbindung ohne nennenswerten Aufenthalt auf den Umsteigeflughäfen der Abflugort der ersten Teilstrecke als Erfüllungsort gemäß Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Spiegelstrich VO (EG) Nr. 44/2001 anzusehen, auch wenn die Flugverbindung von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt worden ist und sich die Klage gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einer anderen Teilstrecke richtet, auf der es zu einer großen Verspätung gekommen ist?


Siehe auch Unfälle mit Auslandsberührung und Nationaler und internationaler Gerichtsstand für Kfz-Haftpflichtklagen - Unfall im Ausland - Unfall mit ausländischem Fahrzeug


Gründe:

I.

Der Kläger begehrt eine Ausgleichszahlung in Höhe von 400 € nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 296/91 (im Folgenden: FluggastrechteVO) sowie Zahlung von Zinsen ab Rechtshängigkeit.

Der Kläger buchte für den 18. Juli 2013 eine Flugverbindung von Stuttgart über Paris nach Helsinki bei Air France, deren Unternehmenssitz in Paris liegt. Air France führte den Flug von Stuttgart nach Paris plangemäß durch (10:05 Uhr bis 11:25 Uhr). Die von 12:20 Uhr bis 16:15 Uhr vorgesehene Beförderung von Paris nach Helsinki übernahm, worauf in der bestätigten Buchung hingewiesen worden war, die Beklagte … . Das eingesetzte Flugzeug landete erst um 19:35 Uhr in Helsinki.

Der Kläger hat vor dem für den Flughafen Stuttgart örtlich zuständigen Amtsgericht Klage erhoben. Dieses hat die Klage als unzulässig abgewiesen, nachdem die Beklagte die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gerügt hat. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

II.

Das Berufungsgericht erachtet die deutschen Gerichte für international nicht zuständig und die Klage deshalb als unzulässig. Nach keiner Bestimmung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüssel I-VO) seien deutsche Gerichte zur Entscheidung berufen. Insbesondere liege im Inland kein Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b Brüssel I-VO. Der geltend gemachte Anspruch knüpfe an die Verspätung auf der Teilstrecke von Paris nach Helsinki an, für die die Beklagte zwar ausführendes Luftfahrtunternehmen sei, für die aber nur Paris oder Helsinki als Erfüllungsort infrage komme, zumal die Beklagte auf dem Flughafen Stuttgart keinerlei Tätigkeit habe entfalten müssen. Bei dem Flug von Stuttgart nach Helsinki handle es sich nicht um eine einheitliche Dienstleistung der Beklagten, die die Annahme eines einheitlichen Fluges rechtfertigen könnte. Vielmehr sei die Beklagte lediglich in den Vertrag zwischen dem Kläger und Air France einbezogen worden.

III.

Der Erfolg der Revision hängt entscheidend davon ab, ob die deutschen Gerichte international zuständig sind. Das ist nach Lage der Dinge nur dann der Fall, wenn der Rechtsstreit Ansprüche aus einem Vertrag zum Gegenstand hat und der Gerichtsstand des Erfüllungsortes in Deutschland liegt. Dies hängt von der Auslegung von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a., Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO ab, die im Streitfall anzuwenden ist (Art. 66 der Verordnung 1215/12 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen).

1. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte für eine Klage auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastrechteVO ist nicht nach Art. 19 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28. Mai 1999 (ABl. EG L 194, S. 39 vom 18. Juli 2001) ausgeschlossen, weil für Ansprüche aus der FluggastrechteVO und aus jenem Abkommen unterschiedliche Regelungsrahmen gelten (EuGH, Urteil vom 9. Juli 2009 - C-204/08, Slg. 2009, I-6073 Rn. 27 - Rehder; vom 23. Oktober 2012 - C-581/10 und C-629/10, RRa 2012, 272 Rn. 46, 55, 57 mwN - Nelson u.a.).

2. Die Zuständigkeit deutscher Gerichte kann sich, da der geschlossene Vertrag die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand hat, nur aus Art. 5 Nr. 1 Buchst. a, Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO ergeben.

a) Die Anknüpfung an den dem Wohnsitz gleichgesetzten Unternehmenssitz (Art. 2, 60 Brüssel I-VO) führt nicht zur Zuständigkeit deutscher Gerichte, weil der Sitz der Beklagten in F. liegt. Der Verbraucherwahlgerichtsstand am Wohnsitz des Klägers in Deutschland (Art. 16 Abs. 1 Brüssel I-VO) ist nicht auf Beförderungsleistungen anzuwenden, die außerhalb von Reiseverträgen mit einem Pauschalpreis für kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen erbracht werden (Art. 15 Abs. 3 Brüssel I-VO). Der Deliktsgerichtsstand läge auch dann nicht in Deutschland, wenn die Beförderung mit einer Verspätung, die einen Anspruch aus Art. 7 FluggastrechteVO auslöst, als schädigendes Ereignis im Sinne von Art. 5 Nr. 3 Brüssel I-VO einzuordnen wäre. Der Ort der unerlaubten Handlung umfasste dann zwar sowohl den Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs (EuGH, Urteil vom 18. Juli 2013 - C-147/12, EuZW 2013, 703 Rn. 51 - ÖFAB). Dafür kämen aber lediglich der Ort des Abflugs oder der Ankunft des verspäteten Fluges in Betracht, hier also Paris oder Helsinki.

b) Der Senat versteht den Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 FluggastrechteVO als einen gesetzlichen Anspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf vertraglicher Grundlage. Der Anspruch folgt zwar nicht unmittelbar aus dem mit einem Luftfahrtunternehmen abgeschlossenen Beförderungsvertrag, setzt aber voraus, dass der Anspruchsteller über eine bestätigte Buchung verfügt, was wiederum regelmäßig vom Bestehen eines Beförderungsvertrages abhängig ist. Der Senat ist bisher davon ausgegangen, dass ein solcher Beförderungsvertrag entweder mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen selbst bestehen kann oder mit einem anderen Unternehmen, für welches das ausführende Luftfahrtunternehmen die Beförderungsleistung erbringt (BGH, Urteil vom 18. Januar 2011 - X ZR 71/10, BGHZ 188, 85 Rn. 26; Urteil vom 12. November 2009 - Xa ZR 76/07, RRa 2010, 34 Rn. 18; Urteil vom 28. Mai 2009 - Xa ZR 113/08, RRa 2009, 242 Rn. 9; Urteil vom 30. April 2009 - Xa ZR 78/08, RRa 2009, 239 Rn. 13). Letztere Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Die Beklagte hat ihre Beförderungsleistung nach den gesamten Umständen in Kooperation mit Air France für diese Luftfahrtgesellschaft erbracht, weil bereits in der bestätigten Buchung darauf hingewiesen war, dass der Flug von Paris nach Helsinki von ihr ausgeführt würde. Der Senat hatte bislang aber noch nicht zu entscheiden, ob in einer solchen Fallgestaltung Ansprüche aus einem Vertrag im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a Brüssel I-VO den Gegenstand des Verfahrens bilden, und die zutreffende Auslegung dieser unionsrechtlichen Norm erscheint weder in dem einen noch in dem anderen Sinne eindeutig. Deshalb ist diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen.

Die (vollständige) Verlagerung der im Kommissionsvorschlag (Vorschlag der Kommission vom 21. Dezember 2001 - ABl. EU C 103 E vom 30. April 2002, S. 225 ff.) noch vorgesehenen Haftung des vertraglich gebundenen Luftverkehrs- oder Reiseunternehmens auf das ausführende Luftverkehrsunternehmen beruhte auf der Annahme, dieses sei aufgrund seiner Präsenz auf den Flughäfen in der Regel am besten in der Lage, die Verpflichtungen zu erfüllen (vgl. Begründung des Rates zum Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 27/2003 vom 18. März 2003, ABl. EU C 125 E vom 27. Mai 2003, S. 63, 70). Dass sich der Anspruch (nur) deswegen nicht gegen den Vertragspartner des Fluggastes, sondern - vertraglich gesehen - gegen dessen Erfüllungsgehilfen richtet, sollte die Qualifikation als vertraglichen Anspruch nach Auffassung des Senats nicht in Zweifel ziehen.

c) Falls die vorstehend aufgeworfene Frage zu bejahen ist, kommt es für die Entscheidung über die Revision des Weiteren darauf an, ob der Abflugort des ersten (Teil-)Flugs, der Flughafen Stuttgart, als Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO anzusehen ist.

aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bereits zur Frage des Gerichtsstands im Fall einer Beförderung von Personen im Luftverkehr von einem Mitgliedstaat in einen anderen auf der Grundlage eines mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossenen Vertrages geäußert. Für eine auf diesen Beförderungsvertrag und die Fluggastrechteverordnung gestützte Klage auf Ausgleichszahlungen ist nach Wahl des Klägers das Gericht des Ortes des Abflugs oder der Ankunft des Flugzeugs entsprechend der Vereinbarung dieser Orte in dem Vertrag nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, 2. Spiegelstrich Brüssel I-VO zuständig (EuGH, Slg. 2009, I-6073 - Rehder).

bb) Der dem Streitfall zugrunde liegende Sachverhalt unterscheidet sich davon in zweierlei Hinsicht. Zum einen wurde der Fluggast zu seinem Endziel mit zwei Flügen - ohne nennenswerten Aufenthalt auf dem Umsteigeflughafen - befördert. Zum anderen ist das in Anspruch genommene ausführende Luftfahrtunternehmen eine andere Luftfahrtgesellschaft als diejenige, mit der allein der Fluggast einen Vertrag geschlossen hatte.

Der Senat neigt dazu, den Flughafen Stuttgart jedenfalls auch als vereinbarten Erfüllungsort für Verpflichtungen anzusehen, die aus der Durchführung des Anschlussfluges erwachsen sind, auch wenn dieser nicht von Air France als dem einzigen Vertragspartner des Klägers ausgeführt wurde, sondern von der Beklagten.

Hätte Air France auch den Anschlussflug selbst und mit entsprechender Ankunftsverspätung ausgeführt, läge eine Konstellation vor, die mit dem Fall Rehder insofern vergleichbar wäre, als der Vertrag dann ebenfalls mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossen wäre. Nach Ansicht des Senats spräche dann nichts dagegen, den ersten Abflugort als Erfüllungsort auch für Verpflichtungen anzusehen, die lediglich den Anschlussflug betreffen, und zwar auch dann, wenn die Unterbrechung in Paris nicht als bloße Zwischenlandung einzuordnen wäre (vgl. EuGH, Slg. 2009, I-6073 Rn. 40 - Rehder). Im Streitfall war der Vertrag über die gesamte Beförderungsleistung einheitlich mit Air France geschlossen worden. Der Kläger hatte als Fluggast naturgemäß keinen Einfluss darauf, ob Air France auch den Flug von Paris nach Helsinki selbst ausführen oder sich dazu der Beklagten als Erfüllungsgehilfin bedienen würde. Umgekehrt musste die Beklagte, wenn sie für Air France einen Anschlussflug ausführte, damit rechnen, Personen auch aus Zubringerflügen ihres Kooperationspartners zu befördern und nicht nur von Paris aus startende Fluggäste. Das könnte nach Ansicht des Senats dafür sprechen, den ersten Abflugort auch dann als einen Erfüllungsort anzusehen, wenn die Klage Ansprüche aus der Fluggastrechteverordnung gegen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen betrifft, das selbst nicht Vertragspartner des Fluggastes ist. Hinzu kommt, dass andernfalls der Gerichtsstand des Erfüllungsortes den Fluggästen in Konstellationen der vorliegenden Art gar nicht zur Verfügung stehen könnte. Es ginge dann nicht um eine Verpflichtung des Luftfahrtunternehmens, mit dem ein Vertrag besteht, und mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, gegen das der Anspruch sich richtet, bestünde keine vertragliche Beziehung. In tatsächlicher Hinsicht kommt hinzu, dass am ersten Abflugort Fluggäste mit ihrem Gepäck für die gesamte Beförderung zum Endziel abgefertigt werden.

Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union die Zuständigkeit des Gerichts des Abflug- und Ankunftsortes entsprechend der Vereinbarung dieser Orte in dem mit einer einzigen Luftfahrtgesellschaft, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, geschlossenen Vertrages angenommen hat (EuGH, Slg. 2009, I-6073 Rn. 41 - Rehder), lässt sich daraus die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Abflugortes in Bezug auf solche Verpflichtungen, die den zweiten Flug betreffen, nicht eindeutig bejahen.