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Kammergericht Berlin Beschluss vom 02.06.2015 - 3 Ws (B) 124/15 - 122 Ss 37/15 - Prüfungspflicht des Gerichts vor Verwerfung des Einspruchs
KG Berlin v. 02.06.2015: Prüfungspflicht des Gerichts vor Verwerfung des Einspruchs
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 02.06.2015 - 3 Ws (B) 124/15 - 122 Ss 37/15) hat entschieden:
- Vor einer Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht zu prüfen, ob sich aus den ihm bekannten und im Wege des Freibeweises feststellbaren Umständen eine hinreichende Entschuldigung des Fernbleibens ergibt. Liegen Anhaltspunkte für eine Entschuldigung des Betroffenen vor, darf der Einspruch nur verworfen werden, wenn das Amtsgericht sich rechtsfehlerfrei die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind. Bleibt zweifelhaft, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, darf der Einspruch nicht verworfen werden. Dabei ist grundsätzlich eine weite Auslegung zugunsten des Betroffenen geboten, weil eine Verwerfung des Einspruchs die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich birgt.
- Bestehen Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Betroffenen, ist sein Ausbleiben nicht erst dann entschuldigt, wenn er verhandlungsunfähig ist. Es genügt vielmehr, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist. Entscheidend ist dabei, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die dem Betroffenen in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Dabei hat das Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstandes und den jeweiligen Verfahrensstand in seine Beurteilung einzubeziehen.
Siehe auch Verwerfung des Einspruchs im Bußgeldverfahren und Säumnis des Betroffenen bzw. Angeschuldigten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren
Gründe:
Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften einen Bußgeldbescheid über 200,00 Euro erlassen und zugleich ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Den dagegen eingelegten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht Tiergarten mit der Begründung nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, der von dem Erscheinen nicht entbundene Betroffene sei der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung fern geblieben. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung sachlichen Rechts gerügt und das Verfahren beanstandet wird.
Die Rechtsbeschwerde bleibt erfolglos. Das Amtsgericht hat in den Urteilsgründen ausgeführt, aufgrund einer von dem Verteidiger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe es telefonische Erkundigungen bei dem behandelnden Arzt des Betroffenen eingeholt. Danach sei der Betroffene zwei Tage vor dem Hauptverhandlungstermin mit schwach ausgeprägten Symptomen eines Virusinfekts in der Praxis erschienen. Der Arzt habe nicht festgestellt, dass der Betroffene so stark erkrankt gewesen sein, dass es ihm nicht möglich gewesen wäre, einer Hauptverhandlung beizuwohnen. Hätte er derartiges festgestellt, hätte er es auch in dem Attest festgehalten. Diese Ausführungen sind geeignet, die Verwerfung des Einspruchs zu begründen.
Vor einer Verwerfung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG hat das Gericht zu prüfen, ob sich aus den ihm bekannten und im Wege des Freibeweises feststellbaren Umständen eine hinreichende Entschuldigung des Fernbleibens ergibt. Liegen Anhaltspunkte für eine Entschuldigung des Betroffenen vor, darf der Einspruch nur verworfen werden, wenn das Amtsgericht sich rechtsfehlerfrei die Überzeugung verschafft hat, dass genügende Entschuldigungsgründe nicht gegeben sind. Bleibt zweifelhaft, ob der Betroffene genügend entschuldigt ist, darf der Einspruch nicht verworfen werden. Dabei ist grundsätzlich eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten (vgl. BGHSt 17, 391, 397), weil eine Verwerfung des Einspruchs die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich birgt. Bei Auslegung des Rechtsbegriffs der genügenden Entschuldigung sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
Diesen Anforderungen ist das Amtsgericht nachgekommen. Die Nachfrage bei dem Arzt des Betroffenen hat ergeben, dass die leichte Erkrankung des Angeklagten seiner Teilnahme an der Hauptverhandlung aus medizinischer Sicht nicht entgegenstand. Die Urteilsausführungen lassen im Gegensatz zu Ausführungen in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft auch nicht besorgen, dass das Amtsgericht rechtsfehlerhaft nur eine Verhandlungsunfähigkeit als genügende Entschuldigung angesehen hat. Bestehen Anhaltspunkte für eine Erkrankung des Betroffenen ist sein Ausbleiben nicht erst dann entschuldigt, wenn er verhandlungsunfähig ist. Es genügt vielmehr, dass ihm infolge der Erkrankung das Erscheinen vor Gericht nicht zuzumuten ist (vgl. Senat, Beschluss vom 18. März 2015 – 3 Ws (B) 58/15 – m.w.N.). Entscheidend ist dabei, in welchem Ausmaß eine Erkrankung die dem Betroffenen in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährleistenden Mitwirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Dabei hat das Gericht die Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstandes und den jeweiligen Verfahrensstand in seine Beurteilung einzubeziehen (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. Juni 2006 – 1 Ss 137/06 – m.w.N in juris.). Unter Berücksichtigung der Umstände des hier gegebenen Einzelfalles begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, wen die Auskunft eines Arztes, der lediglich schwach ausgeprägte Symptome einer Viruserkrankung diagnostiziert hat, dem Tatrichter die Gewissheit verschafft, dass der Betroffene in der Lage gewesen wäre, an der Hauptverhandlung teilzunehmen.
Unter den gegebenen Umständen begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das Amtsgericht in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich erörtert hat, ob der Betroffene – ohne Verschulden – angenommen haben könnte, die von ihm eingereichte Bescheinigung reiche aus, um sein Fernbleiben genügend zu entschuldigen. Zwar ist anerkennt, dass ein Betroffener auch in subjektiver Hinsicht entschuldigt sein kann, wenn er etwa im Vertrauen auf ein ärztliches Attest davon ausgegangen ist, ein Erscheinen sei ihm krankheitsbedingt nicht zuzumuten (vgl. Senat, NZV 2002, 421 m.w.N.). Dazu ist es aber nicht ausreichend, wenn dem Betroffenen wegen einer leichten Erkrankung lediglich Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird, ohne dass die Frage einer Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung angesprochen und vom Arzt bejaht wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.