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Landgericht Berlin Beschluss vom 20.04.2015 - 538 Qs 42/15 - Persönliches Erscheinen und Verlass auf Verteidiger

LG Berlin v. 20.04.2015: Persönliches Erscheinen und Verlass auf Verteidiger


Das Landgericht Berlin (Beschluss vom 20.04.2015 - 538 Qs 42/15) hat entschieden:
Soweit es um die Wahrnehmung eines Gerichtstermins geht, darf sich ein Betroffener regelmäßig nicht auf die Auskunft seines Verteidigers verlassen, er müsse nicht erscheinen. Solange das Gericht den Termin nicht aufgehoben oder den Betroffenen vom persönlichen Erscheinen entbunden hat, hat dieser der Ladung folge zu leisten; eine gegenteilige Mitteilung seines Verteidigers kann die Wirkung der Ladung nicht außer Kraft setzen und entschuldigt den Betroffenen daher grundsätzlich nicht. - Der Betroffene darf sich insbesondere nicht auf die - im Widerspruch zu einer durch das Gericht nicht aufgehobenen Ladung stehende - Auskunft seines Verteidigers verlassen, über einen Verlegungsantrag werde rechtzeitig entschieden werden. Vielmehr trifft den Betroffenen insoweit die Obliegenheit, sich bei Gericht nach dem Fortbestehen des Termins zu erkundigen.


Siehe auch Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung und Säumnis des Betroffenen und Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren


Gründe:

I.

Gegen den Beschwerdeführer wird ein Bußgeldverfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit geführt. Auf seinen gegen den Bußgeldbescheid gerichteten Einspruch hat der zuständige Richter des Amtsgerichts Tiergarten mit Verfügung vom 30. Dezember 2014 Termin zur Hauptverhandlung auf den 10. Februar 2015 um 12:20 Uhr anberaumt. Zu dem Termin hat er zwei Polizeibeamte als Zeugen geladen. Die Ladung ist dem Beschwerdeführer am 6. Januar 2015 durch persönliche Übergabe zugestellt worden. Nachdem sich für den Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 7. Januar 2015 ein Verteidiger gemeldet und einen weiteren Zeugen benannt hatte, beraumte der Amtsrichter mit Verfügung vom 8. Januar 2015 einen Fortsetzungstermin an, den er ebenfalls für den 10. Februar 2015, jedoch um 13:20 Uhr ansetzte und zu dem er den von der Verteidigung benannten weiteren Zeugen lud. Die Ladung zu diesem Fortsetzungstermin wurde dem Beschwerdeführer am 13. Januar 2015 zugestellt; bei seinem Verteidiger ist sie am 13. Januar 2015 eingegangen.

Zu dem Hauptverhandlungstermin am 10. Februar 2015 um 12:20 Uhr ist weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger erschienen. Das Amtsgericht Tiergarten hat daraufhin den Einspruch des Beschwerdeführers durch Urteil nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.

Hinsichtlich des versäumten Hauptverhandlungstermins um 12:20 Uhr hat der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Hilfsweise hat er beantragt, gegen das Verwerfungsurteil die Rechtsbeschwerde zuzulassen. Er macht geltend, nach Erhalt der Ladung zum Fortsetzungstermin sei die Rechtsanwaltsfachangestellte seines Verteidigers davon ausgegangen, dass es sich um eine Umladung handele; die Anberaumung eines Fortsetzungstermins im Abstand von einer Stunde zum Hauptverhandlungstermin habe sie für abwegig gehalten. Sie habe daher im Kanzleikalender und in der anwaltlichen Handakte den ersten Termin gelöscht und stattdessen den späteren Termin notiert. Der Verteidiger habe dem Beschwerdeführer daraufhin mitgeteilt, dass der Hauptverhandlungstermin auf 13:20 Uhr verlegt worden sei; nur zu diesem Termin habe er zu erscheinen. Dieser Sachverhalt ist durch eidesstattliche Versicherungen des Verteidigers und seiner Rechtsanwaltsfachangestellten sowie durch Vorlage einer Ablichtung aus dem Kanzleikalender sowie des anwaltlichen Handaktenbogens glaubhaft gemacht worden.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht Tiergarten den Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen. Der Beschluss stützt sich im Wesentlichen darauf, der Beschuldigte hätte sich nicht auf die Auskunft seines Verteidigers verlassen dürfen, dass nur der zweite Termin wahrzunehmen sei. Der Betroffene habe zwei Ladungen erhalten. Aus der Ladung zum Termin um 13:20 Uhr gehe hervor, dass es sich um einen Fortsetzungstermin handele.


II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft (§ 46 Abs. 3 StPO i. V. m. §§ 74 Abs. 4 Satz 1, 52 Abs. 1 OWiG) und fristgerecht erhoben (§ 311 Abs. 2 StPO). Sie hat auch in der Sache Erfolg.

1. Einem Betroffenen, gegen den in seiner Abwesenheit ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangen ist, ist gemäß § 74 Abs. 4 Satz 1 OWiG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den gleichen Voraussetzungen wie bei Versäumung einer Frist zu gewähren. Dazu muss der Betroffene vortragen und glaubhaft machen, dass er an der Wahrnehmung des Hauptverhandlungstermins ohne sein Verschulden gehindert war (§§ 44 Satz 1, 45 Abs. 2 StPO i. V. m. § 52 Abs. 1 OWiG). Das Ausbleiben eines Betroffenen in der Hauptverhandlung ist entschuldigt, wenn ihm daraus bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 6. Oktober 1978 – 2 Ws 206/78, über juris, Rn. 6). Hängt von der Gewährung der Wiedereinsetzung der erste Zugang zum Gericht ab, dürfen die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlasst haben und vorbringen muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten (BVerfGE 40, 88 <91>; 41, 323 <326 f.>; 54, 80 <84>; 67, 208 <212 f.>; st. Rspr.).

Ein Verschulden des Verteidigers oder dessen Angestellten, das zu einer Terminsversäumung führt, rechtfertigt für den Betroffenen grundsätzlich die Wiedereinsetzung (vgl. Maul, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Auflage 2013, § 44, Rn. 30, m. w. N.). Den Strafgerichten ist es regelmäßig verwehrt, dem Betroffenen bei der Prüfung der Frage, ob ihn an einer Fristversäumung ein Verschulden trifft, Versäumnisse seines Verteidigers zuzurechnen (vgl. BVerfGE 60, 253 <297, 299, 300>). Anders liegt es allerdings dann, wenn der Betroffene durch eigenes Verschulden zur Versäumung beigetragen hat. Dies ist regelmäßig ausgeschlossen, wenn der Betroffene in die Prozessführung seines Verteidigers vertraut und wenn nicht besondere Umstände, wie etwa eine erkennbare Untätigkeit oder Unzuverlässigkeit des Verteidigers, ein eigenes Eingreifen des Betroffenen erfordern (Maul, a. a. O., Rn. 31).

2. Danach war dem Beschwerdeführer hinsichtlich des versäumten Hauptverhandlungstermins vor dem Amtsgericht Tiergarten am 10. Februar 2015 um 12:20 Uhr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Den Beschwerdeführer trifft nach dem glaubhaft gemachten Sachverhalt kein eigenes Verschulden an der Versäumung des Termins. Er ist dem Termin auf Anraten seines Verteidigers ferngeblieben, der ihm erklärt hat, nur den Termin um 13:20 Uhr wahrnehmen zu müssen. Dies ist ihm aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht vorzuwerfen.

a) Zwar darf sich ein Betroffener, soweit es um die Wahrnehmung eines Gerichtstermins geht, regelmäßig nicht auf die Auskunft seines Verteidigers verlassen, er müsse nicht erscheinen. Solange das Gericht den Termin nicht aufgehoben oder den Betroffenen vom persönlichen Erscheinen entbunden hat, hat dieser der Ladung folge zu leisten; eine gegenteilige Mitteilung seines Verteidigers kann die Wirkung der Ladung nicht außer Kraft setzen und entschuldigt den Betroffenen daher grundsätzlich nicht (KG, Beschluss vom 29. Oktober 2008 – 3 Ws 335/08). Dieser darf sich insbesondere nicht auf die – im Widerspruch zu einer durch das Gericht nicht aufgehobenen Ladung stehende – Auskunft seines Verteidigers verlassen, über einen Verlegungsantrag werde rechtzeitig entschieden werden (KG, Beschluss vom 20. Juli 1993 – 2 Ss 80/93 - 3 Ws (B) 411/93). Vielmehr trifft den Betroffenen insoweit die Obliegenheit, sich bei Gericht nach dem Fortbestehen des Termins zu erkundigen (KG, a. a. O.).

b) Anders liegt der Fall jedoch hier. Wenngleich der Beschwerdeführer eine Ladung zu dem Termin um 12:20 Uhr und später eine weitere Ladung zu dem als Fortsetzungstermin bezeichneten Termin um 13:20 Uhr erhalten hatte, durfte er sich auf die – auf ein Kanzleiversehen zurückgehende – Auskunft seines Verteidigers verlassen, es sei nur der zweite Termin wahrzunehmen. Denn die Anberaumung zweier Termine in derselben Bußgeldsache im zeitlichen Abstand von nur einer Stunde ist derart atypisch, dass von einem Betroffenen nicht erwartet werden kann, eine solche Verfahrensgestaltung nachzuvollziehen und die Auskunft seines Verteidigers anzuzweifeln, der Termin sei schlicht um eine Stunde verlegt worden. Dies war von dem Betroffenen auch deshalb nicht zu verlangen, weil der Hintergrund und die Notwendigkeit für die Anberaumung des Fortsetzungstermins sich auch für die Kammer nicht ohne Weiteres erschließt. So ist schwer nachvollziehbar, weshalb nicht einfach der Termin um 12:20 Uhr durchgeführt und die Hauptverhandlung sodann unterbrochen worden ist, um sie um 13:20 Uhr fortzusetzen und den weiteren Zeugen zu vernehmen. Die weitere Ladung, auf welche das entstandene Missverständnis zurückzuführen ist, wäre dann entbehrlich gewesen. Stattdessen wäre es denkbar gewesen, die Beteiligten formlos darüber zu unterrichten, dass die Verhandlung zunächst unterbrochen um 13:20 Uhr fortgesetzt werden wird. Dass dem Betroffenen als juristischem Laien angesichts der Bezeichnung des Termins als "Fortsetzungstermin" der Irrtum nicht aufgefallen ist, ist ihm insbesondere angesichts der abgesenkten Anforderungen, die beim ersten Zugang zum Gericht hinsichtlich der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen zu stellen sind, nicht vorzuwerfen. Mit den genannten Konstellationen vergleichbar, in denen sich der Betroffene über eine Ladung hinwegsetzt, weil er blind darauf vertraut, das Gericht werde einem Verlegungsantrag nachkommen, ist der Fall nicht. Vielmehr erscheint es nachvollziehbar, dass der Betroffene die Ladungen zu den beiden Terminen im Abstand von einer Stunde nicht richtig zu deuten wusste, so dass er auf die Auskunft seines Verteidigers vertrauen durfte.


III.

Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers, weil sonst niemand dafür haftet. Hinsichtlich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand folgt die Kostenentscheidung aus § 473 Abs. 7 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.