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Verwaltungsgericht Neustadt Beschluss vom 22.12.2015 - 1 L 1111/15.NW - Keine Bindungswirkung bei regelmäßigem Cannabiskonsum

VG Neustadt v. 22.12.2015: Keine Bindungswirkung bei regelmäßigem Cannabiskonsum


Das Verwaltungsgericht Neustadt (Beschluss vom 22.12.2015 - 1 L 1111/15.NW) hat entschieden:
Das vorübergehende Verfahrenshindernis des § 3 Abs 3 StVG greift nicht ein, wenn das Strafverfahren sich auf eine Verkehrsteilnahme unter Cannabiseinfluss bezieht, die Fahrerlaubnisentziehung aber davon unabhängig schon wegen fehlender Fahreignung aufgrund eines festgestellten regelmäßigen Cannabiskonsums erfolgt ist.


Siehe auch Bindungswirkung von noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahren gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde und Das Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde bei regelmäßigem (gewohnheitsmäßigem) Cannabiskonsum


Gründe:

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid des Antragsgegners vom 20. Oktober 2015 hat keinen Erfolg.

Die vom Gericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung fällt zulasten des Antragstellers aus, weil die ihm gegenüber verfügte Fahrerlaubnisentziehung und das Verbot, fahrerlaubnisfreie Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr zu führen, sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig erweisen, und in dieser Situation das öffentliche Interesse am Schutz der übrigen Verkehrsteilnehmer vor ungeeigneten Kraftfahrern das private Interesse des Antragstellers überwiegt, vorläufig weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen zu können. Dem entspricht auch die gemäß § 80 Abs. 3 VwGO geforderte schriftliche Begründung des Sofortvollzugs durch den Antragsgegner.

Gemäß § 3 Abs. 1 StVG ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Bei einer ausländischen Fahrerlaubnis hat die Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts, von der Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen. Aus dieser gesetzlichen Regelung ergibt sich, dass die deutsche Fahrerlaubnisbehörde berechtigt ist, eine Fahrerlaubnisentziehung auch bei einer ausländischen Fahrerlaubnis auszusprechen. Die Wirkung der Verfügung beschränkt sich allerdings auf das Verbot, in Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen.

Das Führen fahrerlaubnisfreier Fahrzeuge ist zu untersagen, oder zu beschränken, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Fahrzeugen oder Tieren erweist, § 3 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV –.

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen beider Normen erfüllt.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis gegenüber dem Antragsteller beruht hier maßgeblich auf Umständen, die erst nach der Ausstellung des EU-​Führerscheins aufgetretenen sind, so dass die Entziehung der zugrunde liegenden slowakischen Fahrerlaubnis nicht gegen den europarechtlichen Anerkennungsgrundsatz verstößt (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2012 – BVerwGE 3 C 30.11 –, m.w.N.).

Der Antragsteller hat sich unzweifelhaft aufgrund seines Drogenkonsums als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Gemäß § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. Ziff. 9.2 der Anlage 4 zur FeV, die gemäß § 3 Abs. 2 FeV im Bereich fahrerlaubnisfreier (Kraft)fahrzeuge entsprechend Anwendung findet, ist ungeeignet, wer regelmäßig Cannabis konsumiert (Ziff. 9.2.1 der Anlage 4), oder wer nur gelegentlich Cannabis konsumiert und zwischen dem Cannabiskonsum und der Teilnahme am Straßenverkehr nicht trennen kann (Ziffer 9.2.2 der Anlage 4). Der Antragsteller erfüllt beide Tatbestände der Ziffer 9.2, dementsprechend hat der Antragsgegner den angefochtenen Bescheid vom 20. Oktober 2015 auf beides gestützt.

Aufgrund des beim Antragsteller festgestellten Blutwerts von 230 ng/ml THC-​COOH ist er als regelmäßiger Cannabiskonsument anzusehen. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass bei einer spontanen Blutabnahme, wie hier, ab einem Wert von 150 ng/ml ein regelmäßiger Cannabiskonsum vorliegt, d.h. dass der Betreffende diese Droge täglich oder nahezu täglich einnimmt (vgl. OVG RP, Beschluss vom 9. März 2006 – 10 E 10099/06.OVG –; Beschluss vom 28. November 2006 – 10 B 11069/06.OVG – und Beschluss vom 29. Juli 2010 – 10 B 10686/10.OVG –; OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juli 2003 – 12 ME 287/03 –, juris, mit Hinweis darauf, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bei einer Blutentnahme, die erst Tage nach dem letzten Konsum erfolgt, wegen des Abbauvorgangs sogar schon bei einer Konzentration von mindestens 75 ng/ml THC-​COOH im Blut von regelmäßigem Konsum auszugehen sei). Diese Werte hat der Antragsteller mit der bei ihm festgestellten Konzentration von THC-​COOH in Höhe von 230 ng/ml bei Weitem überschritten, so dass an seinem regelmäßigen Konsum keine vernünftigen Zweifel bestehen.

Außerdem lag bei ihm im Zeitpunkt der Fahrt vom 15. Mai 2015 um 13:15 Uhr eine THC-​Konzentration von 14 ng/ml im Blut vor. Jedenfalls ab einem Grenzwert von 2 ng/ml ist nach der Rechtsprechung regelmäßig davon auszugehen, dass der Betreffende nicht zwischen dem Cannabiskonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennen kann (vgl. OVG RP, Beschluss 23. Juni 2006 – 10 B 10538.OVG –). Dass dem Antragsteller das erforderliche Trennungsvermögen fehlt, manifestiert sich zudem in den von der Polizei festgestellten massiven Ausfallerscheinungen bei der Verkehrskontrolle vom 15. Mai 2015 (vgl. OVG RP, Beschluss vom 14. Mai 2009 – 10 B 10353/09.OVG –) sowie im Toxikologischen Gutachten der Universität Mainz vom 22. Juli 2015, wonach ein deutlicher aktueller Cannabiseinfluss zum Blutentnahmezeitpunkt anzunehmen war.

Die gegenüber dem Antragsteller verfügte Fahrerlaubnisentziehung verstößt schließlich nicht gegen § 3 Abs. 3 StVG. Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 des Strafgesetzbuchs – StGB – in Betracht kommt. Sinn und Zweck dieses vorübergehenden Verfahrenshindernisses auf Seiten der Fahrerlaubnisbehörde ist es, divergierende Bewertungen der Fahreignung im Strafverfahren und im Fahrerlaubnisverfahren zu vermeiden. Aus diesem Grund ist die Fahrerlaubnisentziehung für die gesamte Dauer des Strafverfahrens bis zu seinem förmlichen Abschluss gesperrt, wenn sich die Fahrerlaubnisbehörde auf den gleichen Vorgang bezieht, der im Strafverfahren untersucht wird (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage 2015, § 3 StVG Rdnrn. 44 ff. m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2012, a.a.O. und OVG RP, Beschluss vom 10. Mai 2006 – 10 B 10371/06.OVG –). Dabei kommt es nicht darauf an, mit welcher konkreten Wahrscheinlichkeit die Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 69 StGB im Einzelfall droht. Die Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG bezieht sich vielmehr auf strafrechtliche Untersuchungen zu Straftaten, die ihrer Art nach die Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermögen (vgl. VGH Baden-​Württemberg, Beschluss vom 19. August 2013 – 10 S 1266/13 –, juris). Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft vom 16. September 2015, wonach eine Entziehung der Fahrerlaubnis im Strafverfahren gegen den Antragsteller „nach derzeitiger Einschätzung“ nicht in Betracht kommt, kann mithin das vorübergehende Verfahrenshindernis aus § 3 Abs. 3 StVG nicht beseitigen (vgl. erneut OVG RP, Beschluss vom 10. Mai 2006, a.a.O.).

Das Strafverfahren 7115 Js 10996/15 gegen den Antragsteller wegen Trunkenheit im Verkehr ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Es bezieht sich auf den gesamten Vorgang, der Gegenstand der Strafanzeige aufgrund der Verkehrskontrolle vom 15. Mai 2015 war und der die Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr unter dem Einfluss von Cannabis betrifft. In diesem Verfahren ist gemäß § 69 Abs. 2 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis weiterhin rechtlich möglich. Das sperrt hier die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen gelegentlichem Cannabiskonsums in Verbindung mit einem fehlenden Trennungsvermögen, das sich in der Fahrt vom 15. Mai 2015 manifestiert hat. Ein gelegentlicher Cannabiskonsum reicht nämlich für sich allein nicht aus, um die Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs feststellen zu können, sondern es bedarf dafür des zusätzlichen Nachweises einer Teilnahme am Straßenverkehr unter Cannabiseinfluss. Das ist aber genau der Vorgang, der im Strafverfahren untersucht wird. Eine Fahrerlaubnisentziehung, die an diesen Sachverhalt anknüpft, ist mithin derzeit unzulässig (vgl. erneut OVG RP, Beschluss vom 10. Mai 2006, a.a.O.). Ob das Strafverfahren 7115 Js 10996/15 im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des noch zu erlassenden Widerspruchsbescheides abgeschlossen sein wird, lässt sich derzeit nicht voraussagen. Nach Abschluss des Strafverfahrens geht das vorübergehende Verfahrenshindernis des § 3 Abs. 3 StVG über in die gemäß § 3 Abs. 4 StVG normierte Bindungswirkung (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Juni 2012, a.a.O.).

Dies ändert aber im Ergebnis nichts an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 20. Oktober 2015. Denn die Fahrerlaubnisentziehung und das Verbot zum Führen fahrerlaubnisfreier Kraftfahrzeuge sind darin zusätzlich und selbständig gestützt auf den regelmäßigen Cannabiskonsum des Antragstellers. Dieser andere Lebenssachverhalt wird vom strafbewehrten Vorgang des Führens eines Kraftfahrzeugs unter Drogeneinfluss nicht berührt; er ist nicht Gegenstand des Strafverfahrens wegen Trunkenheit im Verkehr am 15. Mai 2015, in dem die Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 69 StGB erfolgen kann. Der regelmäßige Cannabiskonsum erfüllt als solches keinen strafrechtlichen Tatbestand, aufgrund dessen gemäß § 69 StGB eine Fahrerlaubnisentziehung rechtlich in Betracht kommt, in Bezug auf diesen Sachverhalt ist auch kein anhängiges Strafverfahren ersichtlich. Für den strafrechtlich bedeutsamen Vorgang am 15. Mai 2015 ist das sonstige Konsumverhalten des Antragstellers in Bezug auf Cannabis unerheblich. Dieses Konsumverhalten begründet aber schon für sich allein, unabhängig von dem im Strafverfahren untersuchten Vorgang der konkreten Verkehrsteilnahme am 15. Mai 2015, die Ungeeignetheit des Antragstellers gemäß Ziffer 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV. Der regelmäßige Cannabiskonsum muss zwingend wegen fehlender Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zur Fahrerlaubnisentziehung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2009 – BVerwG 3 C 1.08, juris). Da beide eignungsausschließenden Tatbestände – regelmäßiger Cannabiskonsum gemäß Ziffer 9.1.1 und gelegentlicher Cannabiskonsum bei fehlendem Trennungsvermögen gemäß Ziffer 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV – jeweils selbständig Anknüpfungspunkt fahrerlaubnisrechtlicher Maßnahmen sein können und vorliegend auch sind, bestehen keine Bedenken dagegen, dass der Antragsgegner diese bereits jetzt aussprechen kann.

Hinsichtlich der Ziffern 4 und 5 des Bescheides vom 20. Oktober 2015 fehlt es dem Eilantrag des Antragstellers am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsgegner hat durch sein Schreiben vom 11. Dezember 2015 klargestellt, dass die verfügte Abgabe des Führerscheins lediglich zur Vornahme des Eintrags erfolgen soll, dass er nicht mehr berechtigt ist, in Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen. Das lässt sich ungeachtet dieses Schreibens auch schon dem angefochtenen Bescheid hinreichend deutlich entnehmen. Dort ist nämlich unter Ziffer 1 ausgeführt, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis hier lediglich die Wirkung der Aberkennung des Rechts hat, von der slowakischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aufforderung zur Vorlage des Führerscheins zu lesen. Eine vollständige und dauerhafte „Einziehung“ des slowakischen Führerscheins wurde vom Antragsgegner nie verfügt.

Da der Antragsteller nach seinem Vortrag mittlerweile nicht mehr im Besitz des slowakischen Führerscheins ist, kann er der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins und dem angedrohten Zwangsgeld auch ohne den vorliegenden Eilantrag dadurch entgehen, dass er die von dem Antragsgegner geforderte eidesstattliche Versicherung gemäß § 5 StVG abgibt. Damit werden die Ziffern 4 und 5 des Bescheids vom 20. Oktober 2015 gegenstandslos.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Der Streitwert wurde festgesetzt gemäß § 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffern 1.5, 46.3 und 46.14 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, LKRZ 2014, 169.