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OLG Oldenburg Urteil vom 21.01.2015 - 5 U 103/14 - Maßgeblicher Zeitpunkt der Erstfeststellung unfallbedingter Invalidität
OLG Oldenburg v. 21.01.2015: Maßgeblicher Zeitpunkt der Erstfeststellung unfallbedingter Invalidität in der Unfallversicherung
Das OLG Oldenburg (Urteil vom 21.01.2015 - 5 U 103/14) hat entschieden:
Leistet der Unfallversicherer innerhalb der Dreijahresfrist der Ziff. 9.4. AUB 2003 nur Vorschusszahlungen und setzt er die Invalidität erstmals nach Ablauf der Dreijahresfrist endgültig fest, ist für die Bemessung der Invalidität und ihre gerichtliche Überprüfung der Gesundheitszustand bei Ablauf der Dreijahresfrist maßgeblich (entgegen OLG Düsseldorf, 6. August 2013, I-4 U 221/11 und OLG Saarbrücken, 15. Mai 2013, 5 U 347/12).
Siehe auch Insassen-Unfallversicherung und Stichwörter zum Thema Kfz-Versicherung
Gründe:
I.
Die Parteien streiten - soweit noch Gegenstand des Berufungsverfahrens - um eine Rückforderung von Vorschussleistungen aufgrund eines privaten Unfallversicherungsvertrages.
Der Beklagte unterhält bei der Klägerin eine private Unfallversicherung. Wegen der Einzelheiten wird auf den Versicherungsschein vom 18.12.2006, die einbezogenen AUB 2003 und die weiter einbezogenen besonderen Bedingungen Bezug genommen (Anlage K1 und Anlagenkonvolut K2 Anlagenband K). Die Unfallinvaliditätssumme betrug 105.000 Euro; in den Vertrag einbezogene „Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel (225%)“ (im Folgenden: Progressionsbedingungen) sahen unter anderem vor, dass (a) für 25 Prozentpunkte des unfallbedingten Invaliditätsgrades der Versicherer die Invaliditätsleistung aus der im Versicherungsschein festgelegten Invaliditätssumme festlegt und dass (b) „jeder Prozentpunkt, der den unfallbedingten Invaliditätsgrad von 25 Prozent, nicht aber 50 Prozent übersteigt, (…) vom Versicherer bei der Berechnung der Invaliditätssumme mit zwei multipliziert und der Invaliditätssumme gemäß a) hinzugerechnet“ werde. Am Ende der Progressionsbedingungen ist eine Tabelle abgedruckt, in der einzelnen (vollen) Prozentsätzen der Invalidität zwischen 26 % und 100 % aus der Erhöhung resultierende bestimmte (volle) erhöhte Prozentsätze zugewiesen werden.
Gegenstand des Verfahrens ist die (Teil-) Invalidität des Beklagten infolge eines Unfalls am 28.04.2007.
Die Klägerin leistete an den Beklagten insgesamt Vorschusszahlungen in Höhe von 86.719,50 Euro, die mit klägerischen Schreiben vom 14.01.2010 nach 1/10 Beinwert bezüglich des linken Beines, 1/3 Handwert bezüglich der rechten Hand sowie 2/7 Armwert bezüglich des linken Arms und damit nach einem Gesamtinvaliditätsgrad von 52,53 % (nach Progression: 82,59%) abgerechnet wurden. Nach weiteren Untersuchungen (zuletzt am 14.06.2010) setzte die Klägerin den unfallbedingten Invaliditätsgrad mit Schreiben vom 22.07.2010 auf 43,5% (nach Progression: 62,0 %) unter Berücksichtigung von 3/10 linker Armwert und 3/10 rechter Handwert fest und forderte überbezahlte Vorschüsse in Höhe von 21.690,50 Euro vom Beklagten zurück. Auf die tatsächlichen Feststellungen des Urteils des Landgerichts O. vom 28.05.2014, Az.: 9 O 479/12, in der durch Beschluss vom 30.06.2014 geänderten Fassung wird im Übrigen Bezug genommen.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von medizinischen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Helmut L.. Gegenstand der Gutachten war gemäß landgerichtlicher Vorgabe der Invaliditätsgrad beim Beklagten per Stichtag 28.04.2010 (drei Jahre nach dem Unfallzeitpunkt).
Das Landgericht hat mit Urteil vom 28.05.2014 der auf Rückzahlung von 21.619,50 Euro nebst Zinsen seit Klagezustellung gerichteten Klage insoweit stattgegeben, als der Beklagte verurteilt worden ist, an die Klägerin 18.469,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.03.2012 zu zahlen; im Übrigen hat es die Klage (und die nicht der Berufung unterfallende Widerklage) abgewiesen. Auf den Inhalt der Entscheidungsgründe wird Bezug genommen. Im Wesentlichen hat das Landgericht ausgeführt, dass es sich bei der Abrechnung der Klägerin vom 22.07.2010 um eine Neubemessung handele, so dass auf den Gesundheitszustand des Beklagten bei Ende der Dreijahresfrist abzustellen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe ein Invaliditätsgrad vorgelegen, der 4/10 Handwert links und 3/10 Handwert rechts entspreche. Insgesamt bestünde daher ein Invaliditätsgrad von 45,5 %, der unter Berücksichtigung der Progression einen Versicherungsanspruch in Höhe von 65 % der Invaliditätssumme rechtfertige. Dementsprechend liege ein Überzahlung von 18.469,50 Euro vor.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er im Wesentlichen geltend macht, dass das Landgericht für die Feststellung des Invaliditätsgrades auf einen falschen Zeitpunkt abgestellt habe. Bei der von der Klägerin mit Schreiben vom 22.07.2010 erfolgten Abrechnung handele es sich nicht um die Ausübung einer im Schreiben vom 14.01.2010 vorbehaltenen Neubemessung des Invaliditätsgrades, sondern um eine Erstbemessung. Daher sei nach 2.1.1.1 AUB 2003 auf den Gesundheitszustand des Beklagten 18 Monate nach dem Unfall abzustellen gewesen. Ferner habe der Sachverständige den Beklagten nicht persönlich untersucht. Darüber hinaus sei die Progression des Invaliditätsgrades durch das Landgericht falsch berechnet worden.
Der Beklagte beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts O. vom 28.05.2014 die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat den Beklagten im Ergebnis zu Recht zur Zahlung eines Teilbetrages von 18.469,50 Euro nebst Zinsen verurteilt, da in dieser Höhe kein Rechtsgrund für die überzahlten Leistungen der Klägerin an den Beklagten bestand. Zwar handelt es sich vorliegend nicht um einen Streit über eine Neubemessung, sondern über die abschließende Erstbemessung der Invalidität (1.); dies führt entgegen der Ansicht des Beklagten allerdings nicht dazu, dass hinsichtlich des Gesundheitszustands des Beklagten auf einen anderen Zeitpunkt als den durch den gerichtlichen Sachverständigen begutachteten abzustellen ist (2.). Auch die sachverständigen Feststellungen und deren Würdigung durch das Landgericht begegnen keinen Bedenken (3.). Schließlich hat das Landgericht auf dieser Grundlage den progressierten Invaliditätsgrad zutreffend bestimmt (4.).
1. Gegenstand des Verfahrens ist nicht die Überprüfung einer Neubemessungsentscheidung der Klägerin, sondern die Erstfestsetzung der Leistungen aus dem Unfallversicherungsvertrag. Es ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich zwischen der Erstfeststellung der Invalidität und deren Neufestsetzung zu unterscheiden (BGH, Beschl. v. 16.01.2008 - IV ZR 271/06, Rn. 11 zitiert nach juris, m.w.N.). Eine Neufestsetzung kommt erst in Betracht, wenn zuvor eine Erstfestsetzung erfolgt ist. Entgegen der landgerichtlichen Wertung ist in dem Schreiben der Klägerin vom 14.01.2010 keine Erstfestsetzung der Invalidität unter dem Vorbehalt einer Neubemessung zu sehen. Zwar werden in dem Schreiben zum ersten Mal gegenüber dem Beklagten bestimmte Invaliditätsgrade genannt und auf dieser Basis eine „Invaliditätsleistung“ abgerechnet; allerdings ergibt sich aus dem sonstigen Inhalt des Schreibens zur Auffassung des Senats unter Zugrundelegung eines objektiven Empfängerhorizontes hinreichend deutlich, dass gerade keine bindende (Erst-) Feststellung dieser Invaliditätsgrade gewollt war. So wird ausdrücklich in dem Schreiben erklärt, dass die Festlegung der Invaliditätsgrade auf den „derzeitigen Erkenntnissen“ beruht; zugleich wird darauf hingewiesen, dass der Invaliditätsgrad „zurzeit noch nicht abschließend“ bestimmt sei und daher am selben Tag ein erneutes ärztliches Gutachten, das ausdrücklich als „Abschlussgutachten“ bezeichnet ist, beauftragt worden sei. Ferner wird die angekündigte weitere Zahlung an den Beklagten ausdrücklich als „weiterer Vorschuss“ bezeichnet und dessen Rückforderung für den Fall vorbehalten, dass „die abschließende Nachuntersuchung ergeben sollte, dass der Vorschuss zu hoch bemessen war“. Diese Gesichtspunkte sprechen hinreichend deutlich dafür, dass die Klägerin gerade keine abschließende Erstbemessung des Unfallversicherungsanspruchs des Beklagten dem Grunde und der Höhe nach erklärt hat, sondern lediglich über die Berechnungsgrundlagen für eine weitere Vorschusszahlung informierte (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 11.12.2009 – 20 U 67/09, RuS 2012, 253). Somit ist eine Erstfestsetzung allenfalls in dem Schreiben der Klägerin vom 22.07.2010 zu erblicken mit der Folge, dass die Erstfestsetzung der Unfallversicherungsleistung und der darauf beruhende Rückforderungsanspruch hinsichtlich überzahlter Vorschüsse Streitgegenstand ist.
2. Allerdings erweist sich der klägerische Anspruch auch unter diesem Gesichtspunkt als begründet, da nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts jedenfalls zum Zeitpunkt 28.04.2010 kein Invaliditätsgrad vorlag, der über 3/10 Handwert bezüglich der rechten Hand sowie 4/10 Handwert bezüglich der linken Hand und einer daraus resultierenden Gesamtinvalidität von 45,5 % hinausgeht. Es ist insoweit insbesondere nicht zu beanstanden, dass der gerichtliche Sachverständige auf den Gesundheitszeitpunkt des Beklagten zum Stichtag 28.04.2010 (und die daraus resultierende Invaliditätsprognose) abgestellt hat. Zwar gilt für die gerichtliche Überprüfung der Erstfeststellung der Invalidität die in Nr. 9.4 AUB 2003 hinsichtlich der Neubemessung festgelegte Dreijahresfrist nicht (BGH, Beschl. v. 21.03.2012 - IV ZR 256/10, m.w.N.); dies gilt nach Auffassung des Senats jedoch zunächst ausschließlich für die in Ziff. 9.4 AUB 2003 genannte ärztliche Bemessung der Invalidität. Dementsprechend sind auch spätere ärztliche Untersuchungen (wie hier die letzte Untersuchung des Beklagten am 14.06.2010 [s. Seite 2 der Anlage K16 Anlagenband K] und die weitaus später erfolgte Röntgenuntersuchung des Beklagten durch den gerichtlichen Sachverständigen anlässlich des ergänzenden Gutachtens vom 21.09.2013) im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung über die Erstfestsetzung zu berücksichtigen.
Hiermit ist jedoch nach Auffassung des Senats noch keine Aussage dazu getroffen, auf welchen Zeitpunkt die entsprechenden ärztlichen Untersuchungen hinsichtlich des festzustellenden Gesundheitszustandes (und der daraus folgenden Prognose) abzustellen haben. Die obergerichtliche Rechtsprechung beurteilt diese Frage - auch nach den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Nichtgeltung der Dreijahresfrist - nicht eindeutig. So hat das OLG Düsseldorf in einem Urteil vom 06.08.2013 (4 U 221/11, Rn. 26 f. zitiert nach juris) festgestellt, dass es weder auf den Zeitpunkt der Invaliditätseintrittsfrist (dort: von einem Jahr), noch auf den Ablauf der Dreijahresfrist oder auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Versicherers ankomme, sondern der Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung oder der letzten ärztliche Untersuchung maßgebend sei. Demgegenüber haben andere Obergerichte entschieden, dass auf den bedingungsgemäßen Zeitpunkt der Invaliditätseintrittsfrist (hier nach Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 18 Monate) abzustellen sei (s. beispielsweise OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.05.2013 – 5 U 347/12, Rn. 84 zitiert nach juris; zuletzt KG, Beschl. v. 25.07.2014 - 6 U 253/13).
Hat der Versicherer in der Dreijahresfrist wiederholt Vorschusszahlungen erbracht und sich vor Ablauf der Frist nicht zur endgültigen Erstbemessung in der Lage gesehen, ist in einem Rechtsstreit nach Ansicht des Senats der Ablauf der Dreijahresfrist der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung des Ausmaßes einer etwaigen Invalidität. Dies folgt aus einer an den Parteiinteressen und dem Regelungszusammenhang orientierten Auslegung des Versicherungsvertrages.
Die Regelung der Ziff. 9.4 AUB 2003 dient vor allem dem Interesse des Versicherungsnehmers an einem alsbaldigen Erhalt eine Invaliditätsleistung; zugleich soll verhindert werden, dass die abschließende Bemessung der Invalidität auf unabsehbare Zeit hinausgeschoben wird (Grimm, Unfallversicherung, 5. Aufl., Ziff. 9 AUB 2010, Rn. 20). Die Regelung verhindert im Interesse beider Parteien, dass für eine abschließende Feststellung der Invalidität (durch Neubemessung) zeitlich unbeschränkt gesundheitliche Veränderungen Berücksichtigung finden; vielmehr soll nach einer Höchstfrist von drei Jahren letztlich ein Schlussstrich gezogen werden. Dabei kann sich dies sowohl zu Gunsten als auch zum Nachteil einer der Parteien auswirken, da sich der Gesundheitszustand und der daraus zu prognostizierende Invaliditätsgrad auch nach Ablauf von drei Jahren sowohl signifikant verbessern als auch verschlechtern kann. Gleichwohl ist diese zeitliche Beschränkung bei der Neubemessung unter Berücksichtigung des Regelungszwecks für wirksam erachtet worden und nunmehr auch Gegenstand der Regelung des § 188 VVG geworden (der allerdings auf den vorliegenden Fall aufgrund Art. 1 EGVVG keine Anwendung findet).
Es erscheint vor dem Hintergrund dieses Regelungszwecks jedenfalls nicht sachgerecht, wenn nach Ablauf der Dreijahresfrist eintretende Änderungen für die Invaliditätsprognose Berücksichtigung finden könnten, falls überhaupt keine Erstfestsetzung innerhalb von drei Jahren erfolgt (und die Parteien sich nicht auf einen abweichenden Zeitpunkt zumindest konkludent geeinigt haben). Der Versicherer hätte es ansonsten dadurch, dass er sich möglichst spät über die Erstbemessung erklärt, letztlich in der Hand, gesundheitliche Veränderungen, die ansonsten wegen der Dreijahresfrist bei einer Neubemessung nicht mehr berücksichtigungsfähig wären, nunmehr zur Grundlage der mangels Neubemessungsmöglichkeit endgültigen Erstbemessung des Invaliditätsgrades zu machen. Daher ist es nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall auch nicht interessengerecht, auf den letztlich nicht vorher bestimmbaren und weit nach Ablauf der drei Jahre liegenden Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (so aber OLG Düsseldorf, a.a.O.) abzustellen. Es liegt vielmehr (auch wegen des Schlussstrich-Charakters der für die Neubemessung geltenden Dreijahresfrist) im Interesse beider Parteien des Unfallversicherungsvertrages einen einheitlichen und im Voraus eindeutigen Zeitpunkt (das Ende der Dreijahresfrist) festzulegen. Vor dem Hintergrund der Parteiinteressen wird beispielsweise auch in den Fällen, in denen (innerhalb der Dreijahresfrist) der Versicherungsnehmer gegen die Ablehnung seiner Ansprüche durch den Versicherer vorgeht, auf den Gesundheitszustand bei Ablauf der Dreijahresfrist abgestellt (BGH, Urt. v. 04.05.1994 - IV ZR 192/93, Rn. 24 zitiert nach juris), und nicht auf einen früheren (oder späteren) Zeitpunkt.
Es ist entgegen der Berufung in der vorliegenden Fallkonstellation auch nicht der Gesundheits- und Prognosezustand im Zeitpunkt des Ablaufes der Invaliditätseintrittsfrist nach Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 (18 Monate) maßgeblich (anders OLG Saarbrücken, a.a.O.; KG, a.a.O.). Die Invaliditätseintrittsfrist ist grundsätzlich keine abschließende Feststellungsfrist, sondern legt eine Anspruchsvoraussetzung für die Invaliditätsleistung fest, die die Entschädigungspflicht des Unfallversicherers begrenzt (Grimm, a.a.O., Ziff. 2 AUB 2010 Rn. 8 und 9). Dementsprechend setzt der „Eintritt der Invalidität“ keinen besonderen Umfang oder schon einen bestimmten Grad der Invalidität voraus; es genügt, wenn es überhaupt zu einer Invalidität in irgendeinem Umfang gekommen ist (Grimm, a.a.O., Ziff. 2 AUB 2010 Rn. 10). Bereits dieser Charakter der Invaliditätseintrittsfrist lässt es zweifelhaft erscheinen, wenn im vorliegenden Fall die (mangels Neubemessungsmöglichkeit abschließende) Feststellung der Invalidität aufgrund einer Momentaufnahme des Gesundheitszustandes 18 Monate nach dem Unfallereignis erfolgen würde. Diese Momentaufnahme kann nämlich sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil des Versicherungsnehmers vom später tatsächlich eintretenden Invaliditätsgrad abweichen, ohne dass eine Neubemessung wegen des bereits eingetretenen Zeitablaufs in Betracht käme.
Auch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten ist ein Abstellen auf den Zustand bei Invaliditätseintrittsfrist vorliegend nicht geboten. Die Klägerin hat insbesondere in ihrem Schreiben an den Beklagten vom 14.01.2010 deutlich gemacht, dass eine abschließende Festsetzung der Invalidität erst nach weiteren Untersuchungen erfolgen werde, so dass bei dem Beklagten nicht der Eindruck (und ein entsprechendes Vertrauen) entstehen konnte, es sei auf den Gesundheitszustand bei Ablauf der Invaliditätseintrittsfrist abzustellen.
Es ist ferner nicht geboten, auf den Zeitpunkt der Invaliditätseintrittsfrist abzustellen, um den Versicherer zu einer frühzeitigen - jedenfalls vor Ablauf von drei Jahren erfolgenden - Erstfestsetzung anzuhalten, wie der Beklagte vorliegend argumentiert. Einer etwaigen Pönalisierungsfunktion steht entgegen, dass das Abstellen auf einen früheren maßgeblichen Zeitpunkt nicht von vornherein zum Nachteil des Versicherers wirkt. Zwar mag es vorliegend für den beklagten Versicherungsnehmer günstig sein, auf den Zeitpunkt 18 Monate nach Unfallereignis abzustellen, da seinerzeit auch eine Teilinvalidität des rechten Beines im Raume stand. Es verbietet sich jedoch, hieraus allgemein auf diesen Zeitpunkt als dem relevanten abzustellen, da etwaige Veränderungen des Gesundheitszustandes nach diesem Zeitpunkt sich grundsätzlich auch zu Gunsten eines Versicherungsnehmers auswirken können.
Daher ist es im vorliegenden Fall allein interessengerecht, auf den Gesundheitszustand des Beklagten zum Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfall und die hieraus folgende Invaliditätsprognose abzustellen. Diesen Beurteilungszeitpunkt haben vorliegend sowohl der gerichtlich bestellte Sachverständige als auch das Landgericht berücksichtigt.
Dieser Auffassung des Senats steht der Beschluss des BGH vom 22.04.2009 (IV ZR 328/07, Rn. 19 zitiert nach juris) nicht entgegen, da in dem dort entschiedenen Fall zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (im Verfahren der Überprüfung der Erstfeststellung) die Dreijahresfrist noch nicht abgelaufen war.
3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden. Sie erweist sich auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Sachverständigengutachten nicht als fehlerhaft. Zwar sind Gutachten gerichtlich bestellter Sachverständiger vom Gericht sorgfältig und kritisch zu würdigen. Unvollständigkeiten, Unklarheiten und Zweifel sind von Amts wegen - soweit möglich - auszuräumen; vorhandene Aufklärungsmöglichkeiten dürfen nicht ungenutzt bleiben (BGH, Urt. v. 15.06.1994 - IV ZR 126/93, BeckRS 1994, 03984, m.w.N.). Allerdings hält das Sachverständigengutachten (zusammen mit den ergänzenden Gutachten) des gerichtlichen bestellten Sachverständigen einer entsprechenden kritischen Prüfung stand. Es ist insbesondere nicht zu beanstanden, dass der Sachverständige den Beklagten vor Abfassung des Gutachtens vom 30.11.2012 nicht persönlich untersucht hat. Zwar ist bei medizinischen Gutachten die persönliche Untersuchung in der Regel geboten. Die Besonderheiten des Falles lassen es vorliegend gleichwohl nicht als fehlerhaft erscheinen, wenn der Sachverständige von einer Untersuchung (zunächst) abgesehen hat. Dem Sachverständigen ist aufgegeben worden, die Teilinvaliditätsgrade beim Beklagten zum Stichtag 28.04.2010, mithin mehr als zwei Jahre vor dem Zeitpunkt der Gutachtenerstattung, zu begutachten. Da der Sachverständige den Gesundheitszustand des Beklagten und die daraus folgende Invaliditätsprognose retrospektiv zu begutachten hatte, ist es ohne weiteres nachvollziehbar, wenn der Sachverständige die von den behandelnden Ärzten in der Vergangenheit erhobenen Befunde sichtet und seiner Beurteilung zu Grunde legt. Falls der Sachverständige allerdings die konkrete Möglichkeit erkennt, dass sich aus einer aktuellen persönlichen Untersuchung womöglich Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zum Stichtag ziehen lassen, muss er natürlich die Erkenntnismöglichkeiten einer aktuellen Untersuchung nutzen. Dass der Sachverständige dies erkannt und seiner Begutachtung auch zu Grunde gelegt hat, ergibt sich im vorliegenden Fall jedoch bereits daraus, dass er in seinem Gutachten vom 30.11.2012 ausdrücklich darauf hinweist, dass hinsichtlich der Beckenfraktur und einer daraus womöglich folgenden Invalidität hinsichtlich des linken Beines „keine suffiziente Aussage möglich sei, da keine exakten Röntgenbilder zeitnah“ vorlägen; allenfalls könnte durch „aktuelle Röntgenaufnahmen (…) retrospektiv zu diesem Zeitpunkt rückgeschlossen werden“. Dadurch wird deutlich, dass der Sachverständige hinsichtlich der Verletzungen im Übrigen gerade keine retrospektiven Erkenntnismöglichkeiten durch aktuelle Untersuchungen sah, so dass eine weitere Untersuchung des Beklagten durch den Sachverständigen nicht erforderlich war. Die angesprochene Röntgenaufnahme des Beckens wurde nachträglich anlässlich des ergänzenden Gutachtens vom 21.09.2013 erstellt, führte jedoch zu keiner restrospektiven Invaliditätsfeststellung.
Die Beweiswürdigung durch das Landgericht begegnet daher insoweit (und auch im Übrigen) keinen Bedenken und vermag somit eine Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung nicht zu rechtfertigen.
4. Abschließend weist der Senat darauf hin, dass auch die landgerichtliche Berechnung des Invaliditätsgrades nach den Progressionsbedingungen zutreffend erfolgt ist. Soweit der Beklagte geltend macht, der festgestellte Invaliditätsgrad von 45,5 % hätte für die Progressionsberechnung auf 46 % aufgerundet werden müssen, findet dies in den Progressionsbedingungen keine Stütze. Die Progressionsbedingungen stellen allgemeine Versicherungsbedingungen dar, die als solche so auszulegen sind, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - auf seine Interessen an (BGH, Urt. v. 11.12.2002 - IV ZR 226/01, Rn. 19 zitiert nach juris). Eine Auslegung an diesem Maßstab führt zu dem vom Landgericht dargelegten Ergebnis. In den Progressionsbedingungen ist für die im vorliegenden Fall vorzunehmende Progressionsberechnung bestimmt, dass „jeder Prozentpunkt, der den unfallbedingten Invaliditätsgrad von 25 Prozent (…) übersteigt, (…) vom Versicherer bei der Berechnung der Invaliditätssumme mit zwei multipliziert“ wird. Eine Regelung für den Fall, dass nicht volle, sondern nur anteilige Prozentpunkte über 25 % liegen, ist nicht getroffen. Aus der genannten Formulierung ist jedoch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer klar erkennbar, dass nur volle Prozentpunkte, die über 25 % liegen, mit dem Faktor zwei multipliziert werden sollen. Diese Auslegung wird im Übrigen auch dadurch gestützt, dass in den Progressionsbedingungen eine Tabelle enthalten ist, aus der die „Auswirkungen“ der genannten Berechnung aufgeführt sind; auch in dieser Tabelle werden nur volle Prozentwerte angeführt. Dass die Klägerin ausweislich ihrer Schreiben vom 14.01.2010 und vom 22.07.2010 jeweils den Gesamtinvaliditätsgrad nach Progression abweichend von den Progressionsbedingungen berechnet hat, ist für die Auslegung nach dem genannten Auslegungsmaßstab unerheblich.
5. Der Senat hat die Revision zugelassen, da die Klärung der Frage, ob für die vorliegende Entscheidung über die Erstbemessung der Invalidität in der privaten Unfallversicherung (auch bei nachträglichen ärztlichen Feststellungen) auf den Gesundheitszustand und die daraus resultierende Invaliditätsprognose zum Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfallereignis oder zu einem Zeitpunkt 18 Monate nach dem Unfallereignis abzustellen ist, über den vorliegenden Einzelfall hinaus in einer Vielzahl von Fällen von Bedeutung ist. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts, da der Senat mit seiner Bewertung zumindest von den unter 2. genannten Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Urt. v. 06.08.2013 - 4 U 221/11) und des OLG Saarbrücken (Urt. v. 15.05.2013 – 5 U 347/12) abweicht. Diese Frage ist für den vorliegenden Fall entscheidungserheblich, da der Beklagte dargelegt hat, dass im Falle eines Abstellens auf den Zeitpunkt 18 Monate nach dem Unfall zusätzlich die Berücksichtigung einer Teilinvalidität bezüglich des linken Beines in Betracht kommt (und nach Aktenlage auch nahe liegt), so dass der Rückforderungsanspruch der Klägerin sich reduziert und die Berufung insoweit Erfolg hätte.
6. Die Nebenentscheidungen folgen aus § 97 Abs. 1 ZPO sowie aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.