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OLG Hamm Urteil vom 17.04.2015 - I-9 U 34/14 - Sturz eines stark alkoholisierten Fußgängers zwischen die Hinterachsen eines Sattelschleppers
OLG Hamm v. 17.04.2015: Sturz eines stark alkoholisierten Fußgängers zwischen die Hinterachsen eines Sattelschleppers
Das OLG Hamm (Urteil vom 17.04.2015 - I-9 U 34/14) hat entschieden:
- Das erhebliche Verschulden eines mit 2,49 Promille alkoholisierten Fußgängers, der bei dem Versuch, sich seitlich an einem auf einem Kundenparkplatz langsam vorwärts fahrenden Lastzug abzustützen, zwischen die Hinterachsen des Sattelaufliegers gerät, rechtfertigt im Rahmen der vorzunehmenden Haftungsabwägung das Zurücktreten der allein einzustellenden Betriebsgefahr und führt zur Verneinung jeglicher Haftung.
- Die im Unfallzeitpunkt gemessene Blutalkoholkonzentration von 2,49 Promille begründet die alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit eines Fußgängers, wenn dieser zuvor durch eine Verhaltensweise (Torkeln, starkes Schwanken) aufgefallen ist, die typisch für einen unter Alkoholeinfluss stehenden Fußgänger ist.
Siehe auch Unfälle mit alkoholisierten Fußgängern und Stichwörter zum Thema Fußgänger und Fußgängerunfälle
Gründe:
I.
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend und begehrt Feststellung eines materiellen und immateriellen Vorbehalts aus einem Verkehrsunfall vom 11.04.2008 gegen 12:24 h auf dem Parkplatz des Lidl-Supermarktes auf der L-Straße in F. Der im Unfallzeitpunkt mit 2,49 Promille alkoholisierte Kläger geriet als Fußgänger zwischen die Achsen des Sattelaufliegers des von dem Beklagten zu 1) gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) krafthaftpflichtversicherten Lastzuges. Der Kläger erlitt schwerste Verletzungen. In Bezug auf mögliche Ersatzansprüche des Klägers verzichteten die Beklagten bis zum 31.01.2012 auf die Einrede der Verjährung. Mit Schriftsatz von diesem Tag, der den Eingangsstempel des Landgerichts vom 01.02.2012 trägt, beantragte der Kläger für die von ihm geltend gemachten Ansprüche Prozesskostenhilfe. Das Landgericht hat dem Kläger unter Hinweis auf den von den Beklagten erhobenen Verjährungseinwand zunächst Prozesskostenhilfe verweigert. Auf die sofortige Beschwerde hat der Senat diesen Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung dem Landgericht übertragen. Dieses hat dem Kläger mit nicht förmlich zugestelltem Beschluss vom 12.04.2013 teilweise Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Schriftsatz vom 10.06.2013 hat der Kläger beantragt, die Klage im Umfang der Bewilligung der Prozesskostenhilfe zuzustellen, was am 19.06.2013 geschehen ist. Die Beklagten haben die Einrede der Verjährung aufrechterhalten und gemeint, mangels demnächstiger Zustellung der Klageschrift nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe sei die hemmende Wirkung des Prozesskostenhilfeantrags entfallen. Durch das angefochtene Urteil, auf das gem. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO verwiesen wird, soweit sich aus dem Folgenden nichts anderes ergibt, hat das Landgericht nach der Vernehmung des Prozessbevollmächtigten des Klägers als Zeugen unter Zurückweisung des von dem Kläger gestellten Wiedereinsetzungsantrages die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, Ansprüche des Klägers seien verjährt. Die am 19.06.2013 erfolgte Zustellung der Klage wirke keinesfalls auf den Zeitpunkt der Beantragung der Prozesskostenhilfe zurück, so dass dahingestellt bleiben könne, ob der Schriftsatz vom 31.01.2012 noch an diesem Tag bei Gericht eingegangen sei. Der Kläger habe nicht den ihm obliegenden Beweis geführt, dass er den Prozesskostenhilfe bewilligenden Beschluss vom 12.04.2013 erst nach dem 22.05.2013 erhalten habe. Nur in diesem Fall hätte die Zustellung am 19.06.2013 noch eine Rückbeziehung auf den Zeitpunkt der Stellung des Prozesskostenhilfegesuchs zugelassen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der dieser seine Schlussanträge erster Instanz nach Maßgabe der für das Berufungsverfahren bewilligten Prozesskostenhilfe nach erfolgter Wiedereinsetzung in die Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern, und
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 4.500,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.06.2013 zu zahlen,
- die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld von 20.000,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.06.2013 zu zahlen,
- ihn von außergerichtlichen Anwaltskosten seiner Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.307,81 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.06.2013 freizustellen,
- festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtliche zukünftigen materiellen und nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 11.04.2008 unter Berücksichtigung eines Eigen- bzw. Mitverschuldens von 50% zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind,
- hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil. Unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Sachvortrages sind sie der Ansicht, dass jedenfalls unter Berücksichtigung des erheblichen Verschuldens des Klägers keine Ansprüche bestünden.
Der Senat hat den Beklagten zu 1) persönlich angehört und den Zeugen L vernommen. Der Sachverständige Prof. T hat ein mündliches Gutachten zum Unfallhergang erstattet. Insoweit wird auf den Berichterstattervermerk vom 17.04.2015 und die Anlagen zum mündlichen Gutachten verwiesen.
Die Akte 32 Js 1345/08 StA Essen lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst den damit überreichten Anlagen verwiesen.
II.
Die Berufung ist unbegründet. Dem Kläger stehen die von ihm geltend gemachten und auf §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 11 StVG, § 823 Abs. 1, § 253 BGB, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG gestützten Ansprüche gegen die Beklagten nicht zu.
A.
Allerdings tragen die vom Landgericht genannten Gründe die Abweisung der Klage nicht. Denn die Ansprüche des Klägers - deren Bestehen einmal unterstellt - waren nicht verjährt.
1. Für die Verjährung der Ansprüche des Klägers gilt die dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB. Die Verjährungsfrist begann gem. § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres 2008 und endete demgemäß an sich mit dem Ablauf des Jahres 2011. Nachdem die Beklagte zu 2) auch mit Wirkung für den Beklagten zu 1) mit Schreiben v. 29.12.2011 bis zum 31.01.2012 auf die Einrede der Verjährung verzichtet hat, konnte Verjährung erst mit Ablauf des 31.01.2012 eintreten.
2. Der Eintritt der Verjährung ist gem. § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB durch die Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 31.01.2012 mit von diesem Tag datierenden Schriftsatz gehemmt worden. Nach dieser Vorschrift wird die Verjährung gehemmt durch die Veranlassung der Bekanntgabe des erstmaligen Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe oder Verfahrenskostenhilfe; wird die Bekanntgabe demnächst nach der Einreichung des Antrags veranlasst, so tritt die Hemmung bereits mit der Einreichung ein.
3. Der auf der Antragsschrift befindliche Eingangsstempel des Landgerichts weist als Eingangsdatum den 01.02.2012 aus. Der Eingangsstempel des Landgerichts erbringt gem. § 418 Abs. 1 ZPO zwar Beweis für den Zeitpunkt des Eingangs dieses Schriftsatzes bei Gericht. Der Beweis des Gegenteils, also der Unrichtigkeit des Eingangszeitpunktes, ist im Wege des Freibeweises gem. § 418 Abs. 2 ZPO aber zulässig. Hierzu ist die volle Überzeugung des Gerichts von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes notwendig, wobei allerdings die Anforderungen wegen der Beweisnot der Partei hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge nicht überspannt werden dürfen (BGH, NJW 2005, 3501).
4. Nach dem Ergebnis der zweitinstanzlich wiederholten Beweisaufnahme hat sich der Senat davon überzeugt, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers, der Zeuge L, den das Prozesskostenhilfegesuch beinhaltenden Schriftsatz v. 31.01.2012 noch an diesem Tag auf der Poststelle des Landgerichts dem dort Dienst versehenden Beamten übergeben hat. Der Zeuge hat bei seiner erneuten Vernehmung durch den Senat seine Angaben erster Instanz zu den näheren Umständen der Anfertigung des Schriftsatzes und dessen Übergabe auf der Poststelle des Landgerichts im Anschluss an einen zuvor von ihm wahrgenommenen Termin in Strafsachen wiederholt. Die Schilderung des als Organ der Rechtspflege der Wahrheit besonders verpflichteten Zeugen war ohne jede Einschränkung glaubhaft. Danach steht fest, dass die Antragsschrift entgegen dem aufgebrachten Stempelaufdruck nicht erst am 01.02.2012, sondern bereits am 31.01.2012 bei Gericht eingegangen ist.
5. Hierdurch ist die Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB bezogen auf den Zeitpunkt der Einreichung der Antragsschrift bei Gericht eingetreten, weil die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs an die Beklagten durch das Landgericht demnächst im Sinne dieser Vorschrift erfolgt ist.
Die Frage, wann von einer demnächstigen Veranlassung zur Bekanntgabe auszugehen ist, bestimmt sich nach den zu § 167 ZPO entwickelten Grundsätzen. Hiervon ausgehend ist die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs des Klägers an die Beklagten durch das Landgericht "demnächst" veranlasst worden.
Die Akte ist dem zuständigen Richter am 06.02.2012, einem Montag, vorgelegt worden. Dieser hat am 17.02.2012 die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs an die Beklagten verfügt. Die Dauer der Bearbeitung, die 2 Wochenenden umfasste, ist alleine durch Umstände im Geschäftsbetrieb des Landgerichts begründet, sie ist nicht durch Umstände verzögert worden, die dem Kläger anzulasten wären, etwa deshalb, weil dessen Angaben unvollständig gewesen wären.
6. Der Lauf der auf diese Weise gehemmten Verjährungsfrist war im Zeitpunkt der Zustellung der Klage an die Beklagten am 19.06.2013 noch nicht abgelaufen.
Die nach § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB bewirkte Hemmung endet gem. § 204 Abs. 2 S. 1 BGB 6 Monate nach der rechtskräftigen Entscheidung oder anderweitigen Beendigung des eingeleiteten Verfahrens. Vorliegend endete das Prozesskostenhilfeverfahren nach der nur teilweisen Bewilligung der Prozesskostenhilfe erst nach Ablauf der einmonatigen Beschwerdefrist des § 127 Abs. 2 S. 3 ZPO, die durch den Zugang des nicht förmlich zugestellten Beschlusses des Landgerichts v. 12.04.2013 beim Prozessbevollmächtigten des Klägers in Gang gesetzt wurde. Die Verjährungsfrist war daher mindestens bis zu einem nicht näher bestimmbaren Termin Mitte November 2013 gehemmt.
B.
Die Berufung des Klägers bleibt aber deshalb ohne Erfolg, weil dem Kläger Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gegen die Beklagten aufgrund des Unfallereignisses vom 11.04.2008 bereits dem Grunde nach nicht zustehen.
1. Zwar ereignete sich der Unfall beim Betrieb des vom Beklagten zu 1) gesteuerten Sattelzuges, § 7 Abs. 1 StVG. Die Ersatzpflicht der Beklagten ist nicht gem. § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt ausgeschlossen. Auch greift hier kein Anspruchsausschluss nach § 17 Abs. 3 StVG wegen Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses ein. Gegenüber einem Geschädigten, der selbst nicht als Halter eines Kraftfahrzeugs für die Betriebsgefahr eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs einzustehen hat, ist § 17 StVG nicht anwendbar.
Der Beklagte zu 1) hat den Nachweis geführt, dass der Unfall nicht durch sein Verschulden verursacht worden ist, § 18 Abs. 1 S. 2 StVG. Im Ergebnis kann dies aber auch letztlich dahin gestellt bleiben. Denn eine Haftung der Beklagten gegenüber dem Kläger besteht jedenfalls deshalb nicht, weil diesen ein weitaus überwiegendes Mitverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls trifft, § 254 Abs. 1 BGB, § 9 StVG.
2. Im Rahmen der danach vorzunehmenden Haftungsabwägung ist auf Seiten der Beklagten kein schuldhafter Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) festzustellen.
2.1 Der Beklagte zu 1) hat nicht gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Zunächst greifen die Vorschriften der StVO auch für Fahrvorgänge am hier in Rede stehenden Unfallort, auch wenn dieser auf dem Betriebsgelände eines Supermarktes liegt. Gegenstand der gesetzlichen Regelung der StVO ist gemäß § 1 Abs. 1 StVO die Teilnahme am Straßenverkehr. Dies meint alle Vorgänge im öffentlichen Verkehrsraum (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 1 StVO Rn. 13). Ob ein Verkehrsraum öffentlich ist oder nicht, bemisst sich nicht nach den Eigentumsverhältnissen an den jeweiligen Grundstücksflächen, sondern danach, ob der in Rede stehende Verkehrsraum ausdrücklich oder stillschweigend durch den jeweils Berechtigten für den öffentlichen Verkehr freigegeben ist (König, a.a.O., § 1 StVO Rn. 14). Danach ist ein Verkehrsraum dann öffentlich, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber zumindest für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (BGH, NJW 2004, S. 1965). Auf Parkplätzen, die - wie hier - Jedermann zugänglich sind, findet die StVO regelmäßig - auch ohne eine entsprechende Beschilderung - Anwendung (vgl. auch OLG Frankfurt, Urt. v. 08.09.2009 - 14 U 45/09 - Juris [Tz. 14]). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
2.2 Nach § 9 Abs. 5 StVO muss sich der Rückwärtsfahrende so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass der Beklagte zu 1) sich mit seinem Sattelzug vorwärts bewegt hat, und nicht rückwärts gefahren ist. Zwar hat der Zeuge T2 im Rahmen des Ermittlungsverfahrens einerseits ausgesagt, der Sattelzug habe sich rückwärts bewegt, als der Kläger zwischen die beiden Hinterachsen des Aufliegers geraten sei. Im gleichen Atemzug hat er seine zuvor gemachten Angaben jedoch entwertet, indem er einräumt, dass er nicht sagen könne, ob sich der Sattelzug noch leicht vorwärts oder rückwärts bewegt habe. Dass der Beklagte zu 1) rückwärts gefahren ist, als es zum Unfall mit dem Kläger kam, steht auch nicht aufgrund der von dem Zeugen U in den Unfallbericht als Angaben des Beklagten zu 1) aufgenommenen Äußerungen des Beklagten zu 1) fest. Es kann dahin gestellt bleiben, ob sich der Beklagte zu 1) - was dieser bestreitet - am Unfallort gegenüber den unfallaufnehmenden Polizeibeamten entsprechend geäußert hat, oder ob hier ein Verständigungs- oder ein Protokollierungsversehen vorliegt. Denn der Sachverständige Prof. T hat aus technischer Sicht die Unfallschilderung des im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen T3 bestätigt. Danach unterliege es keinem Zweifel, dass der Sattelzug vorwärts und nicht rückwärts bewegt worden sei. Der Sachverständige hat das Unfallgeschehen in einer Versuchsreihe nachgestellt und die Ergebnisse anhand der von ihm überreichten Anlagen im Termin mündlich erläutert. Die Versuchsreihe habe ergeben, dass sich der Sattelzug mit maximal 4,5 km/h vorwärts bewegt habe. Eine solch niedrige Geschwindigkeit werde von dem Fahrtenschreiber nicht aufgezeichnet. Der Versuch habe weiter gezeigt, wie es dazu kommen konnte, dass der Kläger zwischen den Hinterachsen des Aufliegers auf dem Rücken zu liegen kam. Dies sei das Ergebnis des übereinstimmend von den Zeugen T3 und T2 im Ermittlungsverfahren beschriebenen Bemühens des Klägers, sich an dem vorwärts rollenden Sattelzug mit den Händen abzustützen. Hierdurch habe der Kläger - wie der Sachverständige im Senatstermin anschaulich demonstriert hat - einen Drehimpuls erhalten, wobei der Schwerpunkt im Hüftbereich unverändert bleibe. Dass die attestierten Verletzungen ausschließlich die linke Körperhälfte des Klägers betrafen, sei ein aussagekräftiger Hinweis darauf, dass der Sattelzug in Vorwärtsbewegung gewesen sein müsse. Bei einer Rückwärtsfahrt hätte er zuvor den Körper des Klägers komplett überrollen müssen, um in die fotografisch dokumentierte Endstellung zu gelangen. Die von dem Zeugen T2 wahrgenommene Rückwärtsbewegung hat der Sachverständige nachvollziehbar erklärt. Da die Zugmaschine vorne mit Blattfedern ausgerüstet sei, verdrehten sich diese bei einer ruckartigen Bremsung, wie sie der Beklagte zu 1) beschrieben hat, zu einem "S". Werde die Bremse dann schlagartig gelöst, verforme sich die Feder zurück. Hierdurch rucke das Fahrzeug 10 oder 20 cm zurück. Von dieser Momentaufnahme geprägt, könne sich bei dem Beobachter der unzutreffende Eindruck ergeben, der Sattelzug sei rückwärts bewegt worden.
3. Der Beklagte zu 1) hat auch nicht gegen § 1 Abs. 1 und 2 StVO verstoßen, wonach die Teilnahme am Straßenverkehr ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht erfordert und niemand geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt werden darf.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1) auf das Auftauchen des Klägers zu spät oder unangemessen reagiert hat und durch eine ihm zumutbare Reaktion seinerseits den Unfall hätte vermeiden können.
3.1 Bei Fassung des Anfahrentschlusses, aber auch noch im Moment des Anfahrens durch den Beklagten zu 1), war der Kläger für den Beklagten zu 1) noch nicht sichtbar. Der Sachverständige hat - wie bereits in anderem Zusammenhang dargestellt - ermittelt, dass die Geschwindigkeit des Sattelzuges maximal 4,5 km/h betrug. Die Anfahrgeschwindigkeit war ausweislich des Fahrtenschreibers im Unfallzeitpunkt, wie auch während des gesamten davor liegenden Zeitraums, so gering, dass sie nicht aufgezeichnet worden ist. Der Anfahrentschluss ist spätestens 7 Sekunden vor dem Unfall gefasst worden. Die unter Berücksichtigung dieser Parameter erstellte Zeit-Weg- Betrachtung ergibt, dass in diesem Moment der Kläger für den Beklagten zu 1) noch nicht sichtbar gewesen ist.
3.2 Der Beklagte zu 1) konnte den Kläger über den linken Außenspiegel erst wahrnehmen, nachdem dieser sich seitlich bis auf 3 m dem Sattelauflieger genähert hatte. Dies war 2 Sekunden vor dem Erstkontakt des Klägers mit dem Sattelauflieger. Die Annäherungsrichtung und die Annäherungsgeschwindigkeit des Klägers hat der Sachverständige Prof. T gut nachvollziehbar ermittelt. Um den oben beschriebenen Drehimpuls zu erhalten, musste sich der Kläger mit einer nicht nur geringen Geschwindigkeit rechtwinklig dem Sattelauflieger genähert haben. Eine geringe Gehgeschwindigkeit, wie sie einem Torkeln entspräche, oder eine parallele Annäherung von hinten auf den Sattelauflieger zu, hat der Sachverständige ausgeschlossen. In beiden Fällen sei es nicht möglich gewesen, dass der Kläger zwischen die Hinterachsen habe stürzen können. Er wäre von der Seitenwand des Aufliegers vielmehr abgewiesen worden. Es kann dem Beklagten zu 1) nicht zum Vorwurf gemacht werden, innerhalb dieser 2 Sekunden den Kläger über den linken Rückspiegel nicht wahrgenommen zu haben. Denn der Beklagte zu 1), der sich nach seinen nicht widerlegten Angaben vor dem Anfahren auch über den rückwärtigen Verkehrsraum informiert haben will, musste sein Augenmerk nach dem Anfahren insbesondere auf die vor ihm liegende Verkehrssituation richten. Damit, dass ein Fußgänger mit nicht geringer Geschwindigkeit gezielt seitlich auf den vorwärts rollenden Sattelzug zulaufen würde, um sich an diesem abzustützen, musste der Beklagte zu 1) auch bei Anlegung hoher Sorgfaltsmaßstäbe nicht rechnen.
3.3 Der Beklagte zu 1) hat auf das Auftauchen des Klägers sofort reagiert, wie der Sachverständige Prof. T überzeugend dargestellt hat. Von dem Moment an, in dem der Kläger erstmals über den linken Außenspiegel sichtbar wurde, bis zu dem Moment, in dem der Kläger zwischen den Hinterachsen auf dem Rücken zu Liegen kam, vergingen 3.3 Sekunden. Mit Beginn des Sturzvorgangs hat sich der Sattelzug maximal 1,6 m vorwärts bewegt, da es nicht zu einem vollständigen Überrollen des Klägers gekommen ist. Weil sich die Verletzungen des Klägers auf die linke Körperhälfte beschränkten, und es nicht zu einem Überrollen gekommen sei, sei dies eine Bestätigung dafür, dass der Beklagte zu 1) sehr schnell auf den gestürzten Kläger reagiert habe.
4. Der Beklagte zu 1) hat auch nicht gegen § 3 Abs. 2a StVO verstoßen.
Nach dieser Vorschrift müssen sich Fahrzeugführer gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist (Senat, U.v. 19.06.2012, 9 U 175/11). Der besondere Schutz des § 3 Abs. 2 a) StVO greift ein, wenn der ältere Mensch bzw. eine andere Person aus dem geschützten Personenkreis sich in einer Verkehrssituation befindet, in der erfahrungsgemäß damit gerechnet werden muss, dass er aufgrund seines Alters das Geschehen nicht mehr voll werde übersehen und meistern können, wobei es konkreter Anhaltspunkte für eine Verkehrsunsicherheit nicht bedarf. Für die Pflicht zu erhöhter Rücksichtnahme kommt es auf die konkrete Verkehrssituation an (BGH, NJW 1994, 2829). Nach dem Schutzzweck des § 3 Abs. 2 a) StVO muss jedenfalls die Annäherung der geschützten Person an die Fahrbahn bzw. die Gefahrensituation erkennbar sein. Der Bundesgerichtshof hat daher hinsichtlich des Schutzes von Kindern nur dann von dem Kraftfahrer verlangt, besondere Vorkehrungen (z. B. Verringerung der Fahrgeschwindigkeit oder Einnehmen der Bremsbereitschaft) zur Abwendung der Gefahr zu treffen, wenn ihr Verhalten oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen könnten (vgl. BGH, NZV 2002, 365).
Hiervon ausgehend ist ein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO zu verneinen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, wonach vom Eintreten des Klägers in den Sichtbereich des Beklagten zu 1) bis zum Ende des Sturzgeschehens ca. 3,3 Sekunden vergingen, kann bereits nicht festgestellt werden, dass der Beklagte zu 1) während der 2 Sekunden währenden Annäherungsphase den Kläger überhaupt und dann noch als hilfsbedürftige Person i.S.d § 3 Abs. 2a StVO hätte erkennen können und müssen.
5. Schließlich scheidet auch ein Verstoß des Beklagten zu 1) gegen § 3 Abs. 1 S. 1 StVO aus, nachdem aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. T feststeht, dass der Beklagte zu 1) mit allenfalls 4,5 km/h vorgerollt ist, was der zügigen Fortbewegungsgeschwindigkeit eines Fußgängers entspricht und angesichts der konkreten örtlichen Verhältnisse nicht unangepasst war.
6. Den Kläger trifft ein erhebliches Eigenverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls, §§ 9 StVG i.V.m. 254 Abs. 1 BGB. Der Kläger hat gegen das für ihn bei der Teilnahme am Straßenverkehr auch als Fußgänger geltende und sich aus § 1 Abs. 2 StVO ergebende Rücksichtnahmegebot verstoßen. Der Kläger ist sehenden Auges mit nicht geringer Geschwindigkeit seitlich auf den hinteren Bereich des sich langsam vorwärts bewegenden Sattelzuges zugelaufen. Anschließend hat er sich mit beiden Händen an dem Aufbau abgestützt, was zur Folge hatte, dass er durch den vermittelten Drehimpuls zwischen die Hinterachsen des Aufliegers gestürzt ist. Das in höchstem Maße eigengefährdende und nicht verkehrsgerechte Verhalten des Klägers hat sich erwiesenermaßen als Gefahrenmoment in dem Unfall ursächlich niedergeschlagen. Das Fehlverhalten des im Unfallzeitpunkt mit 2,49 Promille alkoholisierten Klägers belegt zudem seine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit selbst als Fußgänger. Denn es gibt keine andere Erklärung für die von den Zeugen beobachtete Verhaltensweise als eine alkoholbedingte Verkehrsuntüchtigkeit. Andere Ursachen, wie Unaufmerksamkeit oder Leichtsinn scheiden aus Sicht des Senats angesichts der Übersichtlichkeit der Örtlichkeit und des schnell zu registrierenden Fahrvorgangs aus, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger zuvor im Ladengeschäft und außerhalb des Sichtfeldes des Beklagten zu 1) auf dem Parkplatzgelände durch starkes Schwanken und einen torkelnden Gang den Zeugen D, T3 und T2 aufgefallen war.
7. Nach alledem ist bei der Haftungsabwägung auf Seiten der Beklagten nur die Betriebsgefahr des Sattelzuges zu berücksichtigen. Dass den Beklagten zu 1) ein Verschulden an dem Unfall trifft, ist - wie ausgeführt - nicht festzustellen. Demgegenüber wiegt das Verschulden des Klägers in Form des groben Verstoßes gegen die allgemeine Rücksichtnahmepflicht aus § 1 Abs. 2 StVO so schwer, dass dahinter die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs vollständig zurücktritt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO bestehen nicht.